Antisemitismus in Freytags "Soll und Haben"


Seminararbeit, 2000

13 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


A. Einleitung

Beim breiten Lesepublikum außerordentlich beliebt, wurde Gustav Freytags „Soll und Haben“ zu einem der erfolgreichsten Romane des 19.Jahrhunderts.1Indessen war dieses Werk seit seiner Veröffentlichung 1855 bis zum heutigen Tag bei Kritikern und Schriftstellerkollegen heftig umstritten. Ein Kritikpunkt war von jeher - und insbesondere nach 1945 - die Darstellung der Juden im Roman.2Letzter Höhepunkt der Diskussion war die vom WDR 1977 geplante Verfilmung des Romans, was letztendlich nach zahlreichen Protesten nicht realisiert wurde. Diesem Umstand verdanken wir eine erneute Reflexion mit dem Erfolgsphänomen Gustav Freytag, welche zum Teil wissenschaftlich, zum Teil recht polemisch geschah. Eine neuere Publikation zu dieser Thematik stammt von Martin Gubser, der in seiner Dissertation das Buch selbst mit betont objektiven Blick in den Vordergrund gestellt wissen möchte und deshalb eine sehr detaillierte Aufschlüsselung der einzelnen Judendarstellungen vornimmt.3Im Mittelpunkt dieser Arbeit soll weniger die Art und Weise der Judendarstellungen im Vordergrund stehen, sondern vielmehr nach einer werkimmanenten Begründung für die einseitig antijüdische Darstellung gesucht werden.

Zum einen gebietet der Umfang dieser Arbeit eine solche enge Fragestellung und zum anderen ist die tendenziös antisemitische Darstellung allzu offensichtlich, als das sie nicht einem jedem Leser des Romans offensichtlich wäre. Auch biographische Erkenntnisse über den Autor sollen zugunsten der Ausgangsfrage nur am Rande behandelt werden. Dass Gustav Freytag ein engagierter Liberaler war, in dritter Ehe mit einer Jüdin verheiratet war, zahlreiche jüdische Bekannte hatte und sich in anderen Schriften durchaus differenzierter über Juden geäußert hat, bedeutet nicht, dass man ein von ihm autorisiertes und publiziertes Buch nicht als solches unabhängig von diesen Aspekten betrachten darf, zumal Freytag erst 14 Jahre nach „Soll und Haben“ deutlich gegen antisemitische Tendenzen Stellung bezog.4 Angesichts dieser scheinbaren Unvereinbarkeit von Biographie und literarischer Darstellung, drängt sich geradezu die Frage auf, warum die Judendarstellungen in „Soll und Haben“ so einseitig negativ ausfallen.

Der erste Abschnitt dieser Arbeit enthält eine kurze Darstellung der jüdischen Figuren im Roman, die allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Anstatt detailgetreuer Wiedergabe, soll vielmehr eine tiefergreifende Analyse der sprachlichen Mittel und verwendeten Gemeinplätze im Vordergrund stehen.

Der zweite Abschnitt dieser Arbeit geht sodann näher auf die Ausgangsfrage ein, indem die Judendarstellungen auf ihren Realismusgehalt, ihrer Funktionalität und ihren vielleicht ideologische Hintergrund hin untersucht werden.

B. Die Juden im Roman

„Kurz die Hose, lang der Rock, Krumm die Nase und der Stock, Augen schwarz und Seele grau, Hut nach hinten, Miene schlau - So ist Schmulchen Schevelbeiner.

(Schöner ist doch unsereiner!)“5

I. Zur Sprache

Stellen die jüdischen Figuren im Roman zwar keine in sich homogene Gruppe dar, so sind sie deutlich auch ohne explizite Bezeichnung erkennbar. Auffällig ist insbesondere die Sprache, die die jeweiligen jüdischen Romanfiguren verwenden.Bis auf Bernhard Ehrenthal, dessen ohnehin besondere Stellung im Romanganzen noch besprochen werden wird, scheint keine der jüdischen Figuren in der Lage zu sein, einen grammatikalisch korrekten deutschen Satz zu artikulieren. Freytag verzichtet dabei auf eine realistische Darstellung, indem er die diese nicht etwa Jiddisch, sondern ein deformiertes Deutsch mit typisch jüdischen Satzstellungsfehlern sprechen lässt.6Gegen eine realistische Darstellung spricht außerdem, dass im Gegensatz zum deformierten Deutsch der jüdischen Protagonisten, alle anderen Romanfiguren, einschließlich der schlesischen Lagerarbeiters des Kontors Schröters, ein reines Hochdeutsch sprechen. Intention des auffälligen Sprachgebrauchs ist nicht etwa eine realitätsnahe Darstellung, vielmehr wird die Sprache geschickt als Mittel der Lesesteuerung eingesetzt. Sie dient mithin dazu, die Juden als gesonderte Gruppe kenntlich zu machen und sie je nach Kontext in ihrer Lächerlichkeit aber auch in ihrer Bösartigkeit erscheinen zu lassen. Der Erzähler beschränkt sich dabei keineswegs, die Sprache nur in erlebter Rede deformiert wiederzugeben, sondern er klassifiziert ihren Charakter selbst an mehreren Romanstellen, wie zum Beispiel bei einer Unterredung zwischen Anton und Schmeie Tinkeles:

„´Kein Geschäft?’ Ruft der unglückliche Tinkeles krächzend in abscheulichem Deutsch, so dass Anton ihn nur mit Mühe versteht. `Solche Wolle, wie ich bringe, ist noch nicht gewesen im Lande.` “7

Es häufen sich Äußerungen dieser Art, wie auch die jüdischen Figuren verstärkt hebräisch - jüdische Ausdrücke verwenden, immer dann, wenn für die bürgerliche Gesellschaft und deren Vertreter im Roman die Gefahr wächst.8Ein weiteres Mittel, das Gustav Freytag zur Lesesteuerung einsetzt, sind die Namen der Protagonisten.

II. Die Namen

Gustav Freytag verwendet in seinem Roman sogenannte sprechende Namen, indem er die Figuren in der Art benennt, dass diese Anhaltspunke für die Sympathie und Antipathie des Autors geben. In seinen späteren Memoiren unterstreicht Gustav Freytag, dass die Namensgebung keineswegs willkürlich erfolgte:

„[...] dabei suchte ich sogleich für alle wichtigeren Gestalten die Namen, welche nach meiner Empfindung zu ihrem Wesen stimmten - keine ganz leichte und keine unwichtige Arbeit“9

Der Name „Anton Wohlfahrt“ steht programmatisch für deutschen Biedersinn, wobei dem Leser im Laufe des Romangeschehens klar wird, dass derjenige, der wie dieser bürgerliche Held handelt, „wohl fährt“. „T. O. Schröter“ steht als kerniger deutscher Name für Verlässlichkeit, Ordnung und Seriosität, was sich im Familienbetrieb des selbigen realisiert. Anders die jüdischen Namen.

„Veitel Itzig“, „Löbel Pinkus“,“ Schmeie Tinkeles“ und „Mausche Fischel“ sind allesamt Verballhornungen hebräischer Vornamen in diskriminierender Form.10Familie Ehrenthal hingegen trägt einen typisch jüdischen Kunstnamen aus der Emanzipationsphase der Juden. Sie stehen somit für die andere Seite, den assimilierten Juden. Nur der Vorname „Hirsch“ verweist deutlich auf die jüdische Abstammung des Bezeichneten. Eine Ausnahme stellt wiederum sein Sohn „Bernhard“ dar, dessen christlicher Vorname seine weitesgehend vollzogene Assimilation dokumentiert. Die beiden weiblichen Familienmitglieder „Rosalie“ und „Sidonie“ stehen mit ihren italisierenden Vornamen und dem dann folgenden Kunstnamen für die Differenz zwischen Abstammung und Anspruch, der sich auch in ihrem Charakter wiederspiegelt.

III. Die jüdischen Romanfiguren

Der Leser von „Soll und Haben“ muss kulturgeschichtlich nicht sonderlich gebildet

sein, um zu erkennen, dass die Judendarstellungen in diesem Roman den Jahrhunderte langen Vorurteilen verpflichtet sind. Freytag folgt den gängigen Klischees vom schmutzigen Erscheinungsbild, der krummen Nase, dem mangelhaften Deutsch, dem mal frechen mal unterwürfigen Auftreten, das je nach Situation ihrem egoistischen und ausschließlich materialistischen Trachten unterworfen ist. Edeler Motive unfähig, ist es ihr einziges Bestreben, ihre Geldgier zu befriedigen, wobei sie nicht selten auf verbrecherische Machenschaften zurückgreifen. Jüdischer Hauptprotagonist und detailgetreustes Abbild dieser Stereotypen ist Veitel Itzig ausgestattet mit der „Tugend, nie zu ermüden, ist er den ganzen Tag auf den Beinen, läuft um wenige Groschen zehnmal denselben Weg, freut sich wie ein König, um einen eroberten Taler.“11Darüber hinaus verfügt er über eine bemerkenswerte praktische Intelligenz, die er für seine Machenschaften geschickt einsetzt und so eine ernsthafte Bedrohung für Aristokratie und Bürgertum bildet. Im ersten Band, wo die jüdische Teilhandlung am stärksten ausgeprägt ist, entfallen ca. ein Viertel auf die Beschreibung von Juden in typischen Situationen, wobei ein Grossteil durch Veitel Itzig dominiert wird.12Parallel zur Entwicklung des bürgerlichen Helden Anton Wohlfahrt erfährt auch Veitel Itzig einen wenn auch nur materiellen Aufstieg, bevor am Ende des Roman dann seine dunklen Machenschaften bekannt werden und er eines unrühmlichen Todes sterben muss. Motivgeschichtlich kommt er als „Ewiger Jude“ daher, der als gesellschaftlicher Außenseiter mit allen Mitteln danach strebt, seine materiellen Gelüste zu befriedigen. Getrieben von skrupelloser Raffinesse und einen ausgeprägten geschäftlichen Sinn, verfügt er bereits am Anfang des Romans über ein weitverzweigtes Beziehungsnetz, das er im weiteren Romanverlauf geschickt ausbaut und für sich nutzbar machen kann.13

Stellt Veitel Itzig eine ernsthafte Gefährdung für die bürgerliche Ordnung dar, geht diese von den anderen jüdischen Protaggonisten nicht unmittelbar aus. Zwar sind auch diese moralisch den anderen Romanfiguren unterlegen, doch fehlt ihnen die notwendige Geschäftstüchtigkeit und der Ehrgeiz, um ernsthaften Schaden anzurichten. Zu dieser Gruppe gehören die lächerlichen polnischen „Schacherjuden“ Schmeie Tinkeles, Löbel Pinkus, Mausche Fischel und der Schankwirt.14Überwiegend im Kleinhandel oder im Ausschank tätig, sind sie gemäß der üblichen Klischees kleinen krummen Geschäften nicht abgeneigt. So verdingt sich Pinkus z.B. zusätzlich als Hehler, wobei sein

Hehlergut bezeichnenderweise aus „Stoffen, metallene Geräte, ein Kruzifix, Kelche und Kronleuchter“15besteht, wodurch dessen schädlicher Einfluss auf die christliche Umgebung dokumentiert wird. Sind diese in ihrem Gebaren auch unangenehm, so kann ihr Treiben durch energisches Eingreifen doch unterbunden werden, wie Anton es bei Unterredungen mit Schmeie Tinkeles wiederholt praktiziert.

Familie Ehrenthal steht für die Gruppe der jüdischen „Assimilanten“, die ohne ihre jüdische Existenz verbergen zu können, weitesgehend in der bürgerlichen Gesellschaft integriert sind. Sidonie und Rosalie Ehrenthal zeichnen sich durch übersteigerte Prunksucht und Streben nach gesellschaftlicher Akzeptanz aus, wodurch sie so lächerlich wirken. Ihr Assimilationswunsch diktiert ihnen genau das „Zuviel“, das sie vom deutsch - bürgerlichen Maßstab trennt und sie in ihrer Oberflächlichkeit und Gefallsucht entlarvt.16Hirsch Ehrenthal steht trotz seines materialistischen Gebarens der Religion am nächsten, die von Rosalie und Sidonie sowie deren jüdischen Umgang völlig vernachlässigt wird, was bei der Verlobung zwischen Veitel Itzig und Rosalie deutlich wird.17Freilich tritt diese religiöse Frömmigkeit erst nach Tod seines Sohnes Bernhard ein, der seinen Vater zuvor verwünscht und dessen Hinscheiden Hirsch zum „blödsinnigen Greis“18werden lässt. Anders als Veitel Itzig, der keine übergeordneten Motive kennt, ist es Hirsch Ehrenthals Anliegen, die Familie in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren und insbesondere für seinen Sohn Bernhard, den er abgöttisch liebt, eine finanzielle Basis zu schaffen, wobei er als Jude gemäss Klischee natürlich auch nicht vor krummen Geschäften halt macht. Dieser Sohn Bernhard stellt die große Ausnahme im Roman dar, weshalb man sich zusammen mit dem Autor zu Recht fragt: „Wie aber kam der Sohn in diese Familie?“19Seinem jüdischen Freund Anton Kaufmann nachempfunden20, führt Freytag Bernhard als einen Prototyp des „gebildeten Juden“ ein21, der für alles Praktische und Geschäftliche unempfänglich sich deutlich von den anderen Juden im Roman absetzt. Seine vollständige Assmilation spiegelt sich auch in seinem Äußerem, seinem Sprachgebrauch und in seinem Namen wieder.22Einzig sein Judentum steht ihm dennoch im Weg. Zum einen leidet er unter den Machenschaften seiner jüdischen Umwelt und insbesondere unter denjenigen seines Vaters. Zum anderen muss er sich aufs Privatgelehrtentum verlegen, da seine Konfession einer Anstellung im Staat verhindert.23Als einzig positiv dargestellter Jude bricht er mit seiner jüdischen Familie, um sich mit der christlichen Umwelt zu solidarsieren. Jedoch lässst der Erzähler diese Figur recht rasch sterben. Für ihn, der den Geist repräsentiert, ist kein Platz in einer ausschließlich auf materialistischen Interessen bedachten geistfernen Welt.

Die Stellung Bernhard Ehrenthals im Romanganzen ist jedoch viel zu schwach, um ein ernsthaftes Gegengewicht zu den meistenteils negativ besetzten Juden zu bilden. Dass die Judendarstellungen in „Soll und Haben“ tendenziell antisemitisch sind, scheint unbestritten, insbesondere dann, wenn man sich die Interjektionen des Autors selbst vor Augen führt. Als Mittel der Lesesteuerungen werden die Namensgebung (s.o.), die Sprache (s.o.) und vor allem Interjektionen des Autors selbst eingesetzt. Juden werden als „Aale“24, „Schlangen“25und „galvanisch zuckende Frösche“26beschrieben. Der traditionell antisemitischen Metaphorik weiter folgend27, wird ihr Gesicht zur „Fratze“28oder zur „Karnevalslarve“29. Verstärkt wird dieser Effekt durch die ironische und distanzschaffende Vermittlung des Erzählers, der wiederholt satirisch von „Madame Ehrenthal“30, „Junker Itzig“31und dergleichen mehr spricht. In Veitel Itzig den „gepeinigten Judenknaben“32zu sehen, dessen feindlich gesinnte christliche Umwelt ihn erst zu dem macht, was er ist,33scheint hinsichtlich des hier Dargestellten eine Lesart zu sein, die sich nicht direkt anbietet und im Grunde vom Autor auch nicht suggeriert wird.

C. Zum Antisemitismus

„Was immer Freytag gewesen ist, wie er gewirkt hat - mit dem Begriff Antisemitismus kann er nicht gefasst werden. Er nicht und nicht einmal dieser Roman, der doch nach den Erfahrungen, die hinter uns liegen, durchaus antisemitisch wirkt.“34

I. Realistische Darstellung

Betrachtet man die Judendarstellungen in „Soll und Haben“ in Hinblick auf ihrem Realismusgehalt, dem der Roman als Ganzes verpflichtet ist, muss man unwiderruflich zu dem Schluss kommen, dass dieser nicht oder nur kaum verwirklicht wurde. Zieht man die zeitgenössische Wirklichkeit des schlesischen Romancier Gustav Freytag in Rechnung, so scheinen zumindest die ostjüdischen Schacherjuden (s.o.) ihr, wenn auch stark vergröbertes, Vorbild in der jüdischen Minderheit Breslaus zu besitzen.35Auch Bernhard Ehrenthal und die Gruppe der Assimilanten insgesamt in ihrem Dilemma zwischen Bürgertum und Judentum stellen eine zeitgeschichtliche Problematik dar.

Freytag deutet dieses sozialgeschichtliches Problem jedoch nur an. Er zeigt diese Juden in ihrer Lächerlichkeit, ohne eine eigentliche Problematisierung vorzunehmen oder ihren Integrationswillen, was in diesem Fall immer auch die Verleugnung der eigenen Identität als Jude gleichkommt, positiv zu bewerten. Völlig ausgeklammert wird hingegen das in dieser Zeit sich gerade ankündigende Konfliktpotential der industriellen Arbeitsweise. Zwar steht, wie es das Motto des Romans schon bezeichnet, die Arbeit im Vordergrund, gemeint ist aber ausschließlich die bürgerliche Arbeitsweise, nicht die des sich gerade bildenden Industrieproletariats.

Steinecke beschreibt den Realismus - Anspruch Freytags als „Verankerung des Romans auf einer mittleren Sprachebene, Eindämmen der Rhetorik, des Pathos, der Reflexion; darstellungsreich: detailgetreue Wiedergabe der äußeren Wirklichkeit...“36Als wichtigste Kernpunkte des programmatischen Realismus, bezeichnet er „Objektivität“ und die „Gestaltung einer Idee“, welche als „etwas Objektives, allgemein Gültiges, Erstrebenswertes und Anerkennenswertes“ verstanden werden muss.37In „Soll und Haben“ steht die Idee so sehr im Vordergrund - das ist die Idealisierung der deutsch - bürgerlichen Normen nach 1848 - , dass der objektive Anspruch zugunsten einer besseren und deutlicheren Leserwirkung verloren geht. Die Wirklichkeit ist Abbild einer liberalen Ideologie des Bürgertums, die allerdings von demjenigen, der diese Ansichten teilt, durchaus als realistisch hingenommen werden kann. Mit diesem Wissen jedoch stellen sich die Judendarstellungen in einem ganz anderen Licht dar, weshalb im folgenden Abschnitt die werkimmanente Funktion der Juden in der Romankonzeption untersucht werden soll.

II. Funktionalität der Juden

Mit einem dramaturgischen Romanmodell mit Parallelführung und Entgegensetzung der drei Gesellschaftskreise - des Adels, der Juden und des Bürgertums - ist „Soll und Haben“ bis hin zu kleinsten Details konzipiert.38Unbestritten in der Forschung ist die Parallelisierung von Veitel Itzig und Anton Wohlfahrt.39Anton Wohlfahrt steht für die“ figurale Inkarnation idealbürgerlichen Bewusstseins“, der aus seinem Umgang mit Juden, Polen, Adeligen und aus zahlreichen Bewährungsproben unterschiedlicher Lebenslagen lernt. Veitel Itzig hingegen ist die Personifizierung des Ewigen Juden, der fast schon diabolisch alle Vorurteile und Klischees seiner Abstammung repräsentiert. Man kann in diesem Fall von einer Funktionalisierung Veitels als negative Kontrastfolie zum bürgerlichen Helden sprechen. Die Person Veitel Itzig wäre demnach fremdbestimmt, wodurch die Einseitigkeit der Darstellung erklärt werden könnte. Seine romaninterne Funktion wäre folglich in erster Linie die eines intriganten Spekulanten und nicht die eines Juden. Dieses Modell lässt sich auf die Juden in „Soll und Haben“ insgesamt übertragen, indem man den Roman in seiner strengen Konzeption erkennt und die Juden in Hinblick auf ihre werkimmanente Bedeutung begreift. Ihre Funktion als Kontrast ließe sich an mehreren Textstellen belegen, exemplarisch sei hier nur an die Gegenüberstellung des Hauses Ehrenthal und des Hauses Schröters erinnert: dem soliden und sauberen Bürgerhaus40wird eine schmutzige und auf Blendung abzielende Behausung gegenübergestellt41, wobei augenscheinlich eine äußere Entsprechung mit dem Innenleben der Bewohner suggeriert wird.

Die Juden erscheinen somit nicht als „empirische, sondern als metaphorische Juden“42, die durch Umwertung aller bürgerlichen Werte auf ihre Funktion als Gegenpol beschränkt werden. Sie repräsentieren die neuzeitliche Kapitalismuskritik, wobei das Wort jüdisch, wie auch bei anderen Autoren wie Marx43, Lessing, Börne und Heine44, metaphorisch im Sinne von unredlichen ökonomischen Verhalten gebraucht wird. „Eine Metapher wird also refiguralisiert, die jüdische Figur agiert als Quasi - Allegorie.“45Gleichzeitig wird das Selbstwertgefühl des Bürgertums dadurch bestärkt, dass ihr ausgesprochen ökonomisches Verhalten verglichen mit dem rein materialistischem Interessen des Judentums human erscheint. Nicht der Kapitalismus an sich ist schlecht, wohl aber der jüdische Kapitalismus Das kollektive Scheitern der Juden am Schluss des Romans weist optimistisch in die Zukunft und suggeriert dem Leser, dass Aristokratie und falsche Wirtschaft durch Stärke und Festigkeit des Bürgertums überwunden werden.

Missachtung des Konstellationsgefüges und Vernachlässigung intentionaler Tendenzen habe späterhin dazu geführt, dass die werkimmanente Bedeutung der Juden im Roman sich historisch verselbstständig und antiliberaler und antisemitischen Tendenzen unfreiwillig Hilfsdienste geleistet habe.46

Abschließend soll im folgendem Abschnitt untersucht werden, inwiefern die dem Roman zugrundeliegende Idee politisch, vielleicht sogar parteipolitisch motiviert ist.

III. „Soll und Haben“ als Parteiprogramm ?

Schon Steinecke weist daraufhin, dass „Soll und Haben“ ein Roman im Dienste politischer Ziele sei, was u.a. durch die Widmung an den Herzog ersichtlich werde.47Köhnke fügt diesem Aspekt in seinem 1990 erschienenen Aufsatz einige für die Literaturwissenschaft neue Fakten hinzu.48

Schlüssig kann er darlegen, dass der Roman ursprünglich in einer kürzeren Form konzipiert war, wobei zunächst von einer einseitigen Negativdarstellung der Juden keine Rede sein konnte.49Die Änderung des Konzepts sei, was er ebenfalls plausibel machen kann, dadurch erfolgt, dass Freytag zu Zeit der Abschrift Mitglied eines geheimen liberalen Vereins gewesen sei.50Durch publizistische Mittel wäre es dem anonymen Verein ein Anliegen gewesen, politische Überzeugungen Ausdruck zu verleihen.51In diesem Sinne sei auch „Soll und Haben“ als Parteiliteratur später umgeschrieben worden. Folgerichtig handele es sich bei diesem Roman um „parteipolitisch eingebundene Schriftstellerei“, die auf „langfristige Beeinflussung der Massen, einschließlich der naiven Leser“ angelegt sei.52

D. Schlussbetrachtung

Die Erkenntnisse des letzten Abschnitts ergeben zusammengenommen ein schlüssiges Bild von der Romanentstehung. Zugunsten des politisch motivierten und auf breite Wirkung angelegten Romans sei somit der Realismusgehalt zurückgedrängt und die Konzeption so einseitig ausgefallen. Freytag habe demnach seine subjektive Indifferenz oder auch Sympathie den Juden gegenüber hinsichtlich einer besseren Leserwirkung verhehlt. Ist dies die tatsächliche Entstehungsgeschichte des Romans, muss man Gustav Freytag den Vorwurf machen, aus propagandistischem Kalkül auf die damals geläufigen antijüdische Vorurteile zurückgegriffen zu haben. Willentlich oder nicht hat sein Roman dazu beigetragen antisemitische Vorurteile zu festigen und zu bestärken, gerade weil dieses Werk über Jahrzehnte hinweg so erfolgreich war.

Aus dieser Perspektive lassen sich auch die ästhetischen Mängel des Romans erklären, jedoch nicht gutheißen. Die strenge Konzeption, die Einseitigkeit der Charaktere - nicht nur die der Juden - und die daraus entstehende Vorhersehbarkeit der Handlung rückt den Roman in die Nähe der Trivialliteratur.

Zu recht wird Freytag in der Forschung seit 1945 nur noch schriftstellerisches Mittelmaß bescheinigt.53Dazu beigetragen hat nehmen der modellhaften und hölzernen Konstruktion des Romans sicherlich auch, dass die Werte und die Ideologie, die der Roman so unverblümt und naiv optimistisch vermitteln will, heute nicht mehr den selben Stellenwert haben. Lesenswert ist der Roman nur noch als historische Quelle und das in zweierlei Hinsicht. Zum einen mit der Fragestellung, wie sich das Bürgertum nach der gescheiterten Revolution 1848 neu konstituierte und zum anderen in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht.

Was das Judentum in dem Roman anbelangt, so ist die Bewertung auch heute noch in der Forschung sehr umstritten. Kristallationspunkt, an dem sich gleichsam die unterschiedlichen Forschungsansätze und das erwünschte Ergebnis ablesen lassen, ist dabei die vielleicht komplexeste jüdische Romanfigur Bernhard Ehrenthal. Die Figur wird je nach Belieben als Beleg einer nicht antisemitischen Darstellung oder gerade als Beleg antijüdischer Tendenzen angeführt. Erstere Meinung vertritt beispielsweise Schneider54, während Amery exemplarisch mit sehr harschen Worten die Gegenmeinung vertritt:

„Ein einziger von ihnen ist symphatisch, der Sohn des Maklers Ehrenthal, ein weltabgewandter Gelehrter. Aber der Autor lässt ihn schnell verschwinden: Abgang durch Tod, wie es im Nazi - KZ hieß; der einzig gute Jude ist ein toter Jude, basta.“55 Wieder andere - und das ist die Mehrzahl - sprechen Bernhard jegliche Funktion innerhalb des Romans ab und finden darin sogleich auch den Grund für seinen raschen Tod.56Einzig Gelber gelangt zu einem differenzierteren und objektiveren Urteil, indem er ihn als Repräsentant des Geistes in einem durch und durch auf Ökonomie bedachten Roman begreift.57Eine genauere und objektivere Problemanalyse unter Einbeziehung der neusten Ergebnisse Köhnkes muss, falls der Bedarf überhaupt noch besteht, noch geleistet werden. Bereits 1974 schrieb Hubrich, dass der Roman mangels Identifikationsmöglichkeit der Leserschaft zu Recht vergessen sei.58Die erfolgreiche Neuauflage und geplante Verfilmung nur drei Jahre später sollte zu denken geben. „Die deutsche Literatur des XIX. Jahrhunderts ist nicht so arm, dass man es nötig hat, ausgerechnet auf Freytag zu kommen.“59

[...]


1Vgl. Hubrich: Deutsche Ideologie, S. 43.

2Vgl. Steine>

3Gubser: Literarischer Antisemitismus, bes. S.187 - 227.

4 Vgl. Gubser. Literarischer Antisemitismus, S.188f.

5Busch, Wilhelm: Plisch und Plum, S. 468.

6 Vgl. Gelber: Das Judendeutsch, S. 167.

7Freytag: Soll u. Haben, 1. Bd. , S. 63.

8Vgl. Gelber: Das Judendeutsch, S. 168.

9Freytag: Erinnerungen, S. 262.

10 Vgl. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S.193f.

11Freytag: Soll u. Haben, 1. Bd. , S. 121.

12Vgl. Hubrich: Deutsche Ideologie, S.90.

13 Vgl. Freytag: Soll u. Haben, 1. Bd. , S. 41.

14Vgl. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S. 209.

15Freytag: Soll u. Haben, 1. Bd. , S. 123.

16Vgl. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S. 214f.

17Vgl. Freytag: Soll u. Haben, 1. Bd. , S. 295 - 298.

18 Freytag: Soll u. Haben, 2. Bd., S. 393.

19Freytag: Soll u. Haben, 1. Bd. , S. 54.

20Vgl. Schneider: Apologie, S. 389.

21Vgl. Gelber: An Alternative Reading, S. 85.

22Vgl. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S. 222f.

23Vgl. Freytag: Soll u. Haben, 1.Bd. , S. 280.

24 Freytag: Soll u. Haben, 2.Bd. , S. 215.

25 Freytag: Soll u. Haben, 1.Bd. , S. 556.

26Ebd., S. 65.

27Vgl. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S. 233.

28Freytag: Soll u. Haben, 1.Bd. , S. 494.

29Ebd., S. 493.

30Freytag: Soll u. Haben, 1.Bd. , S. 140.

31Ebd., S. 22.

32 Horch: Judenbilder, S. 149.

33Vgl. Horch: Judenbilder, S. 149.

34Boehlich: Das deutsche Volk, S. 317.

35Vgl. Boehlich: Das deutsche Volk, S. 315.

36 Steine>

37Ebd., S.144.

38Vgl. Horch: Judenbilder, S.148.

39Vgl. Boehlich: Das deutsche Volk, S. 316.

40 Vgl. Freytag: Soll u. Haben, 1.Bd. , S. 67.

41Ebd., S. 108.

42Vgl. Schneider: Apologie, S. 403.

43Ebd. S. 398 - 400.

44Vgl. Horch: Judenbilder, S.149.

45Ebd., S. 149.

46Vgl. Schneider: Apologie, S. 413.

47 Vgl. Steine>

48 Köhnke: Ein antisemitischer Autor wider Willen.

49Vgl. Köhnke: Ein antisemitischer Autor wider Willen, S. 131 - 134.

50Vgl. Ebd., S. 135 - 137.

51Vgl. Ebd., S. 138.

52Vgl. Ebd., S. 138.

53 Vgl. Horch: Judenbilder, S. 143.

54Vgl. Schneider: Apologie, S. 391.

55Amery: Schlecht klingt das Lied, S. 90.

56z.B. Vgl. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S.222 - 225.

57Vgl. Gelber: An alternative Reading, S. 83 - 88.

58Vgl. Hubrich: Deutsche Ideologie, S. 42 - 45.

59 Amery: Schlecht klingt das Lied, S.93.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Antisemitismus in Freytags "Soll und Haben"
Hochschule
Universität zu Köln
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
13
Katalognummer
V104991
ISBN (eBook)
9783640032884
Dateigröße
361 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Funktionalisierter vs. unterschwelliger Antisemitismus
Schlagworte
Antisemitismus, Freytags, Soll, Haben
Arbeit zitieren
Jan Hermes (Autor:in), 2000, Antisemitismus in Freytags "Soll und Haben", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104991

Kommentare

  • Gast am 7.3.2003

    Super.

    Grandios, sowohl inhaltlich als auch stilistisch

Blick ins Buch
Titel: Antisemitismus in Freytags "Soll und Haben"



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