Mittelalterliche Backsteingotik


Hausarbeit, 2001

18 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Vorwort

1. Architekturepochen im Mittelalter
1.1 Frühes Christentum
1.2 Byzanz Seite
1.3 Merowingische/Karolingische Zeit Seite
1.4 Romanik Seite

2. Gotik Seite
2.1 Entstehung der Gotik Seite
2.2. Der Begriff “Gotik” Seite
2.3. Verbreitung der Gotik Seite
2.4 Formen der Gotik Seite

3. Das Handwerk zur Zeit der Gotik Seite

4. Die Backsteingotik Seite
4.1 Entstehung der Sonderform der “Backsteingotik” Seite
4.1.1 Der Werkstoff Backstein Seite
4.2 Die Blüte der Backsteingotik Seite

5.Die Stadt Wismar Seite
5.1 Die Kirchen der Stadt Wismar Seite

Literaturverzeichnis Seite

Abbildungsverzeichnis Seite

Vorwort

Auf der Suche nach Regionen können unterschiedliche Kriterien entsprechende Grenzen abstecken. Ein Dialekt kann eine Region ebenso bezeichnen, wie eine landschaftliche Struktur oder eine bestimmte Art, Speisen zu bereiten. Norddeutsche Landstriche weisen eine, bereits im Mittelalter gewachsenen, besonders eindrucksvolle Gemeinsamkeit aus: die Backsteinarchitektur. Zwar ist der Baustoff Backstein bereits aus der Frühzeit in Mesopotamien bekannt, aber aufgrund Norddeutscher Besonderheiten findet er hier auch bei den großen gotischen Sakralbauwerken Verwendung, als anderorts der Hausstein bevorzugt zum Kirchenbau verwendet wurde. Diese gotischen Großbauwerke in Norddeutschland prägen die Landschaft bis ins Baltikum, finden ihre Höhepunkte aber in den reichen Hansestädten mittelalterlicher Prägung. In der folgenden Arbeit soll die Entstehung der Backsteingotik von den Anfängen frühchristlicher Architektur am Beispiel der Sakralbauten entwickelt werden. Eine Schwierigkeit stellt der architekturgeschichtliche Forschungsstand dar. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Norddeutschen Backsteinarchitektur ist kaum mehr als vierzig Jahre alt. So heißt es im Vorwort eines Buches über die Mittelalterliche Backsteinarchitektur Norddeutschlands:

„In dieser Forschungssituation kann eine Geschichte der mittelalterlichen Backsteinarchitektur Norddeutschlands kaum mehr sein als ein Versuch, bisherige Ergebnisse zusammenzufassen und kritisch zu hinterfragen, sowie mit dem derzeitigen Stand der architekturgeschichtlichen Mittelalterforschung in Kongruenz zu bringen. Für einzelne, zum Teil seit dem Einsetzen der Forschung kontrovers diskutierte Probleme, wie die Frage nach den bautechnischen Voraussetzungen und der geographischen Herleitung der Backsteinbauweise und, damit verbunden, nach der Einordnung in einen gesamteuropäischen Kontext, können dabei vorerst nur Arbeitshypothesen vorgestellt werden, deren wissenschaftliche Tragfähigkeit sich noch in der weiteren Auseinandersetzung erweisen muss. (Böcker, H., 1988, S. 2)“

Unter diesen Umständen sei verziehen, dass die vorliegende Arbeit keinen Anspruch auf einen weiteren Beitrag zur Näherung an die Wahrheit erhebt, sondern lediglich bisherige Erkenntnisse zur mittelalterlichen Backsteinarchitektur zusammenfasst. Auf die in den Sozialwissenschaften übliche Zitierweise ist in diesem Zusammenhang ebenso verzichtet worden.

1. Architekturepochen im Mittelalter

1.2 Frühes Christentum

Die ersten frühchristlichen Bauwerke sind in Bezug auf ihre Konstruktionen und Formen recht zurückhaltend. Zwar werden bei Neubauten auch weiterhin die in der Spätantike üblichen Materialien verwendet (Holz, Granit und Feldsteine), doch zeigt die Bauausführung eine meist geringere Qualität, da man schnell und billig bauen muss. Den Christen stellt der Kult in der Kirche zu diesem Zeitpunkt aber auch einen höheren Wert dar, als die äußere Erscheinungsform. Die Sakralbauten sind häufig an Boden und Wänden mit Mosaik geschmückt. Im Laufe der Entwicklung kommt es zu einer stärkeren Einbeziehung plastischen Schmucks, dies jedoch in der Regel nicht durch Nachbildung römischer Vorbilder, sondern unter Plünderung antiker Bauwerke. Diese Art der Reliquien-Beschaffung erklärt, warum die Steinmetzekunst im Westen des Reiches für Jahrhunderte ihren Tiefstand erreicht.

1.2 Byzanz

Die byzantinische Baukunst entwickelt sich aus der spätantiken und frühchristlichen Architektur, übernimmt aber auch Anregungen aus Kleinasien und Spanien. Die architektonische Entwicklung lässt sich nach drei Phasen unterscheiden:

- eine frühbyzantinische, die vom 6. bis 8. Jahrhundert reicht;

- eine mittelbyzantinische, die das 9. und 12. Jahrhundert umfasst und aufgrund erneuter Expansion des Reiches und erneuten Wohlstandes einen nochmaligen Höhepunkt erreicht;

- eine spätbyzantinische, die sich bis in das 15 Jahrhundert fortsetzt, aber nicht durch überragende bauliche Leistungen oder durch eine Entwicklung neuer Bautypen gekennzeichnet ist.

Während in den östlichen Ländern des byzantinischen Reiches der Haustein als bevorzugtes Baumaterial gilt, werden im Westen Ziegel gefertigt und verbaut. Die römische Tradition lässt Fachwerkmauerbau erkennen. Die frühchristlichen Dekorationselemente dienen weiterhin dem

Schmuck der Sakralbauten. Ein wichtiger dekorativer Ansatzpunkt byzantinischer Gotteshäuser bildet das Kapitell, das ausladende Kopfstück einer Säule (siehe Abb. 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1:

Würfelkapitell und Grundriss der Säule

1.3 Merowingische/Karolingische Zeit

Wenn auch nur wenige Bauwerke dieser Kulturepoche erhalten blieben oder durch die Archäologie nachgewiesen wurden, so stellt sie doch eine der wichtigsten kulturellen Strömungen des Mittelalters dar. Karl der Große gibt dieser Epoche seinen Namen. Ihm gelingt es, die Herrschaft der Langobarden in Italien zu brechen und das Christentum bei den Sachsen und in weiten Landstrichen östlich es Rheins zu verbreiten. Das Ausprobieren neuer Bauformen kennzeichnet den Wunsch eines Neubeginns. Kennzeichnend für den Sakralbau der karolingischen Zeit ist das Westwerk1, der Stützenwechsel2und eine lebendige Bauornamentik.

1.4 Romanik

Etwa um das Jahr 1000 beginnt die Romanik. Die Architektur lebt von der Mischung antiker, orientalischer, fränkischer und anderer Elemente. Der Kirchenbau greift auf zahlreiche Elemente karolingischer Zeit zurück, so das Westwerk, die Zwei- und Dreiturmfassade oder die unterschiedlichen Chorlösungen. Die Mauern werden mit zahlreichen, ihre Tiefe sichtbar machenden Öffnungen versehen. Als Baumaterial dient der Haustein, der zunächst in einem Mörtelbett verlegt wird. Später, unter Verwendung größerer Steinformate, weicht dieses Verfahren der Pressfugentechnik. Selbst der Grundriss betont die Kreuzform als Symbol für Jesus Opfertod. (Abb. 2)

Abb. 2:

Grundriß der Klosterkirche Corvey

Da sich das deutsche Königtum, seit der Zeit Karl des Großen fest mit dem römischen Kaisertum verbunden, in einer anhaltenden Auseinandersetzung mit dem Papsttum befindet, kommt es zu einer grundlegenden Schwächung der Zentralgewalt auf deutschem Boden. Dies wiederum hat zur Folge, dass sich kein einheitlicher romanischer Baustil entfaltet, sondern sich statt dessen einzelne Kunstlandschaften herausbilden. Eine besondere Rolle bei der Verbreitung von Bautradition fällt den sich der Kolonisation widmenden Orden zu. Nach dem Otto I. die Ungarn schlägt, setzt die Ostkolonialisierung ein. Bischöfe steigen in den Rang von Reichsfürsten auf. Insbesondere der Baukunst als Teil der zu verbreitenden christlichen Ideologie kommt eine maßgebende Bedeutung zu.

2. Gotik

2.1 Entstehung der Gotik

Der Übergang von der Romanik zur Gotik vollzieht sich langsam. Eindeutige Zuordnungen zu der einen oder anderen Stilepoche sind in der Übergansphase oft schwierig. Als Wahrzeichen der Gotik gilt der Spitzbogen. Er entwickelt sich aus dem Rundbogen, der als exakter Halbkreis schon seit Jahrtausenden die einzige Grundlage aller Wölbungsarten gewesen war. Anfangs erschien der Spitzbogen nur als geringfügiger Knick im Rundbogenscheitel, stieg schließlich immer steiler an. Am Ende der Gotik stand der Kielbogen, eine konkav-konvexe Übersteigerung des Spitzbogens, der nicht mehr tragfähig war und nur noch dekorativen Charakter hatte. Lässt man die bautechnische Bedeutung der Bogenkonstruktionen unterschiedlicher Epochen außer acht, so ergibt sich folgender Vergleich: Der Rundbogen steigt an einer Seite auf und neigt sich im gleichmäßigen Fluss des Halbkreises auf der anderen Seite wieder der Erde zu. Der Spitzbogen erhebt sich beiderseits in Kreisbogen, um eine Spitze zu bilden, die in den Himmel zeigt. (Abb. 3)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3:

Entwicklung der Fensterbögen 1: Rundbogen (45°)

2: gedrückter Spitzbogen (40°) 3: klassischer Spitzbogen (30°)

Doch basiert die Idee der Gotik nicht auf dem Spitzbogen. Dieser bildet nur eines ihrer Elemente. Die gotische Bauweise ist vielmehr die architektonische Entsprechung eines neuen Weltbildes. Das Einzelne wird aus seiner Isolierung gelöst und zum Bestandteil des Ganzen. Der Festigung und Bejahung des christlichen Glaubens wurde auch im Kirchen-Bau Ausdruck verliehen. Die Menschen aller Volksschichten waren zu materiellen Opfern bereit. In der Folge standen ungeheure, heute nicht mehr richtig einzuschätzende, finanzielle Mittel zur Verfügung. Das wiederum spornte befähigte Baumeister zu technisch wie künstlerisch immer gewagteren Leistungen an. Immerhin gab es weder eine wissenschaftlich fundierte Statik noch Kenntnisse über Materialeigenschaften. Es scheint fast, als folgten sie eher einer inneren Eingebung, denn keine der heute noch erkenntlichen Entwicklungsstufen stellt einen Umweg bei der Verfeinerung der Techniken dar. Träger der oft gigantischen Schöpfungen war aber wohl die tiefe innere Überzeugung, das gar nichts schief gehen kann - kommt der einzelne nur nicht vom rechten (christlichen) Weg ab. Ging doch mal was schief, hatte der Himmel eine Lehre erteilt, die beim Neubeginn berücksichtigt wurde. In der Romanik überschatteten noch heidnische Dämonenängste auch das Christentum. Ängsten wurde in Form von grotesken Wasserspeiern und in Stein gemeißelten Bildnissen begegnet. In der Gotik steht die Macht Gottes aber im Vordergrund. Bildliche Darstellung ethischer und religiöser Vorstellungen und Erwartungen wird angestrebt. Bei der Dimensionierung von Bauwerken spielt das Geltungsbedürfnis geistlicher und weltlicher Bauherren ohne Zweifel auch eine Rolle.

2.2. Der Begriff “Gotik”

“Gotik” wurde erst am Beginn des 19. Jahrhunderts zum Begriff für die gesamte Kunstepoche etwa zwischen Mitte des 12. bis Anfang des 16. Jahrhunderts. Zuvor bezeichnete man nur die Baukunst dieser Zeitspane als “gotisch”. Das Wort prägte Giorgio Vasari, ein italienischer Maler, Baumeister und Kunstgeschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts. Nach Vasari, der nur die Antike als Vorbild und Beispiel gelten ließ, waren die Goten Urheber des barbarischen Mittelalters und Zerstörer antiker Schönheit. Er hält sie für die Erfinder des “scheußlichen Spitzbogenstils”. Auch als dieser Irrtum längst wiederlegt ist, gilt die Bezeichnung Vasaris als Inbegriff für alles Widerwärtige und pompös Überladene in der Kunst bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Der erste, der sich über die bislang bestehende Voreingenommenheit im Hinblick auf die gotische Architektur hinwegzuheben vermochte, war Goethe. Nach anfänglich anderer Einstellung durchbricht Goethe erstmals nach seinem Besuch von Straßburg 1772 die abfällige Auffassung der Gotik durch die Wiedergabe seines Eindruckes vom dortigen Münster:

“Unter der Rubrik gotisch, gleich dem Artikel eines Wörterbuches, häufte ich alle synonymischen Mißverständnisse, die mir von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem jemals durch den Kopf gezogen waren. Nicht gescheiter als ein Volk, das die ganze Welt barbarisch nennt, hieß alles gotisch, was nicht in mein System paßte ... und so graute mir’s im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten, krausborstigen Ungeheuers. Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davortrat! Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelteilen bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. Sie sagen, daß es also mit den Freuden des Himmels sei, und wie oft bin ich zurückgekehrt, diese himmlisch-irdische Freude zu genießen ...(Zit. nach Jaxtheimer,B., 1982, S. 15)“

Die Einstellung zur Gotik hat sich seit dieser Zeit grundlegend geändert. Heute gilt die gotische Sakral-Architektur als ein Höhepunkt der Steinbaukunst.

2.3. Verbreitung der Gotik

Die gotische Baukunst verbreitet sich in fast ganz Europa. Ausgehend von Frankreich, wo die Benediktiner-Mönche unter normannischem Einfluss mit dem Bau des Kloster Jumiges ab 1040 zwar noch dem romanischen System verhaftet, aber doch schon später als gotisch bezeichnete Stilmerkmale erkennen lassen, verbreitet sich dieser Stil nach Deutschland, England, Belgien und Holland, Skandinavien, Spanien und Portugal und Italien bis hoch nach Tallin. Ihren östlichsten Einzelpunkt erreicht die Gotik mit dem von französischen Baumeistern errichteten Dom in Nicosia auf Cypern.

2.4 Formen der Gotik

Die Gotik weist, wie alle anderen Bauformen auch, einen ganz spezifischen Bauschmuck auf. Die Schmuckformen der Gotik umfassen vor allem zwei deutlich voneinander zu trennende Arten: das Maßwerk und das Laubwerk.

Die Fenster romanischer Kirchen waren klein, einfach und ließen nur wenig Licht in die Gotteshäuser. Sie waren in kräftiges Mauerwerk eingefasst. Starke Abschrägungen der Einfassung vergrößerten die Fenster optisch. Die Fenster gotischer Kirchen waren viel kunstvoller gestaltet. Die Mauern gotischer Kirchen wurden dünner und die Fenster größer, mitunter nahezu riesenhaft. Das erforderte eine stützende Gliederung. Die notwendige Festigkeit wurde durch stegartige Profile erreicht. Die üppig gestalteten und kunstvoll verzierten Stützwerke werden, so sie mit den für die Gotik typischen Kreis- und Blumenmustern verziert sind, als Maßwerk bezeichnet (Abb. 4). Das Maßwerk setzt sich ausschließlich aus exakten Kreisbogen zusammen. Der Wortteil “Maß” bedeutet entsprechend dem mittelhochdeutschen Sprachgebrauch soviel wie “richtige” Größe oder Ausdehnung beim lückenlosen In- und Aneinanderfügen von Kreisbogen in die Fensterrahmung. Diese Einsätze wurden nicht errechnet, sondern ergaben sich aus Schnittpunkten von geraden Verbindungen und Kreislinien. Die zunehmende Filigranität der Handwerker führte zu solch beeindruckenden Kunstwerken wie dem spätgotischen Flammenmaßwerk, z.B. an der Westfront der Abteikirche Ste-Tinité.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4a:

einfaches Fenstermaßwerk

Abb 4b:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

kompliziertes Fenstermaßwerk

Ein Sonderfall des gotischen Maßwerks stellt das Radfenster dar. Es entwickelte sich aus der romanischen “Rose”. Das Radfenster gleicht mit seinen gliedernden Stützen, die wie Felgen aussehen, tatsächlich einem Rad (Abb.5). Diese Radfenster hatten einen Durchmesser von bis zu 14 Metern.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5:

Radfenster

Das Maßwerk beschränkte sich aber nicht auf die Gliederung von Fenstern, sondern diente auch als Blendwerk an den kahlen Mauerflächen der Fassade.

Neben dem Ideereichtum der Steinmetze bei der Gestaltung der Fenster fällt aber auch die beeindruckend lebendige Gestaltung von Figuren und Laubwerk an gotischen Bauwerken auf. Die Figuren waren nie als Beiwerk oder Schmuck gedacht, sondern hatten vor allem gleichnishafte Bedeutung. Oft verschließt sich allein durch die Anbringung am Gebäude der Blick auf diese Kunstwerke, sind sie doch nur vom Gerüst aus zu betrachten. Aber sie waren auch nicht für die Menschen geschaffen, es war eher Dienst und Opfer an Gott. Jaxtheimer schreibt, dass man das erst begreift, “ wenn man bedenkt, dass ein Steinmetz nicht einmal einfachste Quader ablieferte, ohne zuvor gebeichtet und Widersachern die Hand zur Versöhnung geboten habe”(Jaxtheimer,B. 1982, S. 90). Bestechend erscheint auch die ungeheure Naturalistik gotischer Laubwerk-Verzierungen. Hier kommt die ganze Ehrfurcht vor jeglichen Naturgebilden jener Zeit zum Ausdruck.

3. Das Handwerk zur Zeit der Gotik

Die starke Mauer romanischer Zeit weicht in der Gotik dem Skelettbau. Dadurch entwickelt sich ein gänzlich anderer Kräfteverlauf im Gesamtgebäude. Die Konstruktionen werden komplizierter. Das Zusammenspiel der Gewerke wird elementarer Bestandteil gotischer Baukunst. Während der wichtigste Handwerker in der romanischen Bautradition noch der Maurer war, geht diese Führungsrolle in der Gotik auf die Steinmetze und Bildhauer über. Die Organisation der Arbeiten wurde durch ein komplexes System von Bauhütten mit autonomer Verwaltung gesichert. Zur Bruderschaft der Bauhütten gehörten nur Steinmetzen, Bildhauer und Bautechniker. Andere für den Bau tätige Werkleute wurden nicht in die Bruderschaft aufgenommen. Die Bruderschaft behielt die Oberleitung und sorgte so für ein geordnetes Zusammenwirken aller Beteiligten. Die technische Oberleitung der Hütte lag in den Händen des Werkmeisters. Er entwarf den Bau, richtete die Arbeitsschablonen, überwachte den Baufortschritt und legte selbst Hand an bildhauerisch besonders hervorgehobene Stücke. Er allein war dem Bauherrn verantwortlich. Alle anderen Hüttenmitglieder unterstanden ihm. Oft war dem Baumeister ein “Verwaltungsmitarbeiter” zu Seite gestellt, der ihn von Verwaltungsaufgaben entlasten sollte. Diese übernahmen die finanziellen Angelegenheiten, die Vertragsgestaltungen, die Materialbeschaffung in finanzieller Hinsicht und die Lieferung von Baustoffen. Selbst ein Sozial-System war in die Organisation der Hütten integriert. Ein zehntel des Lohnes führten die Hüttenmitglieder in eine Kasse ab, die für soziale Härtefälle und Wegegeld der Wandergesellen in Anspruch genommen wurde. Die Ausbildung entsprechender Arbeitskräfte erfolgte mitunter auch im Hüttenverband. Das Einstellungsalter betrug im allgemeinen 14 Jahre. Die Ausbildungsdauer eines Steinmetzelehrlings betrug fünf Jahre bis zum Freispruch. Zugleich erhielt er ein nur ihm gehörendes Zeichen, welches fortan seine Arbeiten prägte. Dieses Zeichen diente dem Meister der Zuordnung der Werkstücke zu den Gesellen, damit der entsprechende Lohn zugeteilt werden konnte. Die Arbeit wurde nach Stückzahlen oder Stunden entlohnt. Ohne die Organisation der Bauhütte sind die großen gotischen Bauwerke kaum denkbar, zumal die Bauzeiten mitunter beachtlich waren.

4. Die Backsteingotik

4.1 Entstehung der Sonderform der “Backsteingotik”

Entlang der Ostseeküste findet sich eine Sonderform gotischer Architektur: die Backsteingotik. Dieser Sonderweg ist verschiedenen historischen und regionalen Gegebenheiten geschuldet. Die Erscheinungsform großer Sakralbauten ist hier fast ausschließlich von der Gotik geprägt. Nur wenige romanische Kirchen zeichnen die Landschaft. Die Landstriche wurden nur allmählich besiedelt Die Hoffnung auf die Missionierung von Heiden, die Ausweitung des kaiserlichen Reiches, aber auch die Aussicht auf Handelsgewinne und Existenzgründungen als Handwerker oder Bauern führten im Laufe des 12. und 13. Jahrhundert etwa eine halbe Million Menschen in den Osten. Bauern- und Bürgerfamilien, Patrizier und Adelsgeschlechter wuchsen heran, deren Vorfahren aus Flandern, Holland, Niedersachsen, Westfalen, Lothringen, Franken und anderen Regionen des Reiches kamen. Oft zogen die Nachfahren weiter nach Osten. Der Bevölkerungsüberschuss traf auf fruchtbare Landschaften, teils dünn von Slawen bewohnt, teils menschenleer. Es gab vor 1200 wenig Bedarf in dem dünnbesiedelten Gebiet an Monumentalbauten. Beim Kirchenbau behalf man sich ehedem mit Holz, zumal der Werkstoff Haustein in Nord- und Ostdeutschland kaum zur Verfügung stand. Mit dem Wunsch nach größeren Gotteshäusern und der Errichtung ebenso großer Profanbauten besann man sich auf den Werkstoff Backstein. Lehm und Ton war überall reichlich vorhanden. Gotische Bauformen fanden in dieser Zeit im deutschen Bereich immer mehr Einfluss, nur war es nicht möglich, sie ohne weiteres in Backstein so auszuführen, wie sie sich in Frankreich mit dem Haustein entwickelt hatten. Zudem lag die im Westen bereits so hochgezüchtete Bauweise dem Menschenschlag in den Norddeutschen Landstrichen ganz und gar nicht. Sie waren seefahrende Kaufleute oder Kolonisatoren, die es ständig mit noch ungestaltetem Neuland zu tun hatten. In allem mussten sie sich zunächst auf das Notwendige und Solide beschränken.

4.1.1 Der Werkstoff Backstein

Der Backstein besteht aus Tonerde, die praktisch überall vorkommt. “Trocken-” oder “Luftziegel” sind bereits seit Jahrtausenden benutzt worden, z.B. im Orient. Diese Luftziegel sind nicht sehr druckfest und weichen im Regen auf. Werden sie aber im Ofen einer Hitze von bis zu 1000 Grad ausgesetzt, sintern sie zu festen, beständigen Stücken zusammen, dem Backstein. Sie dürfen nicht allzu groß sein, sonst brennen sie im inneren nicht “gar”. Diese Bedingungen haben die Größe des Backsteins seit Alters her bestimmt. Der Maurer kann den Stein somit aber auch gut mit einer Hand fassen, während er mit der Kelle in der anderen Hand den Mörtel aufnimmt. Das Ziegelrot des Backsteins hängt vom Eisengehalt des Rohstoffes ab. Beim Brand entsteht aus gelblichem Eisenhydroxid das rote Eisenoxid.

Diese Eigenarten des Werkstoffes ergaben die charakteristischen Merkmale der Backsteinbauten

- 1.) unabhängig von der Größe der Bauten bestehen sie aus nahezu gleich großen Elementen und 2.) kommt die Mörtelfuge beim geringen Ausmaß der Steine viel stärker zur Geltung als bei Hausteinen. Das Ergebnis ist die bekannte Backsteinmauer-Struktur aus roten Rechteckflächen und grau-weißen Linien.

4.2 Die Blüte der Backsteingotik

Das einflussreichste Bündnis im Ostseeraum wurde die Hanse. Ein dichtes Netz von Handelsbeziehungen überspannte, rasch wachsend, seit dem 12. Jahrhundert diese Gebiete. Ende des 13. Jahrhunderts vollzog sich der Wandel der Kaufmanns-Hanse zur Städte-Hanse, an deren Spitze die Stadt Lübeck stand. Der Reichtum verlieh den Stadtoberen die Möglichkeiten, bei dem Bau neuer Gebäude die Repräsentativität als Kriterium zu berücksichtigen. Die jeweils erstgebaute Kirche am Ort wird der Mutter Gottes, Maria, gewidmet. In den Hansestädten wird der Schutzheiligen der Seefahrer, Nikolaus, zum Patron der zweiten Kirche .Den Backsteinbauten der Hansestädte ist die kaufmännische Umsicht, niemals alle Reserven zu erschöpfen, anzusehen. Sind sie doch im Vergleich mit den anderen, zu dieser Zeit entstehenden Bauwerken der Gotik, eher nüchtern gestaltet und lange nicht von dem schwelgerischen Schmuck zum Beispiel französischer Sakralbauten geprägt. Letztlich ließ der Baustoff keine allzu große Differenzierung zu. Um 1250 beginnt der Bau der Marienkirche in Lübeck, etwa zeitgleich mit dem Bau des Kölner Doms. Die Marienkirche war zwar nur eine Pfarrkirche, doch galt sie den Bürgern ebensoviel wie ein Dom und als ganz persönlicher Besitz. Die Kirche gilt als nüchtern und frei von allem Überflüssigen - genau wie die Bewohner der Stadt - und wurde zum Urbild der Kirchen hansischer Prägung, das nur wenig abgewandelt worden ist.

Im Hinterland der Ostsee stand die Backsteingotik vornehmlich unter dem Einfluss der Zisterzienser. Die Ordensverfassung der Mönche legte diesen die Gestaltung ihrer Bauwerke auf - ein gewisses Maß an Strenge und Ernsthaftigkeit ist den Zisterzienser-Klöstern der Ostseeküste eigen. Jeglicher Prunk fehlt ihnen, genauso wie sie keine Türme besitzen. Die handwerkliche Sorgfalt, mit denen die Mönche das Material Backstein einzusetzen wussten, ist bei der Betrachtung der Klöster auch heute noch beeindruckend. So gilt die (Zisterzienser-) Klosterkirche in Doberan zwar von der Lübecker Marienkirche abgeleitet, durch architektonische Variationen aber als das schönste Werk deutscher Backsteingotik des 14. Jahrhunderts.

5.Die Stadt Wismar

Wismar ist nicht einem Dorf entwachsen, sondern im Rahmen der osteuropäischen Expansion in Eile gegründet worden. Die ersten Wismarer kamen aus Mecklenburg, Holstein, Niedersachsen und Westfalen. Der Name geht der frühen Siedlung auf den Bach „aqua Wissemara“ zurück, der östlich der Stadt in die Ostsee mündet. Das mittelalterliche Wismar wurde, ob seiner geographischen Lage, schon bald eine bekannte See- und Handelsstadt. Bereits 1259 verband sich Wismar zum Schutze des Seehandels mit Lübeck und Rostock. 1283 traten diesem Bund die Städte Greifswald, Stralsund, Stettin, Demmin und Anklam bei - der „Bund wendischer Hansestädte“ war somit entstanden. Wismar wurde eine reiche Stadt.

5.1 Die Kirchen der Stadt Wismar

In Wismar wird das Vorbild der Lübecker Marienkirche zweimal binnen eines Jahrhunderts aufgegriffen. Mit dem Baumeister Johann Grote schließt der Rat der Stadt 1339 einen Vertrag für den Neubau der Pfarrkirche St. Marien. Bereits 1353 kann der Chor geweiht werden. Das Langhaus wird an der Stelle der vorhergehenden Hallenkirche errichtet. Um die Jahrhundertwende erhält die Marienkirche Vorhallen an der Nord- und Südseite mit je einem zentralen Pfeiler. Der einzelne Turm entspricht dem gotischen Hallenkirchenschema. Nur er ist nach den Zerstörungen 1945 und der Sprengung der Ruine des Schiffes 1960 noch erhalten und dient als ein Wahrzeichen der Stadt Wismar, das von weither schon sichtbar ist.

Jenseits des Flüsschens Grube, das in den alten Hafen von Wismar mündet, wird bereits im 13. Jahrhundert eine zweite Pfarrkirche errichtet - die Nikolaikirche (Abb. 6).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.6: Blick auf St.Nikolai über den Dächern der Altstadt von Wismar. Die eindrucksvolle Größe der Kirche und die ungünstigen Proportionen durch den fehlenden Turmhelm sind in dieser Aufnahme gut nachzuvollziehen.

Die Stadtgewaltigen hatten eine Wiederholung des Baustils der Marienkirche im Sinn. 1381 wird dafür mit Heinrich von Bremen ein Vertrag geschlossen (Abb.7). Um 1415 ist der Chor fertiggestellt. Hermann von Münster, der auch an der Georgenkirche in Wismar tätig ist, und Werkmeister Peter Stolp errichten zwischen 1435 und 1459 das Langhaus, das anschließend eingewölbt wird. Erst 1508 ist der hohe Turmhelm vollendet.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6:

Grundriß der St. Nikolai-Kirche, Wismar

Obwohl St.Nikolai als Schutzheiliger der Seefahrer gilt, orientierten sich die mittelalterlichen Fischer und Kauffahrer fast ausschließlich am eher entstandenen Turm der Marienkirche. So mutet es schon fast unheimlich an, als die Turmspitze am 08. Dezember 1703 während eines Sturmes einstürzt und die Gewölbe des Mittelschiffs und Teile der Inneneinrichtung zerstörte. Letztere wurde später im Barockstil ersetzt (Abb.8).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.8: Blick in das Hauptschiff der Kirche St.Nikolai zu Wismar in Richtung Orgel. An der Decke sind die nach dem Einsturz des Turmes im Barock-Stil restaurierten Gewölbe zu sehen.

Der Turm hingegen wurde nie erneuert. So wirkt die Kirche heute massig - ohne Turmspitze und mit hohem Schiff. Die Höhe des Mittelschiffs ist mit 37 m fast auf Lübecker Maß gesteigert. Die dritte Wismarer Kirche im Stile der norddeutschen Backsteingotik ist die 1404 begonnene und 1490 vollendete Georgenkirche. Die Kirche wurde bereits ohne Turm geplant. Fraglich ist heute, ob die finanziellen Ressourcen nicht ausreichten oder aber die Entscheidung von der Nähe zur Marienkirche mit ihrem hohen Turm geprägt war. Demnach sollen die Stadtoberen entschieden haben, dass ein zweiter Kirchturm in unmittelbarer Nachbarschaft zur Marienkirche deren Turm nicht mehr zur Geltung kommen lassen würde.. Auch die Georgenkirche hat den zweiten Weltkrieg nur schwer beschädigt überstanden. Nachdem die Ruine nahezu 50 Jahre ungenutzt mitten in der Stadt stand, wird sie nun mit privaten Mitteln und dem Engagement der „Stiftung Denkmalschutz“ wieder hergestellt. In diesem Zusammenhang sei auf eine Kuriosität hingewiesen: Die großen Wismarer Kirchen sind im Besitz der Stadt (bereits seit Jahrhunderten). Damit hatten die Stadtoberen das Privileg, ohne Einflussnahme der Kirche zu entscheiden, wer der Gemeinde jeweils vorstand. Daran hat sich auch heute noch nichts geändert. Im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Georgenkirche würde die Stadt aber gerne selbe bereits der Kirche überantworten, diese ist aus nachvollziehbaren Gründen aber nicht bereit dazu. Somit wird das Gotteshaus wohl erst nach den umfangreichen Restaurierungsarbeiten an die Kirche übergeben.

Literatur

- Bandmann, Günter; Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger; 1994, Gebr. Mann Verlag, Berlin

- Böker, Hans; Die mittelalterliche Backsteinarchitektur Norddeutschlands; 1988, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt

- Hardenberg, Harry und Crummenerl, Rainer; Wismar; 1985, VEB F.A.Brockhaus Verlag Leipzig

- Hofrichter, Hartmut; Architektur des Mittelalters; 1993, Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig/ Wiesbaden

- Jaxtheimer, Bodo; Knaurs Stilkunde Gotik; 1982, Droemer Knaur München /Zürich · Pfefferkorn, Rudolf; Norddeutsche Backsteingotik; 1984, Hans Christians Verlag Hamburg

- Schäfke, Werner; Mittelalterliche Backsteinarchitektur; 1995, Köln:DuMont

Abbildungsnachweis

Abbildung 1: Jaxtheimer, Seite 29

Abbildung 2: Hofrichter, Tafel MA 68

Abbildung 3: Jaxtheimer, Seite 40f

Abbildung 4a und b: Jaxtheimer, Seite76f

Abbildung 5: Jaxtheimer, Seite 87

Abbildung 6:Verlag Ludwig, Kiel, Nr.: 148

Abbildung 7: Böker, Seite 255

Abbildung 8: Verlag Ludwig, Kiel, Nr.:150

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Mittelalterliche Backsteingotik
Autor
Jahr
2001
Seiten
18
Katalognummer
V104787
ISBN (eBook)
9783640030934
Dateigröße
479 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine kulturhistorische und regionalstrukturanalytische Betrachtung mittelalterlicher Bauweisen am Beispiel gotischer Sakralbauten.
Schlagworte
Mittelalterliche, Backsteingotik
Arbeit zitieren
Burkhardt Zieger (Autor:in), 2001, Mittelalterliche Backsteingotik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104787

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