Erfahrungsfelder der Sinne - nach Hugo Kükelhaus


Hausarbeit, 2000

13 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zur Perspektive der inneren Natur

Sinnliche Wahrnehmung

Voraussetzungen für eine Entfaltung des Menschenüber seine Sinne

Der Lebensentzug des industriellen Menschen

Lebensbewusstsein durch Leibpädagogik - Erfahrungsfelder der Sinne

Zur Perspektive der inneren Natur

Die Perspektive der innere Natur fordert zuerst die erste Frage heraus, was die inneren Natur eines Menschen auszeichnet?

Der Mensch versteht sich als ein Wesen, welches aus den selbst regelnden, unbewussten Naturvorgängen herausgetreten ist. Das Bewusstsein- und Gestaltungsvermögen eines Menschen ermöglicht ihm eine reflektierende Entwicklung, sowohl seiner eigenen Person, als auch seiner Umwelt. „Bewusstsein und Gestaltungsvermögen entsprechen (demzufolge) ‚unserer Natur’ “ (ZUR LIPPE 1978, 159 f), die im Laufe einer historisch- gesellschaftlichen Entwicklung die übrige Natur überformt, verformt, herausfordert und unterdrückt hat.

Zwischen der äußeren und inneren Natur ist aber immer noch ein Abhängigkeitsverhältnis gegeben, welches sich durch selbstbestimmte Abhängigkeit des Menschen auszeichnet. Die natürlichen Voraussetzungen stellen Bedingungen und Voraussetzungen an unsere Entwicklung. Äußere Natur darf nicht nur als Rohstoffressource, Randbedingung oder Störfaktor betrachtet werden. Die Umwelt und der Mensch müssen in ihrer Systematik und ihren vielseitigen, dialektischen Zusammenhänge und gegenseitigen Bedingung erfasst, betrachtet und erforscht werden.

Diese Aussage birgt die Gefahr, das ein Naturverständnis von Wechselbeziehungen in Form von geschlossenen Kreisläufen entstehen könnte. Diese Gefahr missachtend werden aus einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise „geschlossene“ Kausalzusammenhänge erforscht, aber der natürliche Prozess an sich wird nicht in seiner wechselseitigen Entwicklung erfasst.

Diese zeichnet sich durch Zwischenstadien aus, aus denen heraus der Prozess der Entwicklung aufgrund von Spannungsgefügen weiterentwickelt wird. KÜKELHAUS führt hierfür ein treffendes Beispiel an: „Organe entstehen nicht für Funktionen, sondern in Funktionen und durch Funktionen“

Erst aus Spannungen, wie Gegensätze, Widersprüche, Auseinandersetzungen, etc., bildet der Mensch neue Erkenntnisse und ein neues Bewusstsein über sich selbst und seiner Umwelt. Diese Spannungen bilden folglich die Zusammenhänge im systemischen Aufbau von Natur.

Dies bedeutet weiterhin, dass, nur wenn der Mensch sich auf verschiedenste Weise auf Gegenstände und Bedingungen von der äußeren Natur und von sich selbst einlässt, kann im bzw. während eines Prozess weitere Vorentwicklung stattfinden.

Die Zusammenhänge der inneren und äußeren Natur werden als grundlegende Naturvorgänge angesehen. Nach KÜKELHAUS sollte sich der Mensch dazu aufgefordert sehen, diese grundlegenden Naturvorgänge zu erforschen und sie auf verschiedenste Weise zu erleben. „ Wie lebt das Leben? “ gilt als eine elementare und sinngebende Frage (1984, 11f).

KÜKELHAUS betont weiterhin, dass diese Erforschung und das darauffolgende Erleben nur dann möglich ist, wenn im Zusammenspiel der Erkenntniswege auch unsere Sinne beteiligt sind. Denn Sinnliche Wahrnehmung gilt nicht nur als registrierendes Mittel von der Umwelt und der eigenen Person, sondern als eine lebendige Einheit mit dem was sie aufnehmen. Als lebendige Einheit zeichnet sie sich auch durch ihre vielfältigen Möglichkeiten der Erfahrungssammlung aus.

Diesen Aspekt und in wieweit die Tätigkeit der Sinne das Leben eines Menschen bestimmen, möchte ich im nächsten Kapitel dieser Hausarbeit deutlicher herausarbeiten. Dabei werden sich mache Aspekte wiederholen, die ich aber in diesem Zusammenhang genauer erläutert werden sollten.

Sinnliche Wahrnehmung

Wenn der Begriff Wahrnehmung aus naturwissenschaftlicher Sichtweise definiert werden soll, wird dieser als ein Prozess der sinnlichen Informationsaufnahme von Körper- und Umweltreizen sowie der Informationsverarbeitung durch zentralnervale Prozesse definiert. Die Reizaufnahme findet über die Wahrnehmungssysteme in den entsprechenden Sinnesorganen statt, die in der folgenden Tabelle aufgelistet werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Wahrnehmungssysteme (ZIMMER: Handbuch der Bewegungserziehung 1993, 65)

Wahrnehmung darf aber nicht nur als passive, einseitige Reaktion auf ein Reizangebot gesehen werden. Sie ist nicht nur durch die Sinnesorgane determiniert, sondern vielmehr ein instabiler, sich ständig verändernder Prozess, in welchem die wichtigsten und stärksten Informationsreize aus der Umwelt selektiert und nach der Weiterleitung ins Gehirn durch zentralnervale Prozesse strukturiert und zu komplexen Sinnesempfindungen verarbeitet werden. Diese Verarbeitung beinhaltet die Informationsspeicherung, den Vergleich zwischen neuer und alter Information und ihre Bewertung. Schließlich muss die gewonnene Information in die bisherigen Erfahrungen eingeordnet und mit ihnen verknüpft werden. Jeder Mensch besitzt eine individuelle Akzentuierung bei der Auswahl und der Deutung angebotener Reize. Außerdem kann eine angebotene Information zu verschiedensten Sinnesempfindungen verarbeitet werden (vgl. PHILIPPI- EISENBURGER 1991, 13 ff)

Aus dieser phänomenologischer Sichtweise greift Kükelhaus der Aspekt der „Individualität“ heraus. Mit der Individualität verbindet sich eine subjektive Bedeutsamkeit der Wahrnehmungsprozesse, dass heißt, das sich Wahrnehmung immer im Kontext zum Menschen bzw. zum Individuum definiert. Diese Betrachtungsweise stellt, entgegen einer Instrumentalisierung des Menschen aus naturwissenschaftlicher Perspektive, den Mensch als Subjekt in den Mittelpunkt seiner theoretischen Überlegungen.

Wahrnehmung gilt als ein entscheidender Faktor für eine individuelle Sichtweise einer sozialen und materiellen Umwelt und auch der eigenen Person. Der Kontext zwischen der inneren und äußeren Welt eines Individuums ist entscheidend und die daraus resultierenden wechselseitige Abhängigkeit von innerer und äußerer Natur. Wahrnehmungen werden als Resonanz und Gleichgewicht von Körper und Geist aufgefasst. Sie verändern sich im Laufe der Entwicklung jedes Menschen und werden neu definiert. Wahrnehmung als ein subjektiver Prozess beeinflusst die Handlung des Menschen entscheidend.

Besonders hervorzuheben ist die Verbindung von Wahrnehmung mit Bewegung, denn „sehend und fühlend führen wir Bewegungen aus und gehend und greifend nehmen wir Dinge wahr.“ (WEIZSÄCKER 1950) Um mit der eigenen Umwelt über Bewegungen zu agieren, wird die Fähigkeit vorausgesetzt, sich in ihr orientieren zu können. Aber da Wahrnehmung als ein fortlaufender Prozess verstanden wird und kein feststehendes Endprodukt ist, wird eine Weiterentwicklung der motorischen und sensorischen Fähigkeiten durch die Bewegung und die Wahrnehmung selbst beeinflusst.

Beide Prozesse stellen die Verbindung zwischen dem Individuum und seiner momentanen sozialen und materiellen Umwelt dar. Das Individuum schafft sich ein subjektives Abbild seiner Umgebung und vermittelt gleichzeitig ein Bild seiner Person an diese Umwelt. Wahrnehmung und Bewegung sind Vermittlungs- bzw. Ausdrucksmedium im Interaktionskreis zwischen Individuum und Umwelt.

Motorische, sensorische, kognitive, emotional- affektive Bereiche bauen in Form aufeinander auf und werden in einem Ablauf von Phasen mit Altersangaben beschrieben. Gleichzeitig wird betont, dass sie die Bereiche miteinander vernetzen und so voneinander bedingt in ihrer Entwicklung beeinflussen. Es soll aber noch einmal betont werden, dass die Entwicklung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit nicht als automatisierter Prozess bezeichnet werden kann. Erst im Prozess und in und aus ihrer Funktion heraus entwickeln sich die Sinnesorgane und die Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung

Voraussetzungen für eine Entfaltung des Menschen über seine Sinne

Aus dem vorhergehenden Text ist hervorgegangen, dass Wahrnehmung im Zusammenhang der Vermögensentfaltung des Menschen und in der Entwicklung von Lebensbewusstsein als ein Grundstein anzusehen ist.

Es bedarf aber nicht nur gewisser Voraussetzungen für eine Entwicklung zur Wahrnehmungsfähigkeit, sondern auch für die Inanspruchnahme der Sinne gelten Bedingungen, die erfüllt sein müssen. Die folgenden Szenen sollen beispielhaft diese Voraussetzungen und Bedingungen beschreiben:

Man stelle sich vor, dass man eine lange Strecke über eine schnurgerade, ebene, hellerleuchtete, völlig hinderungsfreie Betonbahn gehen müsste. Dass man nach 4 oder 5km solcher eintönigen Lauferei ermattet sein wird leuchtet ohne weiteres ein. Es erginge einem ganz anders, wenn man die gleiche Strecke durch einen Wald gehen würde. Nach 5 km ist man erfrischt und fühlt sich wohl und besitzt ein ganz anderes Zeitgefühl in Bezug auf die gelaufenen 5 km (KÜKELHAUS 1984, 40).

Man stelle sich vor, in einem Raum mit schwarzen Wänden zu stehen. Von der Decke hänget eine allseits beleuchtete große weiße Kugel. Dass auf diese Weise die Kugel nicht als Körper, sondern als flache Scheibe wahrgenommen werden kann, leuchtet ein. Dies ist aber ganz anders, wenn die Kugel durch ein schwaches seitliches Licht aus dem Dunkel auftaucht. Es ist kaum möglich, die Kugeln dann nicht als Körper zu erkennen (KÜKELHAUS 1984, 40 f).

Anhand dieser Szenen stellt sich heraus, dass erst durch die Herausforderung von Ereignissen, die mit Unsicherheiten und Widerständen verbundenen sind, der Mensch etwas für „wahr“ nimmt. Eingeebnete Zustandsunterschiede (gerade Betonbahn), Gleichförmigkeit (allseitige Beleuchtung) und die Aufhebung polarer Gegensätze machen ihn gleichsam blind. Nur wenn sich etwas verändert, vermögen wir unsere sinnenhaften Fähigkeiten und Kräfte zu entfalten sowie uns und unsere Bewegungen zu erleben. Veränderungen im Sinne von Wechsel und Wandel, in der Spannung von hell und dunkel, hoch und tief, weit und nah setzen Relationen zwischen dem Mensch und seiner Umwelt und bestimmt so den Menschen (KÜKELHAUS 1984, 41 ff).

Dieses Spannungsgefüge ist es, welche allein eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise für Bereiche, die den Menschen thematisieren, als unzureichend auszeichnet. Physikalische Bewegungen unterscheidet sich von menschlicher Bewegung, was ich anhand eines Beispiels genauer erläutern möchte:

Physikalische Bewegung beschreibt eine Ortsveränderung einer Körpermasse in Raum und Zeit als eine objektiven Vorgang. Menschliche Bewegung beinhaltet ein mehrdimensionales Geschehen, welches neben der Ortveränderung auch psychologische und soziale Faktoren mit einbezieht.

Ein Erwachsener könnte problemlos in aufrechter Haltung auf eine auf dem Boden gezogenen Linie zugehen und seinen Körperschwerpunkt durch das Vorgebeugten des Oberkörper weit vor seinem Körper verlegen. In schulterbreiter Schrittstellung direkt vor der Linie könnte er diese Position mindestens zehn Minuten halten.

Wenn er die gleiche Bewegung nicht vor einer Linie, sondern vorm Dach eines Hochhauses ausführen müsste, würde er dies nicht wagen. Aus einer Naturwis- senschaftlich- theoretisch orientierten Sichtweise handelt es sich aber um die gleiche Bewegung!

Nur in Relation zu den verschiedensten individuellen Beweggründen, kann, um bei den Beispiel Bewegung zu bleiben, eine Sinngebung zugesprochen werden. Das Trommeln der Finger auf der Tischkante könnte beispielsweise auf Grund musikalischrhythmischer Absichten des Übens geschehen. Es könnte aber auch ein Ausdruck von Langeweile oder Nervosität sein. Möglicherweise drückt ein Künstler in seiner Performance seine gesellschaftskritische Haltung in dieser Handlung aus.

An diesem Beispiel können verschiedenste Beweggründe, Motivationen und Absichten eine einzige Bewegungshandlung begleiten, die dadurch unterschiedlichste Sinngebung erhält. Nur unter Berücksichtigung einer ganzheitlichen Betrachtung ist die Bewegung erfassbar.

Interessant wäre es, den Gedankengang fortzuführen, was mit Menschen passiert, die ohne lebenserregende Herausforderungen aufwachsen? Hierzu beschreibt KÜKELHAUS das Beispiel von den astronautischen Testversuchen (1984, 44-42). In diesem Testversuch wurden in der USA Astronauten auf die Reaktion der Organe bei ihrer Nichtbeanspruchung getestet. Dazu wurde die Testperson in einer Isolierkammer den Bedingungen der Schwerelosigkeit, Finsternis, Erschütterungsfreiheit, Lautlosigkeit und Temperaturgleichheit ausgesetzt. Das Ergebnis dieser Testreihe war erstaunlich, da zur Vermeidung lebensbedrohlicher Schäden des Probanden der Versuch nach einer ¼ Stunde abgebrochen werden musste. Die humorale1 und hormonale Steuerung der Körpersystem wurden gestört oder waren nach wenigen Minuten Aufenthalt in der Isolierkammer nicht mehr funktionsfähig.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Tätigkeiten der Sinne als ein Teil menschlichen Daseins aufzufassen sind, die die menschliche Entwicklung entscheidend beeinflussen. Sie haben einen hohen Stellenwert im Wirkungsgrad auf ein vernünftiges Verhalten zur Umwelt und auf die Entfaltung des Vermögen eines Menschen. Jeder Einzelne sollte Lebensbewusstsein erlangen, bzw. Maßstäbe der Lebensqualitäten im Zusammenhänge von körperlichen, seelischen und sozialen Vorgängen erkennen.

Der Lebensentzug des industriellen Menschen

Nachdem die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für das Lebensbewusstseins eines Menschen und seiner Umwelt herausgearbeitet wurde, möchte ich auf die Diskrepanzen der heutigen industriellen Gesellschaft eingehen.

Nach KÜKELHAUS (1984, 26ff) wird der Mensch in der technisch- industriellen Zivilisation zunehmend seiner sinnenhaften Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Die eintönig werdende Umwelt bietet nicht mehr genügend Sinnes- und Körpererfahrungen für den Menschen. Besonders die Nahsinne verkümmern und verarmen, wohingegen das auditive und visuellen Wahrnehmungssystem einer Dauerbelastung unterliegen.

KÜKELHAUS nennt vier exemplarische Merkmale, anhand derer diesen „Lebens- entzug“ für unserer Gesellschaft diagnostiziert (1984, 27 ff):

Lustvolle, körperliche Erfahrungen wie Kraftverausgabung, Geschicklichkeit oder körperlicher Elan, sexuelles Vergnügen und Zärtlichkeiten werden aus dem Lebensalltag verdrängt und in andere spezifische Bereiche wie zum Beispiel auf das Wochenende oder sogar in die Urlaubszeit verlegt. KÜKELHAUS bezeichnet dies als die Tendenz der Separierung.

Positive Assoziationen gegenüber körperlicher Erfahrungen verbinden sich überwiegend mit der Kindheit, in der alle wichtigen Erlebnisse auch körperlich zu spüren waren. Spannung und Erleichterung, Ausgelassenheit und ein Sich- Zusammenziehen konnten sich am Tagessende in eine wohlige Müdigkeit auflösen.

In was für einem Verhältnis der Mensch zu seinem Körper im Arbeits- und Alltagsleben steht, ist für KÜKELHAUS eine weitergehende Fragestellung. Ein Frage, auf die er mit Entzug von sinnlichen Erfahrungen antwortet. Das Körperbewusstsein in der Industriegesellschaft drückt sich in Negation, in einem Nicht-Funktionieren aus. Müdigkeit, Sorge vor Krankheit oder den Grad der Attraktivität werden mit dem Bewusstsein über den eigenen Körper in Verbindung gebracht. Ärzte bemühen sich, gegen die ausgebrochene Krankheit zu arbeiten und nicht für die Förderung von Lebenskräfte. Der Körper wird als Instrument eingesetzt: Instrumentalisierung des Körpers

Unsinnig- selbstherrliche Naturbeherrschung, die zu bedrohende ökologische Katastrophen in der verbrauchten Natur führen, ist ein exemplarisches Beispiel für die Folgen der Missachtung von innerer Natur. Gesundheit des Körpers als ein geistigseelisch-körperlich-soziales Gleichgewicht kann im gleichen Maßgestört werden wie das natürliche Gleichgewicht in seinen Wechselbeziehungen.

Verausgabung von Arbeitskraft, versäumte Ausbildung von Persönlichkeit, eine fehlende Erfahrung eines Selbstwertgefühls oder der Zusammenarbeit mit andern lassen sich nicht durch Prestigegewinn nachholen oder ersetzen. Natürliche Erfahrungen für den Körper wurden erst in den letzen Jahren zum Gegenstand unserer Reflexion. Die Lebensqualität am Arbeitsplatz gewann an Bedeutung, der „Faktor Mensch“ wurde beispielsweise in Berechnung zur Produktivität aufgenommen.

In der Phase zunehmender Arbeitslosigkeit spricht KÜKELHAUS von einer Schädigung durch den städtische Alltag. Schwingungsgleiches Licht und Luftverschmutzung, andauernder Geräuschpegel, Bewegungsvorgaben im öffentlichen Raum sind Beispiele die Anlass geben sollten, über eine Verbesserung der Lebensqualität im städtischen Raum nachzudenken.

Eine gesellschaftliche Aufteilung zwischen sozialen Gruppen findet nicht durch den Aspekt der Unterscheidung, sondern durch Ausscheidung statt: Arbeitslose gegenüber Arbeitern, Alte gegenüber Jungen, Außenseiter oder Einzelgänger gegenüber gefragte Szene-Leute.

Die Kriterien dieser soziale Segregation zwischen Arbeitstüchtigen und Nichtbeschäftigten, zwischen Craks und Nieten, usw. sind überwiegend körperliche.

Lebensbewusstsein durch Leibpädagogik - Erfahrungsfelder der Sinne

Um dem Lebensentzug entgegen zu wirken, schlägt KÜKELHAUS (1984, 35 ff, 47 ff)die Entwicklung einer Leibpädagogik vor. Sie ist auf eine Qualitätsverbesserung des Lebens ausgerichtet, indem körperliche und sinnliche Erfahrungen als ein Fördermittel zum Lebensbewusstseins im körperlich-seelisch-geistig-sozialen Gleichgewicht dienen.

Ein wichtiger Grundsatz dieser Leibpädagogik ist „alltägliches Erleben“, die Entwicklung und Entfaltung der sinnlichen Wahrnehmung zu jeder Zeit und in der eigenen Umgebung. Das menschliche Verhalten soll sich auf die Gegenwart beziehen. (Es ist wahrzunehmen was geschieht!)

Sinnliche Erfassung der Umwelt in der Verbindung mit der eigenen Person soll gegenüber der rationalen Erkenntnis und dem rein naturwissenschaftlich- theoretischen Erfassen der Lebenswelt gefördert werden. Das Bedürfnis zum individuellen Bewusstseins über den Körper und durch den Körper soll in jeden Einzelnen geweckt werden.

Die Eigeninitiative zum Selber Bauen, zur Selbsttätigkeit und nicht nur stumpfes Konsumieren spielt eine entscheidende Rolle im Prozess der Erfahrungssammlung. „Das Bauen ist der Bau im gemeinsamen Schaffen“ (KÜKELHAUS 1984, 68).

KÜKELHAUS (1984, 71 ff) fordert den Bau von Anstalten, in denen alle der Leibeinheiten des Menschen zugeordneten Bedürfnisse wahrgenommen werden. Wahrgenommen in der Doppelbedeutung des Wortes- von Erkennen und Wahren. Eine Wahrnehmung der Gesetzlichkeiten seines Seins und die Wiedererkennung in den Gesetzen der äußeren Natur. KÜKELHAUS betont, dass diese Anstalten für das gesamte öffentliche Leben bzw. gegenüber der Gesellschaft Kritik und Anregungen zur Verbesserung liefern sollen. Außerdem sollen sie zur Natur in uns und um uns erziehen.

Diese Anstalten beinhalten Geräte und Gelände- und Gartenanlagen, die eine Nutzung der Sinne herausfordern. Themenbereiche zum aufrechten Gang, zur greifenden Hand, zum Geruch, der Orientierung, zum Wissen und Vertiefen, zum Hören und zur Klangerzeugung und zur Betrachtung von Phänome bilden vielseitige Stationen, an denen sich sowohl Erwachsene wie auch Kinder ausprobieren können. Eine besondere Förderung sollen Erfahrungsfelder erhalten, die besonders die vestibulären, kinästhetischen und taktilen Sinnessysteme ansprechen. Nicht erschließbare Umgangsmöglichkeiten mit einzelnen Stationen sollten im spontanen Handeln vorgeführt, schrittweise erklärt und entdeckt werden.

Öffentliche Anlagen sollen jedem jeder Zeit zur Verfügung stehen. Weiterhin sollten diese Anlagen zu einen sitzenden, stehenden, liegenden Umgang mit den vier Elementen, mit Licht und Dunkelheit einladen.

- Pendelgerüsten, Schaukeln, Wippen, rotierenden Scheiben, Balance-Kugeln oder eine Balkenschere dienen dazu die Steig- und Fallbewegungen, die Übertragung von Bewegungen auf den Partner oder auf andere Gegenstände, ins Gleichgewicht kommen und Balance halten oder die Beobachtung sich- bewegender Gegenstände aus der unmittelbarer Nähe oder aufgrund überdimensionaler Darstellung zu spüren und zu erfahren.

- Über das Summloch und dem Gong schafft man eine Resonanz von Tönen oder Schallwellen, die aufgrund der Nähe oder der Größe der Geräte mit dem Körper fühlbar werden.

- Klangfiguren, Resonatoren, das Monochord und der Holzklang lassen weiteres experimentieren mit Musik, Tönen und Schwingungen durch die erzeugten oder wahrzunehmende Töne zu. Bei der Klangfigur versetzt ein Geigenbogen eine Metallplatte in Schwingung, so dass der daraufliegende feine Quarzsand Chladnische Klangfiguren und Muster bildet, die je nach Ansatzpunkt des Bogens unterschiedlich aussehen können. Resonatoren unterdrücken oder verstärken ja nach dem Durchmesser und der Länge der Resonatoren hohe oder tiefe Töne der Umgebungsgeräusche. Es handelt sich um eine akustische Raumwahrnehmung. Das Monochord dient zur Untersuchung von musikalischen Intervallen. Die Abhängigkeit von Tonhöhe und Saitenlänge kann in verschiedenen Maßverhältnissen abgelesen werden.

- Das Prinzip der Resonanz wird auch an den Schwingseile visualisiert bzw. die Eigenbewegung zur Erzeugung eines schwingenden Seil in regelmäßigen stehenden Wellen verdeutlicht.

- An der Doppelhelix kann gleichzeitig eine fallende und steigende Bewegung beobachtet werden. Auch das Dreizeitenpendel lässt sichtbar werden, was ansonsten als Glockengeläut zu hören ist. Die drei Pendel mit einem Längenverhältnis 1:2:3 schwingen verschieden schnell und schwingen nur in einem kurzen Moment im Einklang.

- Das Labyrinth beschreibt einen tastenden, sich nähernden und wieder entfernenden Gang hin zu einem Ziel. Es erhält eine symbolische Bedeutung für den Weg der Erkenntnis.

- Der Fu ßerfahrungsweg wird mit geschlossenen Augen begangen, um die unterschiedlichen Materialen des Weges zu ertasten. Man soll sich auf die Empfindungen konzentrieren und sich im Sinne einer Massage anregen lassen. Auch die Tastgalerie lädt zum Tasten und Befühlen nicht sichtbarer Objekte ein.

- In der Duftgasse oder auch der Duftorgel können die verschiedensten Düfte und Gerüche selektiv oder intensiv wahrgenommen werden.

- Ruhebänke sollen zum Ausruhen und Betrachten des Geschehen um einen herum einladen.

- Im Strudelgerät wird das Wasser in Drehung versetzt, um einen Strudel erzeugen zu können. Die Strömungstafel zeigt bei Bewegung welche Strömungsformen vorhanden sein können, Wellen oder Wirbel oder ähnliche Formen.

- Das stehende Oktoskop, als dreieckige Spiegelkonstruktion auf Ständern, macht das Betrachten von unendlichen Spielgelungen der in ihm stehenden Personen möglich. Ein einfaches Oktoskop ermöglicht einen facettenreichen Blick auf die Umgebung, aufgrund das gewählte Motive mit Hilfe mehrerer Spiegel im Inneren des Geräts vervielfältigt wird.

- Die Sonnenuhr ist einerseits ein genauer Hinweis des Ortes und der Zeit als einen konkreter Bezugspunkt, andererseits stellt sie die Beziehungen zur Sonne und zur großen kosmischen Dimension her.

Diese Anstalten können auch Innenräume umfassen:

- In den Räumen des Klanges lassen sich die Wirkung der Klangfrequenz/-stärke auf die verschiedensten Körperteile ausprobieren. Außerdem ist es möglich urtümlichen Klängen selber herzustellen.

- Die Installation eines schallarmen Raumes. Im Gegensatz zu einer erfahrenden Klangfrequenz macht man Erfahrung im Fehlen des Echos und in der Auswirkung auf das Gleichgewichtsorgan, dem jegliche Rückmeldung fehlt.

- Auch eine Camera obscura als Loch in der Tür in einem dunklen Raum kann Antworten zu Verständnisfragen zur Funktion der menschlichen Linse liefern. Auch ein Prisma ist den Fenstern eines Raumes eingearbeitet, so dass bei Sonnenlicht die Spektralfarben an der gegenüberliegenden Wand zu beobachten sind.

- Das Cafe im Dunkeln vermitteln Eindrücke aus der Perspektive eines Blinden. Bezahlen, trinken, laufen im schwarzen Dunkeln Raum sind Tätigkeiten, die anders wahrgenommen werden.

Die Förderung sinnlicher Wahrnehmung kann zu einen Prozess des sich Erinnern, das Nachdenken und Bedenken der Besucher führen. Übergänge von alten und neuen Erfahrungen und Verbindungen zu Alltagserfahrungen, zu anderer Zeiten und Kulturen sollen geschaffen werden. Die Stationen der Erfahrungsfelder der Sinne sollen Instrumentalisierung und einseitige Handlungen entgegenwirken und mehrere Perspektiven und Bezugspunkte auf die Umwelt ermöglichen und trainieren. Die vielfältigen und komplexen Wechselwirkungen und die subjektive Bedeutsamkeit der Umweltereignisse auf jeden Einzelnen sollen aufgezeigt werden.

Literaturverzeichnis

KÜKELHAUS, H./ ZUR LIPPE, R.: Entfaltung der Sinne - ein Erfahrungsfeld zur Bewegung und Besinnung, Fischer Verlag; Frankfurt am Main 1984

ZUR LIPPE, R.: Am eigenen Leibe - Zur Ökonomie des Lebens, Syndikat, Frankfurt am Main 1978

KIPHARD, E.,J.; Mototheraphie Teil 2, 4. unveränderte Auflage, Verlag modernes lernen, Dortmund 1994

PHILIPPI-EISENBURGER, M.: Motologie- Einführung in die theoretischen Grundlagen, Band 12, Verlag Hofmann, Schorndorf 1991

[...]


1 die Körperflüssigkeit betreffend

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Details

Titel
Erfahrungsfelder der Sinne - nach Hugo Kükelhaus
Autor
Jahr
2000
Seiten
13
Katalognummer
V105123
ISBN (eBook)
9783640034208
Dateigröße
372 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erfahrungsfelder, Sinne, Hugo, Kükelhaus
Arbeit zitieren
Verena Niesmann (Autor:in), 2000, Erfahrungsfelder der Sinne - nach Hugo Kükelhaus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105123

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Titel: Erfahrungsfelder der Sinne - nach Hugo Kükelhaus



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