Schwerbehindertenrecht


Hausarbeit, 2000

59 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG:

2 DAS AKTUELLE SCHWERBEHINDERTENGESETZ
2.1 DIE STELLUNG DES SCHWERBEHINDERTENGESETZES IN DER RECHTSORDNUNG
2.2 WER GILT ALS SCHWERBEHINDERTER?
2.2.1 Statistik:
2.2.2 Kommentar:
2.3 SCHWERBEHINDERTE AM ARBEITSPLATZ
2.3.1 Die Beschäftigungspflicht:
2.3.2 Der Kündigungsschutz und Zusatzurlaub
2.3.3 Die Schwerbehindertenvertretung
2.4 NACHTEILSAUSGLEICHE FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN
2.4.1 Steuerpauschalen:
2.4.2 Einzelnachweis:
2.4.3 Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle
2.4.4 Erleichterungen im öffentlichen Personenverkehr
2.4.5 Kraftfahrzeugsteuer:
2.4.6 Statistik und Kommentar:
2.5 ZUR ARBEITSLOSIGKEIT VON SCHWERBEHINDERTEN:
2.6 ZUR ARBEITSMARKTSITUATION VON SCHWERBEHINDERTEN FRAUEN
2.7 ZUSAMMENFASSUNG UND KOMMENTAR:
2.8 ZUSAMMENFASSUNG UND KOMMENTAR IM HINBLICK AUF GESELLSCHAFTLICHE NORMEN:

3 ZUR HISTORISCHEN ENTWICKLUNG DES SCHWERBEHINDERTENRECHTS
3.1 WEIMARER REPUBLIK (1918-1933)
3.1.1 Ausgangslage:
3.1.2 Gesetzliche Grundlagen:
3.1.3 Personenkreis:
3.1.4 Zur Kategorie "Normalität":
3.1.5 Zur Kategorie "Geschlecht":
3.2 NATIONALSOZIALISMUS (1933-1945)
3.2.1 Ausgangslage:
3.2.2 Gesetzliche Grundlagen:
3.2.3 Personenkreis:
3.2.4 Zur Kategorie "Normalität":
3.2.5 Zur Kategorie "Geschlecht":
3.3 BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND (AB 1949) - DAS SCHWERBESCHÄDIGTENGESETZ VON 1953:
3.3.1 Ausgangslage:
3.3.2 Gesetzliche Grundlagen:
3.3.3 Personenkreis:
3.3.4 Zur Kategorie "Normalität":
3.3.5 Zur Kategorie "Geschlecht":
3.4 NEUFASSUNG DES SBG VON 1961:
3.4.1 Ausgangslage:
3.4.2 Gesetzliche Grundlagen:
3.4.3 Personenkreis:
3.4.4 Zur Kategorie "Normalität":
3.4.5 Zur Kategorie "Geschlecht":
3.5 DAS SCHWERBEHINDERTENGESETZ VON 1974:
3.5.1 Ausgangslage:
3.5.2 Gesetzliche Grundlagen:
3.5.3 Personenkreis:
3.5.4 Zur Kategorie "Normalität":
3.5.5 Zur Kategorie "Geschlecht":
3.6 DAS SCHWERBEHINDERTENGESETZ VON 1986:
3.6.1 Ausgangslage:
3.6.2 Gesetzliche Grundlagen:
3.6.3 Personenkreis:
3.6.5 Zur Kategorie "Geschlecht":

4 ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT:

5 LITERATURVERZEICHNIS:

1 Einleitung:

Seit 1974 existieren in der Bundesrepublik Deutschland die sozialrechtlichen Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes. Trotz Modifikationen und diversen Novellierungen ist die wesentliche Substanz des Gesetzes unverändert geblieben. Das aus dem Schwerbeschädigtenrecht entstandene Gesetzeswerk sollte behinderten Menschen unabhängig von der Ursache ihrer Behinderung einen rechtlichen Rahmen zur gesellschaftlichen und beruflichen Integration gewährleisten. Aus den Begriffen der ‘Kriegsbeschädigung’, ‘Kriegsversehrung’, der ‘Schwerbeschädigung’ entstand der kausalitätsneutrale Begriff der ‘Schwerbehinderung’.

Nach 25 Jahren ist es an der Zeit, sich näher mit den konkreten Wirkungskreisen dieses Gesetzes auseinanderzusetzen: welche aktuellen rechtlichen Bestimmungen gibt es; wie wirken sie sich auf die Betroffenen aus, und wie sieht die Lebensrealität, der alltägliche praktische Vollzug der fixierten rechtlichen Vorgaben aus? Hat sich erfüllt, was sich die Betroffenen von dem Gesetzeswerk versprochen haben?

Im ersten Teil des vorliegenden Werkes werde ich mich deshalb ausführlich mit den aktuellen rechtlichen Bestimmungen beschäftigen. Im Anschluß an die einzelnen Aspekte soll erörtert werden, inwieweit sich das Recht in der Praxis bewährt und vollzieht. In einem sich anschließenden Kommentar nimmt sich der Autor die Freiheit einer Bewertung und Einordnung der Gesetzespraxis hinsichtlich normativer und normierender Vorstellungen.

Im zweiten Teil der Ausarbeitung soll dargestellt werden, wie sich die rechtlichen Bestimmungen für behinderte Menschen in diesem Jahrhundert in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg entwickelt haben. Dabei soll v.a. berücksichtigt werden, inwieweit gesellschaftliche und soziale Normen sich auf zentrale Bestimmungen des Behindertenrechts ausgewirkt haben. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf geschlechtsspezifischen Implikationen der jeweiligen Gesetze geworfen werden.

Zur Literaturlage

Bei der Recherche zum Thema "Schwerbehindertenrecht" wird sehr schnell deutlich, daß es vielfältige Möglichkeiten gibt, sich umfassend und nachhaltig zu informieren. Zu den Gesetzestexten liegen zahlreiche Kommentare vor, welche die einzelnen juristischen Bestimmungen präzisieren und deren Relevanz für die Praxis erläutern.

Neben den herkömmlichen Recherchen an der Universität, welche ausreichende Ergebnisse zeitigten, nahm ich die Möglichkeit in Anspruch, mich an zahlreiche Institutionen zu wenden, welche sich professionell mit der Thematik auseinandersetzen. Als Ansprechpartner empfehlen sich hierbei insbesondere sämtliche Schwerbehindertenvertretungen (z.B. auch an der Universität Dortmund), die Hauptfürsorgestellen (z.B. Landschaftsverbände) und die Ministerien (des Bundes und des Landes NRW). Von allen Seiten ist mir nützliche und ergiebige Unterstützung zuteil geworden. Kostenlose Informationsbroschüren können angefordert werden und auch im Internet finden sich zahlreiche Web-Seiten, die sich mit der Thematik befassen. Ein besonders gutes Medium zur Recherche zum Thema ‘Behinderung’ bietet die sogenannte REHADAT, ein Informationssystem zur beruflichen Rehabilitation, welches z.B. vom Bundesministerium für Arbeit kostenlos auf CD-Rom zur Verfügung gestellt wird. Dort finden sich gezielte, thematisch sortierte Literatur- und Medienangebote. Technische Hilfen für behinderte Menschen werden vorgestellt und an Beispielen erörtert. Darüber hinaus finden sich auf der REHADAT Seminarangebote, Informationen zu rechtlichen Fragen, Adressen und Forschungsberichte.

Trotz der Tatsache, daß zum Thema "Schwerbehindertenrecht" ausreichend Informationsmaterial und Literatur zur Verfügung steht, wird in sämtlichen Publikationen hervorgehoben, daß es sich um eine komplexe, selbst für Experten kaum durchschaubare Materie handelt (vgl. Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Hauptfürsorgestellen 1990, 26ff). Das liegt v.a. daran, daß es bis heute immer noch nicht gelungen ist, ein alle Bereiche der Betroffenen umfassendes Gesetzeswerk vorzulegen (z.B. Altersvorsorge, Krankheit, Unfall, berufliche Eingliederung, Freizeit, Wohnen etc.).

Im folgenden soll dieser Tatsache dadurch Rechnung getragen werden, daß die Bereiche, welche nicht unmittelbar im Schwerbehindertengesetz umrissen werden, aus Gründen der Übersichtlichkeit aus dieser Darstellung ausgeklammert bleiben. Selbstverständlich werden sich an entsprechenden Stellen Verweise auf weitere Fachliteratur finden.

Eine völlig andere Situation stellt sich dem interessierten Leser hinsichtlich geschlechtsspezifischer Implikationen des Schwerbehindertenrechts und seiner Entwicklung. Zwar gibt es mittlerweile einige Publikationen, welche geschlechtsspezifische Fragestellungen, v.a. bei Frauen, thematisieren, eine weitergehende Studie, welche unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten die Entwicklung des Schwerbehindertenrechts in Deutschland thematisiert, konnte im Rahmen dieser Werksarbeit nicht gefunden werden.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Literaturlage zur Thematik "Schwerbehindertenrecht" als gut zu bezeichnen ist (vgl. Literaturliste), wobei selbst die übersichtlichsten Darstellungen für den Laien schwer verständlich bleiben. Für behinderte Menschen, die im besonderen Maße darauf angewiesen sind, ihre Rechte und Ansprüche zu kennen, um auf sie im Alltag zurückgreifen zu können, wirkt sich diese Undurchschaubarkeit und Komplexität der rechtlichen Zuständigkeiten besonders nachhaltig und nachteilig aus. Das kann man aber weniger der Fachöffentlichkeit anlasten, welche unglaublich bemüht ist, die verworrene Gesetzeslage zu strukturieren, als vielmehr den ParlamentarierInnen, welche sich für die herrschende Gesetzeslage verantwortlich zeichnen.

Geschlechtsspezifische Dimensionen der Gesetzgebung und die Entwicklung des Schwerbehindertenrechts unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten werden von der Forschung und Politik nach wie vor vernachlässigt.

2 Das aktuelle Schwerbehindertengesetz (in der Fassung von 1986, zuletzt geändert 19. Dezember 1997)

2.1 Die Stellung des Schwerbehindertengesetzes in der Rechtsordnung

Beim Schwerbehindertengesetz handelt es sich um einen zentralen Teil des Schwerbehindertenrechtes. Das Schwerbehindertenrecht ist jedoch noch umfassender festgeschrieben und umfaßt neben dem Schwerbehindertengesetz, welches v.a. Schutzcharakter besitzt, die Reichsversicherungsordnung (RVO), das Arbeitsförderungsgesetz und das Bundessozialhilfegesetz.

Zentrale Rechte und Pflichten der Schwerbehinderten beurteilen sich aber v.a. nach dem Schwerbehindertengesetz. Das Schwerbehindertengesetz will Hilfe zur beruflichen und gesellschaftlichen Eingliederung schwerbehinderter Menschen leisten. Zentrale Bestimmungen beziehen sich daher auf besondere Rechte für arbeitende oder Arbeit suchende Menschen mit einer Schwerbehinderung (vgl. Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Hauptfürsorgestellen 1990, 9ff.). Dabei sollen bestehende Arbeitsverhältnisse gesichert und Voraussetzungen für die Einstellung von Schwerbehinderten geschaffen werden (ebd. 22).

Neben diesen v.a. die Schwerbehinderten, die noch im Erwerbsleben stehen, bzw. auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind, betreffenden Maßgaben, gibt es beispielsweise mit dem §59 - Pflicht zur unentgeltlichen Beförderung, Anspruch auf Erstattung der Fahrgeldausfälle - Regelungen, welche unabhängig der beruflichen Rehabilitation wirksam sind.

Im folgenden sollen die zentralen Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes herausgearbeitet werden, wobei einzelne Passagen näherer Erläuterung und bisweilen eines Kommentars bedürfen.

2.2 Wer gilt als Schwerbehinderter?

Nach §1 SchwbG sind Schwerbehinderte im Sinne des Schwerbehindertengesetz Personen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50, sofern sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des §7 Abs.1 SchwbG rechtmäßig im Geltungsbereich des Gesetzes, also in der Bundesrepublik Deutschland haben. Kraft des Gesetzes gilt dies für alle Personen, die die skizzierten Voraussetzungen erfüllen. Da die meisten Behinderungen nicht sichtbar und eindeutig erkennbar sind, muß der Grad der Behinderung (GdB) amtlich festgestellt werden. Dafür sind die Versorgungsämter zuständig. Das SchwbG (§3) definiert Schwerbehinderung als eine Funktionseinbuße, die regelwidrig, d.h. für das jeweilige Lebensalter atypisch, also nicht altersbedingt, ist und nicht nur vorübergehend, d.h. länger als sechs Monate besteht. Die Funktionseinbuße kann körperlicher, geistiger oder seelischer Art sein. Der genaue Grad der Behinderung wird in einem amtsärzlichen Gutachten festgelegt, wobei sich der Arzt streng an die Vorgaben des Ministeriums (Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz) halten muß. Wichtig erscheint auch, daß der Grad der Behinderung nicht additiv im Sinne einer Summe von funktionellen Störungen und Behinderungen ermittelt wird, sondern es wird ein qualitativer Gesamtgrad der Behinderung festgelegt. Der Grad der Behinderung wird in Zehnerschritten (z.B. 60, 70) beziffert. Neben den Schwerbehinderten, welche einen Behinderungsgrad von 50 oder mehr haben, gibt es die Möglichkeit für Behinderte, sich ab einem Behinderungsgrad von 30 und mehr, diesen gleichstellen zu lassen (sogenannte Gleichgestellte). Eine Gleichstellung wird dann erfolgen, wenn der Antragssteller infolge seiner Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des §7 Abs.1 nicht erlangen oder behalten kann. In diesem Fall ist das Arbeitsamt zuständig.

Personen, welche als schwerbehindert gelten, erhalten vom Versorgungsamt einen rechtsfähigen Bescheid sowie einen Schwerbehindertenausweis. Der Ausweis (§4 Abs.5 SchwbG) ist meistens befristet (Höchstdauer 15 Jahre; vgl. Landschaftsverband Westfalen-Lippe 1997, 52f.), enthält keine medizinischen Daten, aber kann mit bestimmten Merkzeichen ausgestaltet sein, welche Rückschlüsse auf bestimmte Behinderungsarten zulassen. Folgende Merkzeichen gibt es: G= gehbehindert; a.G.= außergewöhnlich gehbehindert; BL= blind; H= hilflos; B= ständige Begleitung; RF= Befreiung von den Rundfunkgebühren. Der Ausweis dient zum einen dazu, die Schwerbehinderteneigenschaft nachzuweisen, und ermöglicht es zum anderen, Nachteilsausgleiche in Anspruch zu nehmen (z.B. Vergünstigungen im öffentlichen Nahverkehr, Kfz-Steuer, Steuerpauschalen etc.).

Übersicht der Merkzeichen (vgl. Der Beauftragte der Bundesregierung 1998, 24f.):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1

2.2.1 Statistik:

Im vierten Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation, welcher der Öffentlichkeit im Januar 1998 vorgestellt wurde, geht die Regierung von einer Gesamtzahl von etwa 6,6 Millionen Schwerbehinderten (Stand Oktober 1997) aus. Damit bildet diese, in sich ausgesprochen heterogene Gruppe, einen Anteil von etwas über 8% der Gesamtpopulation der Bundesrepublik. Es wird aber ausdrücklich darauf verwiesen, daß bestimmte Faktoren wie z.B. die Tatsache, daß nicht alle Anspruchsberechtigten ihren Schwerbehindertenstatus feststellen lassen, die Statistik verfälschen können (vgl. BMA 1998, S.2f.). Von diesen 6,6 Mio. Schwerbehinderten leben rund 5,7 Mio. in den alten, 919000 in den neuen Bundesländern. Wenn man auf den Anteil Schwerbehinderter an den einzelnen Altersgruppen der Bevölkerung schaut, zeigt sich, daß in der Gruppe bis 34 Jahre weniger als 2% schwerbehindert sind, während - nicht überraschend - die Gruppe der über 64jährigen mehr als 26% Schwerbehinderte aufweist (vgl. Tabelle). Der Anteil Schwerbehinderter wächst kontinuierlich mit zunehmendem Alter. “49,8% der Schwerbehinderten waren älter als 65 Jahre; der Anteil der unter 25-jährigen betrug lediglich 3,8%” (Wagner 1996, 80).

Tabelle einfügen...

Zur geschlechtsspezifischen Dimension gibt es nur ungenaue Angaben der Bundesregierung. Sie schätzt den Anteil der Frauen mit Behinderungen auf ca. 5% (vgl. BMA 1998, 104). Für die Gruppe der Schwerbehinderten liegen keine expliziten Daten vor. Die Regierung verweist auf einen Bericht, der sich ausdrücklich mit der Problematik von Frauen mit einer Behinderung auseinandersetzen soll. Dem Verfasser dieser Arbeit liegt dieser Bericht bislang nicht vor. Nähere Angaben finden sich in dieser Arbeit aber in dem Kapitel über die Integration von Schwerbehinderten in den Arbeitsmarkt (vgl. Kapitel 2.6).

Lediglich für das Rheinland liegen mir aktuelle Daten vor, welche sich evtl. partiell auf die gesamte Bundesrepublik übertragen lassen. Danach liegt der Männeranteil an den Schwerbehinderten im Rheinland bei 51,6%, für Gesamt- NRW werden für 1997 52,3% konstatiert. Signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es v.a. in der Gruppe der ab 60jährigen. Mögliche Ursachen könnten die unterschiedlichen Erwerbsquoten von Frauen und Männern sein, so daß sich beim Übergang vom Beruf in den Ruhestand proportional mehr Männer als Frauen um den Status als Schwerbehinderter bemühen, da dieser Vergünstigungen und das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben erleichtert.

2.2.2 Kommentar:

Die Zahl der Schwerbehinderten scheint sehr hoch zu sein. Acht Prozent der Gesamtbevölkerung, das ist weitaus mehr als man allgemein vermuten würde. Es gibt aber zwei entscheidende Punkte, welche die subjektive Wahrnehmung beeinflussen: Behinderung wird auch heute noch gemeinhin als sichtbare, sich v.a. körperlich äußernde Lebensbedingung betrachtet (vgl. Neumann 1997, 21). Tatsächlich stellt bei den Behinderungsarten die Gruppe der Schwerbehinderten mit Beeinträchtigungen der Funktion innerer Organe die größte Untergruppe dar (vgl. Landschaftsverband Rheinland 1999, 11). Ein zweiter Punkt ist die Tatsache, daß viele ältere Menschen, die zahlenmäßig die größte Gruppe der Schwerbehinderten stellen, von der Bevölkerung nicht als behindert betrachtet werden, da ihre ‘Behinderung’ dem natürlichen Alterungsprozeß zugeschrieben wird.

Entgegen der Absicht des Schwerbehindertengesetzes altersbedingte Normabweichungen nicht als Behinderung zu etikettieren, erscheinen die tatsächlichen Quoten von einem Drittel der über 60-Jährigen, die den Schwerbehindertenstatus innehaben, dafür zu sprechen, daß in der Praxis eine Orientierung an altersabhängigen Faktoren wie Leistungsfähigkeit, Funktionalität und Vitalität Einzug gehalten hat.

2.3 Schwerbehinderte am Arbeitsplatz

Zentrales Anliegen des Schwerbehindertengesetzes ist es, den Betroffenen ihrer Behinderung adäquate Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Natürlich geschieht dies nicht unmittelbar kraft des Gesetzes, sondern über bestimmte arbeitsrechtliche Bestimmungen, welche sowohl für private als auch öffentliche Arbeitgeber gelten. Dabei legt der Gesetzgeber den Arbeitgebern fundamentale Verpflichtungen auf, welche im Gesetzestext detailliert beschrieben werden.

2.3.1 Die Beschäftigungspflicht:

Jeder Arbeitgeber mit mehr als 15 Arbeitsplätzen, d.h. mit 16 oder mehr, ist verpflichtet nachzuweisen, daß mindestens 6% seiner Arbeitsplätze für schwerbehinderte Arbeitnehmer zur Verfügung stehen (vgl. §5 SchwbG). Die Beschäftigungsquote für Arbeitgeber der öffentlichen Hand kann höher beziffert werden als die der privaten Wirtschaft. Bei der Berechnung von Pflichtplätzen gibt es die Möglichkeit der Mehrfachanrechnung. Bestimmte Schwerbehinderte, die besonders schwer zu vermitteln sind (vgl. §10 Absatz 1 SchwbG) können ebenso wie schwerbehinderte Auszubildende (§10 Absatz 2 SchwbG) doppelt angerechnet werden. Durch diese Maßnahmen soll die berufliche Integration schwerbehinderter Jugendlicher und schwervermittelbarer Personen begünstigt werden. Für alle Arbeitgeber, welche ihrer Pflichtquote nicht nachkommen, gibt es die Möglichkeit, sich über eine Ausgleichsabgabe von ihrer Verpflichtung freizukaufen. Diese liegt derzeit bei 200,-DM pro Pflichtplatz und Monat (§11 Absatz 1 und 2 SchwbG). Durch diese Abgabe sollen zum einen Wettbewerbsnachteile für Unternehmen ausgeglichen werden, zum anderen sollen Arbeitgeber finanzielle Nachteile spüren, wenn sie ihrer gesetzlichen Verpflichtung nicht nachkommen. Arbeitgeber, welche Aufträge an Werkstätten für Behinderte vergeben, können bis zu 30% des Rechnungsbetrages auf die zu zahlende Ausgleichsabgabe anrechnen, wenn u.a. der Rechnungsbetrag nicht zu weniger als 30% von den in der Werkstatt behinderten Beschäftigten als Arbeitsleistung erbracht wird (vgl. Bethmann/Feldes et al. 1999, 98).

Die Ausgleichsabgabe wird von der Hauptfürsorgestelle erhoben. Sie darf nur für Zwecke der Arbeits- und Berufsförderung Schwerbehinderter sowie für Leistungen zur begleitenden Hilfe im Arbeits- und Berufsleben (§31 Absatz 1 SchwbG) verwendet werden. Diese Leistungen bestehen in der Regel aus Zuschüssen zur behindertengerechten Umgestaltung von Arbeitsplätzen und aus Hilfen zur adäquaten betrieblichen Umstrukturierung im Hinblick auf schwerbehinderte Arbeitnehmer (z.B. Toiletten etc.).

2.3.1.1 Statistik und Praxis:

Schaut man sich die praktische Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen an, so läßt sich feststellen, daß wesentliche Aspekte des Gesetzes nicht erfüllen, was man sich in der Theorie von ihm versprochen hatte. Die Bundesregierung beziffert die tatsächliche Beschäftigungsquote für die Bundesrepublik auf 3,9% (Stand 1996; vgl. BMA 1998, 70). Somit ist die Quote seit 1982 (von 5,9%) kontinuierlich gesunken. Dabei fallen die Beschäftigungsquoten der öffentlichen Arbeitgeber (1996: 5,2%) deutlich höher aus als die der privaten Wirtschaft (1996: 3,5%). Der Bund als Arbeitgeber sollte dabei mit 6,9% (1996) eine Vorbildfunktion haben. Die private Wirtschaft scheint jedoch mit solchen Statistiken nicht zu beeindrucken zu sein. Für Oktober 1997 waren bei den Arbeitgebern 23,11 Mio. Arbeitsplätze vorhanden. Grundlage für die Berechnung der mit Schwerbehinderten zu besetzenden Pflichtplätze waren 20,62 Mio. Arbeitsplätze. Nach dem Pflichtsatz von 6% wären somit 1,24 Mio.

Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen gewesen. Tatsächlich waren 795.100 Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten, Gleichgestellten und sonstigen anrechnungsfähigen Personen besetzt (vgl. Landschaftsverband Rheinland 1999, 13). Es stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Arbeitgeber. “Ca. 75% der beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber kamen ihrer Beschäftigungspflicht nicht bzw. nicht genügend nach. Ein Drittel der Arbeitgeber beschäftigte überhaupt keinen Schwerbehinderten” (Cloerkes 1997, 49). In absoluten Zahlen drückt sich das Verhältnis wie folgt aus: 144.145 Arbeitgeber kommen ihrer Beschäftigungspflicht nicht oder nicht in vollem Umfang nach; 71227 Arbeitgeber beschäftigen überhaupt keine Schwerbehinderten (vgl. Bundesanstalt für Arbeit, Stand Oktober 1997, zitiert nach Landschaftsverband Rheinland 1999, 13). Nur 24.092 (10%) der Arbeitgeber haben alle oder sogar mehr Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten besetzt (ebd.).

Einen logischerweise gegenläufigen Trend verzeichnet die Bilanz der Ausgleichsabgabe, deren Aufkommen im Jahre 1996 rund 1,015 Mrd DM betrug. Das Volumen dieser Abgabe stieg seit dem Jahre 1987 von rund 300 Mio. DM über 975 Mio. DM auf diese Summe an. Das ist ein Anstieg von mehr als 300%.

2.3.1.2 Kommentar:

Wie die Kommentare der meisten Experten verzeichnen, wird die Ausgleichsabgabe als unzureichendes Instrument betrachtet, Arbeitgeber zur Beschäftigung von Schwerbehinderten zu bewegen (vgl. Cloerkes 1997, Wagner 1996, Niehaus 1994). Als eine Hauptursache wird gesehen, daß Betriebe, welche ihrer Beschäftigungspflicht nicht nachkommen, keinerlei Sanktionen drohen und die Ausgleichsabgabe ökonomisch leicht zu verkraften erscheint. Viele Arbeitgeber scheinen aber auch die bürokratischen Hindernisse, welche mit einer behindertengerechten Umstrukturierung von Arbeitsplätzen verbunden sind, zu überschätzen. In der Regel funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den interessierten Betrieben, dem Arbeitsamt und den Fürsorgestellen reibungslos und zügig (vgl. Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Hauptfürsorgestellen 1990). Es scheint einiges darauf hinzudeuten, daß traditionelle Vorurteile und Fehlinformationen oftmals Ursache für die skeptische bis ignorante Haltung der Arbeitgeber zu sein scheinen. Außerdem wird immer wieder festgestellt, daß es für Arbeitnehmer, welche bereits beschäftigt im Verlaufe des Berufsleben den Schwerbehindertenstatus erwerben, leichter ist, angemessene innerbetriebliche Unterstützung zu erfahren als das bei einer Neueinstellung von Schwerbehinderten der Fall ist. Vielfach ist von der Praxis die Rede, daß Bewerbungen von Schwerbehinderten entgegen der gesetzlichen Regelungen, gar nicht erst berücksichtigt werden und ohne Nennung von Gründen abgelehnt werden (vgl. Harmsen 1988, 60f).

2.3.2 Der Kündigungsschutz und Zusatzurlaub

Ein möglicher Grund dafür, daß es Arbeitgebern schwer fällt, Schwerbehinderte zu beschäftigen wird von Experten darin gesehen, daß unter ihnen die irrige Vorstellung zu herrschen scheint, daß man schwerbehinderte Arbeitnehmer nicht kündigen könne (vgl. Harmsen 1988, 94ff). Die gängige Redensart “die wirste nich mehr los” ist in diesem Sinne nur ein Beispiel für den unzureichenden Informationsstand der Arbeitgeber hinsichtlich der geltenden Rechtspraxis.

Tatsächlich steht Schwerbehinderten ein besonderer Kündigungsschutz (vgl. §15-22 SchwbG) zu. Dieser besteht darin, daß im Falle eines schwerbehinderten Arbeitnehmers weder eine ordentliche, noch eine außerordentliche Kündigung ohne Zustimmung der zuständigen Hauptfürsorgestelle rechtswirksam ausgesprochen werden kann (vgl. Schmidt 1997, 88ff.). Diese Regelung gilt nicht, wenn das Beschäftigungsverhältnis weniger als 6 Monate besteht. “Der Kündigungsschutz gilt auch für Personen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, sofern sie vom Arbeitsamt den Schwerbehinderten gleichgestellt worden sind” (Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes NRW 1998/1, 16). Der Kündigungsschutz gilt selbst dann, wenn der Schwerbehindertenstatus vom Versorgungsamt noch nicht festgestellt, ein Antrag aber bereits gestellt wurde. Das ist insbesondere dann wichtig, wenn schwerbehinderte Arbeitnehmer innerbetrieblich Informationen über ihre potentielle Kündigung bekommen und daraufhin einen formellen Antrag zur Feststellung des Schwerbehindertenstatus beim Versorgungsamt oder zuständigen Stellen einreichen.

Der Arbeitgeber ist bei jeder Kündigung, welche schwerbehinderte Arbeitnehmer betrifft, dazu verpflichtet, die Gründe für diesen Schritt dezidiert und schriftlich bei der Hauptfürsorgestelle vorzulegen. Diese wird sich sorgfältig mit den vorgetragenen Kündigungsgründen auseinandersetzen. In ihrer Entscheidung ist sie jedoch auf Grund der Vorschrift des §19 SchwbG insoweit eingeschränkt, als die Zustimmung zu erteilen ist, wenn der Betrieb oder Teile von ihm aufgelöst werden und der Schwerbehinderte keinen anderen geeigneten und zumutbaren Arbeitsplatz im Betrieb finden kann und wenn ihm ein anderer diesbezüglicher Arbeitsplatz gesichert ist. Sollten die Kündigungsgründe in irgendeinem Zusammenhang mit der Behinderung stehen, so sollte eine Kündigung nach Möglichkeit vermieden werden. Hierbei sind sowohl die wirtschaftlichen Interessen des Betriebes als auch die persönlichen Interessen des Schwerbehinderten zu berücksichtigen (vgl. Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Hauptfürsorgestellen 1990, 52f.). Wird eine Kündigung aus Gründen ausgesprochen, die nicht im Zusammenhang mit der Behinderung stehen, so wird dieser von den Hauptfürsorgestellen in der Regel stattgegeben. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der betroffene Arbeitnehmer sich im Betrieb illegal verhalten hat (persönliche Bereicherung u.ä.). Da es für Arbeitgeber relativ schwierig ist, eine Zustimmung von der Hauptfürsorgestelle zur Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters zu bekommen, versuchen einige Arbeitgeber über finanzielle Abfindungen eine einvernehmliche Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses zu erwirken (vgl. Harmsen 1988, 91). Hierbei ist äußerste Vorsicht geboten, da scheinbar hohe finanzielle Summen angesichts einer möglichen längerfristigen Arbeitslosigkeit schnell aufgebraucht sein können und es für Schwerbehinderte in der Tat schwierig ist, einen neuen adäquaten Arbeitsplatz zu finden. Deshalb sollte man sich als Betroffener unbedingt rechtlich beraten lassen und Informationen einholen.

Zusatzurlaub: Nach §47 SchwbG haben Schwerbehinderte Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr; verteilt sich die regelmäßige Arbeitszeit des Schwerbehinderten auf mehr oder weniger als fünf Arbeitstage in der Kalenderwoche, erhöht oder vermindert sich der Zusatzurlaub entsprechend (vgl. auch Schmidt 1997, 275f).

2.3.2.1 Statistik und Praxis:

“Die Zahl der Anträge auf Zustimmung zur Kündigung spiegelt die allgemeine konjunkturelle Lage wider. So ist die Zahl der Anträge in den alten Bundesländern von rund 15000 im Jahre 1990 auf rund 29000 im Jahr 1996 gestiegen. Endeten 1995 noch 81,5 v.H. aller Verfahren mit dem Arbeitsplatzverlust, waren dies 1996 geringfügig weniger, nämlich 79,4 v.H. In insgesamt etwa 7600 Fällen konnte der Arbeitsplatz mit Hilfe des Kündigungsschutzes erhalten werden” (BMA 1998, 75). Das heißt, daß nur für etwas mehr als 20% der gekündigten Schwerbehinderten der besondere Kündigungsschutz wirksam wurde. Im Bericht der Bundesregierung wird aber explizit darauf hingewiesen, daß sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer zunehmend einvernehmlich über einen Aufhebungsvertrag trennten.

2.3.2.2 Kommentar:

Angesichts der Fakten, daß nur ein Fünftel der gekündigten Schwerbehinderten über den besonderen Kündigungsschutz ihren Arbeitsplatz sichern können, scheint sich die Frage nach der Wirksamkeit der aktuellen Rechtslage zu stellen. Cloerkes (1997) fragt sich in der Tat, ob “sich überhaupt Unterschiede zur Arbeitsplatzsicherheit von nichtbehinderten Arbeitnehmern ergeben und die Nachteile der Regelung als ‘Einstellungshemmnis’ nicht größer sind als ihr Nutzen (ebd. 48). Andererseits denke ich, daß ein Wegfallen des besonderen Kündigungsschutzes die Tendenz zur Nichtbeschäftigung von Schwerbehinderten weiter beschleunigen würde. Da ein Großteil der Schwerbehinderten aus dem Arbeitsleben heraus diesen Status erhält, hat der Kündigungsschutz eine wichtige soziale Funktion, ohne die es für Arbeitgeber erheblich leichter wäre, Schwerbehinderte aus betrieblichen Gründen zu entlassen. Außerdem stellt der Kündigungsschutz für Schwerbehinderte auch in einvernehmlichen Aufhebungsverträgen ein buchstäblich bares Kapital für die Betroffenen dar. Kaum zu denken, daß die Abfindungen der Arbeitgeber ohne diese Regelungen so hoch ausfallen würden. Für arbeitslose Schwerbehinderte gelten diese Vorteile nicht. Aus ihrer Sicht stellt der besondere Kündigungsschutz in der Tat ein potentielles Einstellungshemmnis dar. Die geringe Zahl der vermittelten Arbeitsplätze für Schwerbehinderte (vgl. ) scheint ein Beweis dafür zu sein, daß sich der Kündigungsschutz zumindest nicht positiv auf die Einstellungspraxis auswirkt.

Leider trägt die Unwissenheit und der häufig geringe Informationsstand der Arbeitgeber dazu bei, daß sie Schwerbehinderte für unkündbar halten und sich deshalb scheuen, Arbeitsplätze mit ihnen zu besetzen. Einen wichtigen Beitrag in dieser Richtung leisten v.a. die Schwerbehindertenvertretungen in den Betrieben.

2.3.3 Die Schwerbehindertenvertretung

Laut §24 SchwbG muß in allen Betrieben oder Dienststellen, in denen wenigstens fünf oder mehr Schwerbehinderte (oder Gleichgestellte) nicht nur vorübergehend beschäftigt sind, in regelmäßigen Abständen (mindestens alle vier Jahre) eine Schwerbehindertenvertretung und ein/e Stellvertreter/in gewählt werden1. Wahlberechtigt sind alle im Betrieb beschäftigten Schwerbehinderten (das genaue Verfahren ist in der Wahlordnung Schwerbehindertengesetz (SchwbWO) festgeschrieben). Hauptaufgaben dieser Vertretungen sind die Eingliederung der Schwerbehinderten in den Betrieb zu fördern, ihre Interessen zu vertreten und ihnen beratend zur Seite zu stehen (vgl. §25 SchwbG). Vor allem soll die Schwerbehindertenvertretung

- darüber wachen, daß der Arbeitgeber seine Pflichten gegenüber den Schwerbehinderten erfüllt und die zugunsten der Schwerbehinderten geltenden Gesetze, Verordnungen und Tarifverträge beachtet werden.
- Maßnahmen, die Schwerbehinderten dienen, bei den zuständigen Stellen selbst beantragen (z.B. technische Hilfen am Arbeitsplatz).
- berechtigten Anregungen und Beschwerden von Schwerbehinderten nachgehen.

Um diesen skizzierten Anforderungen nachkommen zu können, sind die Schwerbehindertenvertretungen mit einer Reihe besonderer Mitwirkungsrechte ausgestattet. So darf die Schwerbehindertenvertretung in Ausübung ihrer Arbeit nicht behindert oder durch dieses Amt, welches ein Ehrenamt ist, benachteiligt werden. Sie besitzt die gleiche Rechtsstellung wie Personalräte (vgl. Mrozynski 1992, 182). Die Wahrnehmung ihrer Tätigkeit ist betrieblich so zu organisieren, daß sie während der betrieblichen Arbeitszeiten stattfinden kann. Über jede betriebliche Maßnahme, welche Schwerbehinderte betrifft, ist die Schwerbehindertenvertretung umfassend und unverzüglich zu informieren. Diese Informationspflicht ist zwingend und bei Verstoß gegen sie beschlossene Maßnahmen sind rechtsunwirksam (vgl. ADHF 1990, 35). Bei Bewerbungen ist die Schwerbehindertenvertretung zu informieren. Diese hat die Aufgabe darauf hinzuwirken, daß der Betrieb vermehrt Arbeitsplätze für Schwerbehinderte zur Verfügung stellt. Jegliche Kosten, die z.B. bei der Beschaffung von Informationsmaterial (Gesetzestexte, Kommentare, Zeitschriften, Rechtsbeistände etc.) entstehen, sind vom Arbeitgeber zu tragen.

Eine wichtige Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung besteht darin, den innerbetrieblich beschäftigten Schwerbehinderten als Ansprechpartner in persönlichen und betrieblichen Angelegenheiten zur Verfügung zu stehen. Das gilt in besonderem Maße dann, wenn es darum geht, einen Arbeitsplatz behindertengerecht umzugestalten. Dabei gewähren die Vertretungen Hilfen bei der Antragsstellung und informieren über außerbetriebliche Nachteilsausgleiche bezüglich der behinderungsspezifischen Problemlagen (vgl. BMA 1999, 108ff). Damit die Schwerbehindertenvertretung / die Vertrauensleute ihre Aufgaben überhaupt sorgfältig und umfassend bewältigen können, ist vonnöten, daß sie sich regelmäßig fortbilden und in aktuellen Rechtsfragen geschult werden. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, den Vertrauensleuten diesbezüglich Freistellung von der betrieblichen Arbeit zu gewähren (vgl. §26 SchwbG Nr.15. 3/4 Rd.Erl.).

Neben der Schwerbehindertenvertretung gelten der Arbeitgeber, der Beauftragte des Arbeitgebers (§28 SchwbG) und der Personalrat als die betrieblichen Helfer. Für diese betrieblichen Helfer besteht die gesetzliche Verpflichtung zur Zusammenarbeit (§29 SchwbG). Sie haben die Aufgabe, zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in den Betrieb beizutragen, Schwerbehinderte bei einer Einstellung zu beraten, zu unterstützen und zu vertreten und sind diesen gegenüber bei einer Entlassung zu besonderer Fürsorge verpflichtet (Fürsorgeerlaß Nr.4).

2.3.3.1 Statistik und Praxis:

Interessanterweise finden sich in dem Bericht des Bundesministeriums (vgl. BMA 1998) keine statistischen Angaben über die Anzahl von Schwerbehindertenvertretungen in Deutschland. Daher ist es schwierig zu beurteilen, in welchem Umfang und unter welchen Umständen genau diese ihre Arbeit leisten. Allerdings finden sich Hinweise darauf, daß den Schwerbehindertenvertretungen ihre Arbeit oft nicht leicht gemacht wird (vgl. ADHF 1990, 26ff.). Da es sich bei der Vertretung um ein Ehrenamt handelt, gibt es keine finanziellen Anreize, sich für dieses Amt zu bewerben. Das Amt erfordert zudem die Bereitschaft, sich in z.T. komplizierte Rechtsfragen und Bestimmungen des Schwerbehindertenrechts einzuarbeiten. Zwar sollten dazu ausreichend Literatur und auch Fortbildungsmaßnahmen angeboten werden, in vielen Betrieben, v.a. bei Neueinrichtung einer Schwerbehindertenvertretung, ist das nicht der Fall. Arbeitgeber und bisweilen auch der Personalrat halten diese Vertretungen oftmals für überflüssig und betriebswirtschaftlich unrentabel (vgl. ADHF 1990, 63). Diese Umstände stellen vielfach nur geringe Anreize zur Bekleidung des Amtes dar. Aber es gibt auch zahlreiche positive Beispiele, insbesondere in Großbetrieben, die schon lange Zeit Erfahrungen mit Schwerbehindertenvertretungen gemacht haben. Es wird hervorgehoben, daß bei einer intensiven Zusammenarbeit der betrieblichen und außerbetrieblichen Helfer nicht nur die Schwerbehinderten an ihrem Arbeitsplatz einen innerbetrieblich positiveren Status finden können, eine eng vernetzte Kooperation kann auch die Erkenntnis befördern, daß die Einstellung von Schwerbehinderten sich meistens nicht ungünstig auf die betriebswirtschaftliche Situation auswirkt. Über eine günstige Koordination der Hilfen für Schwerbehinderte können sowohl Vorurteile gegenüber Behinderten im Betrieb abgebaut werden als auch ein Beitrag zur gesellschaftlichen Integration von Schwerbehinderten geleistet werden.

2.3.3.2 Kommentar:

Angesichts der mangelnden Datenlage ist es kaum möglich, eine abschließende Beurteilung zu geben. Andererseits sagen quantitative Statistiken nichts über die Qualität der geleisteten Arbeit in den jeweiligen Betrieben oder Dienststellen aus. Wie schon skizziert finden sich in der Praxis positive als auch negative Beispiele. Leider ist zu vermuten, daß der gestiegene betriebswirtschaftliche Druck angesichts der Globalisierungstendenzen sich auch nachhaltig auf die betrieblichen Bedingungen auswirken wird. Diese veränderten Anforderungen könnten es den Schwerbehindertenvertretungen weiter erschweren, ihrer Arbeit nachzugehen. Wenn der Arbeitgeber darauf verweist, daß für ‘so etwas’ keine Zeit ist, daß die Auftragslage Vorrang habe, oder der Betrieb ums Überleben kämpft, wird sich ein schwerbehinderter Arbeitnehmer leicht innerbetrieblich unbeliebt machen, wenn er auf seine betrieblichen Rechte als Schwerbehinderter aufmerksam macht. Durch solche und ähnliche Entwicklungen dürfte es zukünftig noch schwieriger werden, engagierte Schwerbehinderte zu finden, welche das Ehrenamt der Schwerbehindertenvertretung übernehmen wollen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß Vertretungen nur in Betrieben oder Dienststellen gewählt werden, in denen es fünf oder mehr anerkannte Schwerbehinderte gibt. In den meisten Betrieben wird das nicht der Fall sein, da die meisten Betriebe weniger als 100 Arbeitnehmer haben. In diesen Fällen hängt es sehr stark vom sozialen Engagement des Arbeitgebers ab, inwieweit er den schwerbehinderten Beschäftigten Möglichkeiten gibt, sich in behinderungsspezifischen Fragen fortzubilden.

2.4 Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderungen

Im folgenden soll eine knappe Übersicht über die wesentlichen, schwerbehinderte Menschen betreffenden Nachteilsausgleiche gegeben werden. Dabei kommen auch Leistungen zum tragen, welche nicht explizit im Schwerbehindertengesetz fixiert sind. Die Auswahl lehnt sich an die Darstellungen an, wie sie in den Broschüren der zuständigen Ministerien (BMA, Ministerium für Arbeit und Soziales NRW) gegeben werden2.

2.4.1 Steuerpauschalen:

Da behinderte Menschen meist laufend typische Mehraufwendungen für die Lebenshaltung haben, wird ihnen als “außergewöhnliche Belastung” nach § 33b Einkommensteuergesetz (EStG) ein Pauschbetrag zugestanden. Dieser Pauschbetrag für Behinderte, welcher jährlich zwischen 600,-DM und 2760,-DM beträgt, kann ohne Einzelnachweis der Aufwendungen und ohne Abzug der zumutbaren Belastung von der Steuer abgezogen werden. Ausschlaggebend für seine Höhe ist der festgestellte Grad der Behinderung. Eine Übersicht gibt das Ministerium für Arbeit und Soziales in NRW (1998/1, 18):

Grad der Behinderung von Steuerpauschale

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2

Nimmt ein Kind den Pauschbetrag nicht in Anspruch, so wird der Pauschbetrag auf Antrag auf die Eltern, ein Stiefelternteil oder die Großeltern übertragen.

2.4.2 Einzelnachweis:

Anstelle eines Pauschbetrags können die höheren Mehraufwendungen aufgrund der Behinderung steuerlich berücksichtigt werden. Dann zieht das Finanzamt jedoch die zumutbare Eigenbelastung ab, deren Höhe sich nach dem Gesamtbetrag der Einkünfte und dem Familienstand richtet.

2.4.3 Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle

Für Berufstätige, deren Grad der Behinderung 50 und 60 beträgt und bei denen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G vorliegen (vgl. Tabelle 1) oder deren Grad der Behinderung mindestens 70 beträgt, können für jede Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstelle die tatsächlichen Fahrtkosten geltend gemacht werden. Dazu gehören in gewissem Umfang auch die Betriebs-, Pflege- und Reparaturkosten, Garagenmiete, Steuern, Versicherung, Parkgebühren u.ä. für ein Kraftfahrzeug (vgl. Ministerium für Arbeit und Soziales NRW 1998/1, 19f.).

Eine detaillierte Übersicht über weitere steuerliche Vergünstigungen, welche je nach Behinderungsgrad vorliegen, gibt es in der Informationsbroschüre des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (ebd. 1999, 91ff.). Aufgrund des begrenzten Umfanges dieser Arbeit wird auf eine präzisere Darstellung zugunsten einer Fokussierung auf zentrale Aspekte des Schwerbehindertenrechtes verzichtet.

2.4.4 Erleichterungen im öffentlichen Personenverkehr

Um behinderten Menschen die Nutzung des öffentlichen Verkehrs3 (Straßenbahn, Bus, U- und S-Bahn, Eisenbahn (2.Klasse) zu erleichtern gibt es je nach Behinderungsgrad und Merkzeichen spezifische Vergünstigungen. So können etwa Schwerbehinderte, die in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich eingeschränkt oder als hilflos gelten, den öffentlichen Nahverkehr frei in Anspruch nehmen (Merkzeichen G, aG, H). Diese Regelung gilt ebenfalls für Blinde und Gehörlose (Merkzeichen Bl; für Gehörlose gilt häufig das Merkzeichen H). Voraussetzung für die ‘Freifahrt’ ist, daß man beim Versorgungsamt ein mit einer Wertmarke versehenes Beiblatt erwirbt. Schwerbehinderte mit dem Ausweismerkzeichen G oder aG und Gehörlose müssen in der Regel für die Wertmarke 120,-DM pro Jahr (oder 60,-DM halbjährlich) bezahlen. Schwerbehinderte mit den Merkzeichen H und/oder Bl erhalten die Wertmarke kostenlos (vgl. BMA 1999, 96). Für die Benutzung der Bahn gilt, daß nur Züge im Umkreis von 50 km um den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter diese Regelung fallen. Zuschläge müssen jedoch vereinzelt bezahlt werden. Genauere Auskünfte und spezielle Streckenverzeichnisse können bei den Versorgungsämtern eingeholt werden. Eine weitere zentrale Regelung ist, daß notwendige Begleitpersonen den öffentlichen Nahverkehr ebenfalls kostenlos benutzen können. Für den Fernverkehr (v.a. Bahnen) gibt es weitere Vergünstigungen. Schwerbehinderte mit den Merkzeichen B und Bl können für sich und ihre Begleitpersonen kostenlos Reservierungen vornehmen. Schwerbeschädigte, denen im Ausweis das Merkzeichen 1.Kl eingetragen ist, können mit einer Fahrkarte für die 2.Klasse die 1.Klasse benutzen4. Außerdem können alle Schwerbehinderten ab einem Grad der Behinderung von mindestens 80 die Bahncard zum ermäßigten Preis erwerben (Auskünfte darüber erteilt auch die Deutsche Bahn AG). Für den Flugverkehr gibt es teilweise ebenfalls Vergünstigungen. Diese hängen aber von den Bestimmungen der einzelnen Fluggesellschaften ab. Es ist ratsam, sich vorher umfassend zu informieren.

2.4.5 Kraftfahrzeugsteuer:

Schwerbehinderten Kraftfahrzeughaltern, die blind, hilflos oder außergewöhnlich gehbehindert sind, wird die Kraftfahrzeugsteuer vollständig erlassen. Im Schwerbehindertenausweis müssen die Merkzeichen H, Bl oder aG eingetragen sein. Die Befreiung kann unabhängig von der Freifahrtregelung im öffentlichen Nahverkehr genutzt werden. Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind (Merkzeichen G) und Gehörlose können sich wahlweise für die Freifahrt im öffentlichen Nahverkehr oder für die Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50% entscheiden.

2.4.6 Statistik und Kommentar:

Über die tatsächliche Nutzung der skizzierten Nachteilsausgleiche liegen keine konkreten Daten vor. Angesichts der Vielschichtigkeit, des Umfanges und des Aufwandes, welcher mit einer präzisen Erfassung verbunden wäre, ist dies nicht verwunderlich. Außerdem stehen datenschutzrechtliche Bestimmungen vor einer konkreten Erfassung. Das gilt insbesondere für die steuerlichen Vergünstigungen. Hierzu finden sich im Bericht der Bundesregierung keine konkreten Daten (vgl. BMA 1998). Für den Komplex der Vergünstigungen im Personenverkehr finden sich ebenfalls wenig präzise Angaben. Es werden zwar einzelne Projekte und Maßnahmen in den verschiedenen Bundesländern erläutert, eine übersichtliche Darstellung mit Bezifferung in dezidierten Finanzvolumina bleibt aber aus. Interessant jedoch ist die tabellarische Übersicht über die Anzahl der Schwerbehinderten mit den unterschiedlichen Merkzeichen. Aus diesen leitet sich nach der Gesetzgebung der Anspruch auf Vergünstigungen im öffentlichen Verkehr ab (vgl. BMA 1998, 91).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3

Diese Übersicht zeigt, daß ein Großteil der Schwerbehinderten den öffentlichen Verkehr oder die Vergünstigungen bei der Kraftfahrzeugsteuer nicht in vollem Umfang in Anspruch nehmen kann. Die meisten Schwerbehinderten müssen sich jährlich oder halbjährlich um eine Wertmarke bemühen. Insgesamt läßt sich aber sagen, daß die Nachteilsausgleiche z.T. umfangreich und auch ausreichend zu sein scheinen. In der Fachliteratur gibt es erstaunlicherweise so gut wie keine negative Kritik an den sozialen Leistungen für Schwerbehinderte. Diese scheinen angemessen und umfangreich gewährleistet zu sein. Viel größer erscheint das Problem der tatsächlichen Nutzung der Rechte. Für den Laien ist es z.T. ein undurchschaubarer Dschungel an Sozialleistungen, der bisweilen kaum verständlich erscheint (vgl. ADHF 1990, 26ff.). Es ist zu vermuten, und dezente Hinweise finden sich auch in den Darstellungen der Ministerien (z.B. BMA 1998), daß ein Großteil der Schwerbehinderten seine Rechte und Ansprüche nicht oder nur in eingeschränktem Maße geltend macht. Trotz der zahllosen Bemühungen der in den zuständigen Ämtern arbeitenden Beratern, gelingt es vielfach nicht, die Hilfen umfassend zu koordinieren. Eine bisweilen allzu bürokratische Verfahrensweise bei Anträgen auf Beihilfen des Staates und die Zergliederung der Verantwortlichkeiten für die verschiedenen Leistungen befördern und mehren das beklagte Durcheinander der Behindertenhilfe in Deutschland (vgl. Cloerkes 1997, 53).

2.5 Zur Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten:

Als zentrales Anliegen des Schwerbehindertengesetzes wird immer wieder die berufliche Eingliederung von Schwerbehinderten genannt (vgl. ADHF 1990, 22; Schmidt 1997, 54ff.). Tatsächlich aber steht der weitaus größte Teil der insgesamt 6,6 Millionen Schwerbehinderten nicht mehr im Arbeitsleben. Die Bundesregierung beziffert diese Gruppe auf 5,5 Millionen Schwerbehinderte (BMA 1998, 69). Das sind 83,33% für die die zentralen Bestimmungen nicht gelten. 940.000 Schwerbehinderte gingen einer Beschäftigung unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts nach. Im Oktober 1997 waren rund 196.260 Schwerbehinderte arbeitslos gemeldet (BMA 1998, 69f.). Damit hat die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter einen überdurchschnittlich hohen Stand erreicht. “Im Jahresdurchschnitt 1996 waren im Westen 15,9 v.H. (bei einer allgemeinen Arbeitslosenquote von 9,1 v.H.) im Osten 18,9 v.H. (bei einer allgemeinen Arbeitslosenquote von 15,7 v.H.) ohne Arbeit. Dabei hat sich die Quote in den alten und neuen Bundesländern unterschiedlich entwickelt. In den alten Bundesländern war gegenüber 1995 nur ein leichter Anstieg zu verzeichnen (um 1,1 v.H.), während in den neuen Bundesländern eine erhebliche Zunahme festzustellen ist (um 16,2 v.H.)” (BMA 1998, 70). Die Bundesregierung weist darauf hin, daß sich die ungünstige konjunkturelle Gesamtlage auf dem Arbeitsmarkt besonders nachhaltig auf die Gruppe der Schwerbehinderten auswirke. Weitere zur Behinderung hinzutretende Umstände wie fortgeschrittenes Alter oder geringe regionale Mobilität verstärkten ihrer Ansicht die berufliche Wiedereingliederung. Für Ende September 1996 konstatiert die Regierung für die alten Bundesländer, daß von den arbeitslosen Schwerbehinderten 62,1 % 50 Jahre oder älter waren (im Vergleich zu 32,1% unter den Arbeitslosen insgesamt) und daß 28% zwei Jahre und länger arbeitslos waren (Vergleich 16,4%) (ebd.). All diese Zahlen verdeutlichen, daß es für Schwerbehinderte besonders schwierig ist, eine adäquate Arbeitsstelle zu finden. Explizit führt die Bundesregierung Informationsdefizite und Vorurteile als zusätzliche Einstellungshemmnisse neben fehlender beruflicher Qualifikation, höherem Alter und Langzeitarbeitslosigkeit an. Konkrete Angaben und Möglichkeiten, wie man dieses zentrale Problem angehen und lösen könnte, sucht man als Leser des Berichtes vergeblich5. Für das Land Nordrhein-Westfalen ergeben sich ähnliche Werte bezüglich der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter. So waren 1998 fast 72% der Schwerbehinderten, die in NRW arbeitslos gemeldet waren, über 45 Jahre alt. Für das Rheinland liegt eine konkrete Altersverteilung der arbeitslosen Schwerbehinderten vor (vgl. Landschaftsverband Rheinland 1999, 21). Neben der Problematik, welche sich im besonderen Maße für ältere schwerbehinderte Menschen stellt, wird vermehrt darauf hingewiesen, daß es für junge Schwerbehinderte sehr schwer ist, einen Ausbildungsplatz und anschließend eine regulären Arbeitsplatz zu finden. Trotz der Integrationsbemühungen der Berufsbildungswerke (mit rund 12000 Plätzen) und der Berufsförderungswerke (insgesamt rund 15000 Plätze; vgl. BMA 1999, 59ff.) gelingt es tendenziell immer weniger behinderten Menschen, eine dauerhafte Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt zu finden. Als Alternative steht eine wachsende Anzahl von Werkstätten als Arbeitgeber für einen Teil der Schwerbehinderten zur Verfügung. Die Zahl der Arbeitsplätze beziffert die Bundesregierung für 1997 auf rund 155000 geschützte Arbeitsplätze (vgl. BMA 1998, 77). Diese Beschäftigten fließen aber nicht in die allgemeine Arbeitsmarktstatistik ein. Für die Aufnahme an den Werkstätten müssen außerdem bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden, welche nur von einem Teil der Schwerbehinderten erfüllt werden.

2.6 Zur Arbeitsmarktsituation von schwerbehinderten Frauen

Allgemein läßt sich sagen, daß es im Schwerbehindertenrecht keine Vorschriften gibt, die speziell auf die Situation schwerbehinderter Frauen eingehen. “Dies ist auch nicht erforderlich, da erwerbstätige Frauen wie die Schwerbehinderten selbst unter dem Schutz besonderer Personengruppen fallen” (Bethmann/Feldes et al. 1999, 201). Allein diese prägnante Feststellung, welche sich in einem Nachschlagewerk zum Schwerbehindertenrecht findet, welches von etablierten Experten herausgegeben wurde, zeigt, daß Frauen auch heutzutage noch eher als besondere Personengruppe gesehen werden. Im gesamten Bericht zur Lage der Behinderten, welcher von der Bundesregierung herausgegeben wurde, finden sich keine präzisen geschlechtsspezifischen statistischen Angaben (vgl. BMA 1998). Die Ausführungen sind eher allgemein gehalten, obwohl zugegeben wird, daß sich für schwerbehinderte Frauen eine besondere Problemlage ergibt. Schwerbehinderten Frauen fällt es auf dem regulären Arbeitsmarkt besonders schwer, einen adäquaten und dauerhaften Arbeitsplatz zu finden. “Sie sind immer noch seltener erwerbstätig und häufiger erwerbslos als behinderte Männer und in sehr viel größerem Ausmaß als nichtbehinderte Frauen; sie verfügen seltener über eine abgeschlossene Berufsausbildung als vergleichbare Männer. Frauen mit Behinderungen sind weniger häufig verheiratet als behinderte Männer und als nichtbehinderte Frauen” (vgl. BMA 1998, 105). Konkrete Zahlen, wieviele schwerbehinderte Frauen im Erwerbsleben stehen und wieviele von ihnen arbeitslos sind, fehlen gänzlich. Bethmann/Feldes et al. (1999) führen dazu aus, daß “nur 20 Prozent der behinderten Frauen (insgesamt in der Bundesrepublik über 3 Millionen) sind erwerbstätig gegenüber 50 Prozent der behinderten Männer” (ebd. 202). Erschreckend niedrig seien auch die Quoten von behinderten Frauen, welche in den Berufsförderungswerken ausgebildet werden.

Konkrete Arbeitsmarktdaten finden sich für das Bundesland Nordrhein- Westfalen. Von den in Nordrhein-Westfalen gemeldeten 54.095 arbeitslosen Schwerbehinderten sind 36.324 Männer (67%) und 17.771 Frauen (33%) (vgl. Landschaftsverband Rheinland 1999, 21). Diese Zahlen von 1998 haben sich für Frauen im Vergleich zum Vorjahr weiter deutlich verschlechtert. Diese Zahlen deuten nicht nur auf eine hohe Quote von behinderten Frauen hin, welche auf dem Arbeitsmarkt gar nicht präsent ist, sondern sie zeigen auch, daß es für schwerbehinderte Frauen ungleich schwieriger ist, auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Stelle zu bekommen. Es scheint eine reziproke Beziehung zwischen den Chancen auf dem Arbeitsmarkt und der tatsächlichen Nachfrage von behinderten Frauen zu bestehen.

2.7 Zusammenfassung und Kommentar:

Die Arbeitsmarktsituation für Schwerbehinderte hat sich in der letzten Dekade erheblich verschlechtert. Angesichts der wirtschaftlichen Gesamtlage scheinen immer weniger Unternehmen schwerbehinderte Menschen beschäftigen zu wollen. Hierbei wirken die ungenügenden Gesetzesregelungen (z.B. Ausgleichsabgabe) sowie der häufig niedrige Informationsstand der Arbeitgeber kumulierend.

Für schwerbehinderte Frauen ergibt sich eine doppelte Benachteiligung. So konstatiert Niehaus (1994) für schwerbehinderte Frauen in Anlehnung an Kniel und Windisch (1988) ein “Ausgegliedertwerden in die Alternativrolle der Hausfrau” (ebd. 777). Frauen bliebe im permanenten Hinweis und Hinblick auf die ihnen traditionell zugeschriebenen Gesellschaftsfunktionen im reproduktiven Bereich der Weg in den regulären Arbeitsmarkt häufig verschlossen. Auf diese Weise stellen erheblich weniger Frauen einen Antrag auf Feststellung des Behinderungsgrades beim Versorgungsamt (vgl. Niehaus 1994, 775). Bei der Feststellung des Behinderungsgrades spielten in den ärztlichen Gutachten immer noch Faktoren eine Rolle, welche eine Kausalitätsorientierung offenbaren. So sei es immer noch leichter, eine sichtbare Behinderung oder eine aus einem Arbeitsunfall resultierende Behinderung geltend zu machen als beispielsweise eine nichtsichtbare Behinderung psychischer Natur oder eine Behinderung, welche aus einem Unfall im Privathaushalt resultiere. Außerdem befördere die Orientierung des Schwerbehindertengesetzes an den Normen der männlichen Erwerbstätigen bei Hausfrauen nur eine geringe Motivation zur Antragstellung. Diese Orientierung führt die Autorin darauf zurück, daß sich die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit aus den sogenannten MdE- Tabellen der Kriegsversorgungsgesetze entwickelt haben (vgl. Niehaus 1994, 774).

Gefordert wird, daß sich die Programme zur beruflichen Integration von Schwerbehinderten stärker auf die frauenspezifischen Bedürfnisse abstimmen. Genannt werden in diesem Kontext die Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen, eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten, haushaltsentlastende Maßnahmen für Mütter, sowie eine Dezentralisierung der Ausbildungszentren (z.B. Reha- Institutionen). Darüber hinaus erscheint es notwendig, daß geschlechtsrollentypische Klischees auch öffentlich in Frage gestellt werden (z.B. in Schulen), um den sublimen latenten und indirekten gesellschaftlichen Druck auf schwerbehinderte Frauen in Richtung auf eine häusliche und familienbezogene Tätigkeit abzuschwächen (“die soll doch heiraten”).

2.8 Zusammenfassung und Kommentar im Hinblick auf gesellschaftliche Normen:

Das aktuell geltende Schwerbehindertengesetz sowie das allgemeine Schwerbehindertenrecht bestätigen in besonderem Maße die Tatsache, daß Gesetze und die damit verbundenen Werte und Normen jeweils ein Spiegel der Zeit sind. Insofern finden sich sowohl in der Gesetzgebung als auch in ihrer Darstellung normative Vorstellungen unserer Gesellschaft. Die Norm, an der sich das Schwerbehindertengesetz zu orientieren scheint, ist die Norm eines jungen, männlichen, leistungsfähigen und erwerbstätigen Menschen. “Arbeit und Beruf sind in unserer Gesellschaft zentrale Kategorien und damit auch zentrale Lebensbereiche im Hinblick auf die soziale Integration behinderter Menschen” (Niehaus 1994, 774). Es scheint daher nicht verwunderlich, wenn es behinderten Frauen angesichts dieser herrschenden Normen schwerer fällt, einen adäquaten Arbeitsplatz bzw. eine selbstgewählte Kombination von Arbeit und Familie zu finden.

Neben den geschlechtsspezifischen Aspekten finden sich jedoch weitere herrschende Normen. In allen Broschüren zum Schwerbehindertenrecht wird hervorgehoben, daß das zentrale Anliegen des Schwerbehindertengesetzes die berufliche und gesellschaftliche Integration sei. Vergleicht man aber dieses Anliegen mit den umrissenen Fakten und den Broschüren des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sowie des zuständigen Ministeriums in NRW, so fällt auf, daß dieses zentrale Anliegen weder erreicht wurde, noch daß dies der Kern der gegenwärtigen Schwerbehindertenpolitik zu sein scheint. Der “Ratgeber für Schwerbehinderte” (Ministerium für Arbeit und Soziales NRW 1998/1) verwendet für arbeitsbezogene Rechte und Leistungen ganze zwei Seiten (von ca. 30 Seiten), während es im Weiteren um sonstige Nachteilsausgleiche geht. Die Darstellung ist durchaus übersichtlich und anwenderfreundlich ausgestaltet. Das liegt daran, daß mehr als 80% der anerkannten Schwerbehinderten nicht mehr im Erwerbsleben stehen. Für diese Personengruppe sind diese zwei Seiten ausreichend. Für schwerbehinderte Personen, die jedoch im Berufsleben stehen bzw. auf der Arbeitsplatzsuche sind, sind diese spärlichen Informationen unzureichend. Es scheint sich also eine riesige Lücke zwischen dem Anspruch des Schwerbehindertenrechtes, zur Förderung der beruflichen Eingliederung beizutragen, und der tatsächlichen Arbeitsmarktlage aufgetan zu haben. Entgegen des Gesetzestextes, daß alterstypische Funktionsbeeinträchtigungen bei der Festlegung des Behinderungsgrades keine Rolle spielen sollen (vgl. Schmidt 1997, 30 sowie §3, Absatz 1 SchwbG), zeigt sich anhand der Fakten, daß 27% der über 64- Jährigen in der BRD (BMA 1998, 3); für NRW werden 42% der Männer und fast jede dritte Frau im Alter von 65 und mehr Jahren genannt (Landschaftsverband Rheinland 1999, 10), als schwerbehindert gelten, womit Schwerbehinderung im Alter keine Ausnahme, sondern eher die Regel ist. Dies zeigt, daß trotz oder vielleicht gerade wegen der offiziellen Orientierung des Behinderungsbegriffes am jungen und leistungsfähigen Menschen, die gesetzlichen Leistungen vermehrt der älteren ‘leistungunfähigeren’ Generation zukommen. An diesem Punkt zeigt sich, daß sich die veränderte Altersstruktur der deutschen Bevölkerung nachhaltig auf die Verteilung der Sozialleistungen auswirkt. Auf diese Weise fließen - gewollt oder ungewollt - generationsbedingte Bedürfnisse und Ansprüche in die Gesetzgebung ein.

Es wird aber dann problematisch, wenn diejenigen, für die die Gesetzgebung schwerpunktmäßig geschaffen wurde - nämlich die arbeitsfähigen aber behinderten Menschen -den beruflichen und gesellschaftlichen Eingliederungsprozeß nicht mehr schaffen. Für viele Schwerbehinderte, insbesondere für Menschen mit einer geistigen Behinderung, scheint gesellschaftliche und berufliche Integration mittlerweile fast ausschließlich in der Ausübung einer Tätigkeit innerhalb einer geschützten Institution außerhalb des regulären Arbeitsmarktes stattzufinden6.

Es stellt sich die Frage, inwieweit die tatsächliche Realisierung und somit die Verteilung der verschiedenen sozialen Leistungen noch den ursprünglichen Intentionen des Schwerbehindertenrechtes gerecht werden. Schimanski (1990, 79) fordert in diesem Zusammenhang, daß der Personenkreis des Gesetzes auf diejenigen Personen beschränkt werden sollte, die des besonderen Schutzes bedürfen. “Das sind Arbeitnehmer bzw. Bedienstete oder Personen, die eine Arbeitnehmer- oder Ausbildungstätigkeit aufnehmen wollen” (ebd.).

3 Zur historischen Entwicklung des Schwerbehindertenrechts

Im folgenden soll ein knapper geschichtlicher Abriß der Entwicklung des Schwerbehindertenrechts gegeben werden. Es wird zunächst die Ausgangslage erläutert. Dabei wird der gesellschaftliche, politische und ökonomische Hintergrund der jeweiligen Gesetzgebung dargestellt. Im einem zweiten Schritt wird die Gesetzgebung skizziert, indem die zentralen rechtlichen Bestimmungen erörtert werden. Im Anschluß daran wird der Personenkreis, welcher von den jeweiligen Bestimmungen betroffen war, umrissen. Abschließend an diese faktischen Darstellungen sollen jeweils Bezüge zu den Kategorien ‘Normalität’ und ‘Geschlecht’ hergestellt werden.

3.1 Weimarer Republik (1918-1933)

3.1.1 Ausgangslage:

Die Niederlage des Deutschen Kaiserreiches im ersten Weltkrieg brachte eine ganze Epoche zum Zusammenbruch. Siegesgewiß und voller Begeisterung war eine komplette Generation junger Männer für das Vaterland und den Kaiser in den Krieg gezogen. 1918 war der Krieg vorbei; mehr als zwei Millionen deutscher Soldaten hatten den Tod gefunden (vgl. Lindner 1995, 15). Die Kriegsopfer waren mit 1,531 Millionen Kriegsbeschädigten und 1,7 Millionen Kriegshinterbliebenen (einschließlich der Eltern Gefallener) zu einem Massenproblem der langsam entstehenden Weimarer Republik geworden (vgl. Sachße/Tennstedt 1989). Bereits während des Krieges dachte man über Möglichkeiten nach, die Kriegsinvaliden wieder in eine auf Friedenszeiten ausgerichtete Gesellschaft und Wirtschaft einzugliedern. Aber kaum jemand hatte damit gerechnet, daß das Phänomen der Kriegsbeschädigten solch horrende Dimensionen erreichen würde. Zwar hatte es bereits zu Kaiserszeiten Regelungen zur Versorgung invalider Offiziere, ein Militärpensionsgesetz (1871), ein Manschaftsversorgungsgesetz und das Offizierspensionsgesetz (beide von 1906) gegeben (vgl. Jung 1987, 2). In diesem gesetzlichen Rahmen konnte und wollte man das Problem aber nicht angehen, da es angesichts der Masse erheblichen sozialen Sprengstoff barg. Für die Weimarer Republik wurden die unmittelbaren und mittelbaren Konsequenzen, die sich aus dem Krieg ergaben zu einer großen Belastungsprobe für die junge, vielfach ungeliebte Demokratie. Es galt als gesellschaftlicher Konsens (der in der Republik sehr selten war), daß den Kriegsbeschädigten unverzüglich Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden müsse. Erreichen wollte man das über eine zügige berufliche Integration der Kriegsopfer in die Nachkriegswirtschaft. Kriegsbeschädigte sollten nicht auf die minimalen Leistungen der kommunalen Armenfürsorge verwiesen werden (vgl. Sachße/Tennstedt 1989, 90). Sie galten als heldenhafte und ehrenwerte Diener der Nation, welche mit ihrer Schädigung und Behinderung der Gesellschaft ein würdiges Opfer gebracht haben. Aus dieser Vorstellung leitete man besondere Verpflichtungen des Staates ihnen gegenüber ab (vgl. Weber 1998, 1).

3.1.2 Gesetzliche Grundlagen:

Beinahe unmittelbar nach dem Kriegsende wurden gesetzliche Maßnahmen eingeleitet. Am 19. Januar 1919 wurde die Verordnung über die Beschäftigung Schwerbeschädigter erlassen, welche v.a. schwerbeschädigten Kriegsopfern einen besonderen sozialen Schutz, insbesondere aber ein Recht auf bevorzugte Unterbringung in Arbeit einräumte. Ergänzt wurde diese vorübergehende Regelung durch ein gesetzliches Kündigungsverbot für Schwerbeschädigte vom 1. Februar 1919 (vgl. Lindner 1995, 18). Diese Bestimmungen wurden nach mehrfachen Änderungen durch das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 6. April 1920, welches im Reichstag einstimmig verabschiedet wurde, ersetzt (vgl. Sachße/Tennstedt 1989, 91). Dieses Gesetz, welches 1923 in einer neuen Fassung bekannt gegeben wurde, galt bis auf geringfügige Modifikationen bis zum Ende der Weimarer Republik. Für schwerbeschädigte Menschen gab es einen Einstellungszwang, der in dieser Form völlig neu war. Ein grundsätzliches Kündigungsverbot sorgte dafür, daß sich die Wirtschaft nicht auf diesem Wege ihrer sozialen Verantwortung entziehen konnte. Öffentliche und private Arbeitgeber mit mehr als 20 Beschäftigten hatten 2% der Arbeitsplätze mit Schwerbeschädigten zu besetzen. In den Behörden waren etwa 3% der Arbeitsplätze mit Schwerbeschädigten besetzt, im Bereich des Reichsarbeitsministeriums betrug die Quote gar 8,63% (Sachße/Tennstedt 1989, 91). Auf diese Weise gelang es trotz diverser Wirtschaftskrisen (v.a. Inflationszeit 1923 und Weltwirtschaftskrise 1929), die schwerbeschädigten Kriegsopfer, deren Zahl bis zum Jahre 1930 350.000 und rund 100.000 schwerbeschädigte Arbeitsopfer betrug, nahezu restlos in Arbeit zu bringen (vgl. Weber 1998, 2). Das Schwerbeschädigtengesetz gilt deshalb als eines der besten sozialpolitischen Gesetze nach dem ersten Weltkrieg (vgl. Jung 1987, 4).

3.1.3 Personenkreis:

Betrachtet man nun aber den genauen Personenkreis, für den das Gesetz relevant wurde, so wird sich diese positive Bewertung relativieren. Leistungen und Rechte des Gesetzes konnten nur Kriegsbeschädigte in Anspruch nehmen, deren Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund von Kriegsfolgen 50 oder mehr Prozent betrug (vgl. Sachße/Tennstedt 1989, 91). Ihnen konnten sonstige Erwerbsbeschränkte mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 50 v.H. (Schwererwerbsbeschränkte) sowie Kriegs- und Arbeitsopfer mit einer Erwerbsminderung von weniger als 50 v.H. aber wenigstens 30 v.H. (Minderbeschädigte) im Einzelfall gleichgestellt werden, wenn sie sich ohne die Hilfe des Gesetzes einen geeigneten Arbeitsplatz nicht beschaffen oder erhalten konnten. Zahlenmäßig werden ca. 270.000 sogenannte Kriegskrüppel und ca. 100.000 sogenannte Friedenskrüppel (vgl. Lindner 1995, 19) genannt. Vergleicht man diese Zahl mit den einleitend erwähnten 1,531 Millionen Kriegsbeschädigten, wird die relativ bescheidene Reichweite des Gesetzes deutlich. Geldleistungen waren im Rahmen der sozialen Fürsorge explizit nicht vorgesehen. Insbesondere die Kriegsbeschädigten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von unter 50% (die sogenannten Leichtgeschädigten) sollten mittels Berufstätigkeit für sich selbst aufkommen. Da sie aber nicht unter den besonderen Schutz des Schwerbeschädigtenrechtes fielen, war diese relativ große Gruppe der Leichtbeschädigten in besonderem Maße den konjunkturellen Schwankungen des Arbeitsmarktes unterworfen.

3.1.4 Zur Kategorie "Normalität":

Auffallend hinsichtlich der Normalitätsvorstellungen jener Zeit ist zunächst einmal, daß es wie selbstverständlich keinerlei Sozialgesetzgebung außerhalb der traditionellen Armenfürsorge für Menschen mit ‘Behinderungen’ im heutigen Sinne gab. Zwar gab es karitative private und kirchliche Institutionen, welche sich behinderter Menschen (v.a. Blinde, Gehörlose, “Schwachsinnige”, Krüppel) annahmen, von staatlicher Seite wurden Sozialleistungen weitestgehend verweigert7. Das änderte sich erst, als nach dem verlorenen Krieg ein riesiges Heer von Kriegsbeschädigten in die Heimat zurückkam. Die mächtige und somit einflußreiche Lobby sorgte dafür, daß die Interessen der Kriegsbeschädigten in der Politik zur Geltung kamen (vgl. Sachße/Tennstedt 1989, 91). Davon profitierten auch die sogenannten “Friedenskrüppel”, darunter v.a. Männer und Frauen, welche durch einen Unfall behindert wurden und die nicht unter den Schutz der regulären Unfallversicherung fielen.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Behinderungsbegriff, wie wir ihn heute kennen, vor 80 Jahren nicht existent war. Entscheidend für das Verständnis jener Zeit waren die Gründe (Kausalitätsorientierung), welche zu einer ‘Behinderung’ geführt hatten. Entstand die ‘Behinderung’ durch einen Unfall im Erwerbsleben oder im militärischen Einsatz für das Vaterland, so galt wie selbstverständlich, daß der Staat eine besondere Fürsorgepflicht zu erfüllen hatte. War die ‘Behinderung’ hingegen angeboren oder entstand im privaten Kontext (z.B. im Haushalt), so war nicht der Staat, sondern bestenfalls die kommunale Armenfürsorge zuständig, welche z.T. private Träger hatte.

3.1.5 Zur Kategorie "Geschlecht":

Das vorherrschende Bild eines ‘Behinderten’ war der zurückkehrende Kriegsbeschädigte. Obwohl Frauen nicht nur als Hinterbliebene, sondern sowohl im Arbeitsleben als auch in den Familien einen Großteil der sozialen Lasten getragen hatten, orientierte sich die Sozialgesetzgebung der Weimarer Republik vollkommen an männlichen Normen. In der Literatur finden sich zwar keine gesicherten geschlechtsspezifischen Daten, es läßt sich aber vermuten, daß der Personenkreis, für den die skizzierte besondere Gesetzgebung geschaffen wurde, fast ausschließlich aus Männern bestand. Es galt, die zurückkehrenden Männer möglichst schnell wieder in das Erwerbsleben zu integrieren. Dadurch sollten sie ihrer traditionellen Rolle als Familienernährer nachkommen können. Für ‘behinderte’ Frauen gab es hinsichtlich des Arbeitsmarktes keine staatlichen Gesetzesregelungen. Solange eine Frau Kinder in die Welt setzen konnte und die anfallende Erziehungs- und Hausarbeit erledigen konnte, galt sie nicht als ‘behindert’. Daher sah die von patriarchalischen Vorstellungen geprägte Politik keine Veranlassung, den Behinderungsbegriff auf Kinder und Frauen auszudehnen. Schließlich trug die herrschende Gesetzgebung dazu bei, die traditionellen Geschlechtsrollen und - muster zu festigen und durchzusetzen.

3.2 Nationalsozialismus (1933-1945)

3.2.1 Ausgangslage:

Es scheint heutzutage verwunderlich, daß es zu Weimarer Zeiten keine ausdifferenzierte, sich an der Bedürftigkeit von Menschen orientierende Behindertenpolitik gab. Allzu selbstverständlich sind uns die heutigen Regelungen mittlerweile geworden. Doch einer zunehmend von sozialdarwinistischen Gedankengut durchsetzten Gesellschaft galt eine besondere Fürsorge und Wohltätigkeit gegen Krüppel, Sieche und Geisteskranke gemeinhin als widernatürlich. Begrifflichkeiten wie ‘Ballastexistenzen’, “lebensunwertes Leben” und “Defektmenschen” sind dabei nur der sprachlich-symbolische Ausdruck einer umsichgreifenden ‘Behindertenfeindlichkeit’. Ausgenommen davon wurden explizit die Kriegsbeschädigten. Diese hatten ihre eigene Gesundheit für die Gesellschaft geopfert und bei ihnen bestand nicht die Gefahr der “Zersetzung des deutschen Volkes durch Minderwertigkeit” (vgl. Scherer 1990). Mit der Machtübernahme wurde die völkisch-rassische und diskriminierende Ideologie der Nationalsozialisten durch Gesetzestexte legalisiert und in die Praxis umgesetzt.

3.2.2 Gesetzliche Grundlagen:

Am 14. Juli 1933 wird das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” erlassen. “Antragsberechtigt waren nicht nur der Kranke oder dessen gesetzlicher Vertreter, sondern auch Zahnärzte, Dentisten, Gemeindeschwestern, Masseure, Hebammen, Kurpfuscher, Heilpraktiker, Amtsärzte und Anstaltsleiter, die zur diesbezüglichen Anzeige verpflichtet waren” (Fragner 1988, 18). Die Anträge wurden vorwiegend von Anstaltsleitern und Ärzten gestellt. Es ging um eine Zwangssterilisierung von sogenannten Erbkranken. Im Rahmen dieses Gesetzes wurden bis 1937 insgesamt 197.419 Menschen (davon 95.165 Frauen) sterilisiert. Die Erfassung des Personenkreises geschah durch eine totale Meldepflicht, welche alle staatlichen Institutionen umfaßte. Parallel zu den gesetzlichen Maßnahmen propagierte der NS-Staat das Ziel, eine ‘höherwertige arische Rasse’ zu zeugen. In der Schule wurden im Unterricht Rechenbeispiele behandelt, welche sich mit ‘Rassenhygiene’ befaßten (vgl. Fragner 1988, 12f.).

Ab 1939 wurde mit der sogenannten T4-Aktion (Euthanasie-Aktion) begonnen. Diese Vernichtungsaktion wurde gesetzlich nicht fixiert, sie wurde als ‘halbgesetzliche Regelung’ in die Tat umgesetzt. Betroffen waren v.a. die Insassen der Heil- und Pflegeanstalten, welche systematisch (z.T. die gleichen Listen wie beim Gesetz von 1933) erfaßt und nach diversen willkürlichen ärztlichen Gutachten in Vernichtungslager (z.B. Hartheim) transportiert und dort vergast wurden. Es ist umstritten, inwieweit die Öffentlichkeit über diese Vorkommnisse informiert war, es steht aber fest, daß Hitler diese Aktion 1941 abbrach, da der öffentliche Widerstand (z.B. Kardinal von Galen) wuchs. Fragner (1988) schildert aber, daß die Aktionen heimlich fortgesetzt wurden (“Sonderbehandlung 14 f 13).

Insgesamt wurden im Laufe der T4-Aktionen 80.000 bis 100.000 behinderte Menschen ermordet (vgl. Fandrey 1990, 193). Bis Kriegsende wurde die Praxis fortgesetzt, Neugeborene und Kinder mit spezifischen Erbkrankheiten und Behinderungen durch eine ‘Sonderbehandlung’ zu töten. Ungefähr 5000 Kinder fielen diesem Mord-Programm zum Opfer.

3.2.3 Personenkreis:

Mit der Einführung des systemischen Behinderungsbegriffes (vgl. Lindmeier 1993, 27) gelingt es den Nationalsozialisten, rassistisches und völkisches Gedankengut als Instrumentarium einer bewußten Totalisierung der Gesellschaft einzusetzen. Durch den Begriff der ‘Behinderung’ erfolgt eine Ausweitung und Ausdehnung des Personenkreises auf soziale Phänomene. Verbrecher, Oppositionelle, Kommunisten, Hilfsschüler, Idioten, Geisteskranke etc. konnten auf diese Weise kriminalisiert werden. Menschen mit einer angeborenen Erbkrankheit (z.B. Menschen mit einem Down-Syndrom) wurden in der faschistischen Propaganda als Bedrohung der Volksgesundheit dargestellt. Diese galt es zu wahren. Die Sterilisation und Verhütung ‘unwerten’ Lebens wurde moralisch gerechtfertigt über eine sozialdarwinistische Propaganda der Nationalsozialisten. Interessanterweise wurde aber versucht, die T4-Aktion weitestgehend geheim zu halten, da die Reaktion der Öffentlichkeit (insbesondere der Kirchen) nicht kalkulierbar erschien. Der Personenkreis der Kriegsbeschädigten wurde in der NS-Diktatur zwar vernachlässigt, hatte aber hinsichtlich der rassischen und völkischen Ideologie nichts zu befürchten. Die Privilegien der Weimarer Zeit blieben weitgehend unangetastet.

Anders erging es den sogenannten Friedenskrüppeln, welche durch die Krüppelfürsorgestellen erfaßt waren. Insbesondere den Krüppeln, welche unter einer Erbkrankheit oder scheinbaren erblichen Krankheiten (z.B. Rachitis) litten, fielen unter die gesetzlichen Bestimmungen (vgl. Sachße/Tennstedt 1992, 174).

3.2.4 Zur Kategorie "Normalität":

Nach Vorstellung der Nationalsozialisten galt als normal, wer als funktionsfähiger erwerbstätiger Deutscher für den Erhalt und die Fortpflanzung der gesunden arischen Rasse lebte (vgl. Scherer 1990). Somit orientierte sich der Wert eines Menschen am Idealbild von Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Alle Menschen, die von diesem Ideal abwichen, galten als ‘asozial’ oder ‘behindert’. Sozialdarwinistisches Gedankengut trug dazu bei, diese marginalisierte Personengruppe als Bedrohung und Belastung der ‘Volksgemeinschaft’ und ‘Volksgesundheit’ zu empfinden. Nicht die ‘Behinderten’ galten als hilfsbedürftig, sondern das arische Volk, welches ansonsten dem Untergang geweiht sei (vgl. Fragner 1988, 12f. - behinderte Menschen in den Schulbüchern). Eine starre Normorientierung, welche ganz in den Diensten eines blutrünstigen Unrechtsstaates stand, duldete keine Abweichung. Schwäche und Hilfsbedürftigkeit wurden verachtet und galten als unmenschlich (unmännlich).

3.2.5 Zur Kategorie "Geschlecht":

Die ‘wertvolle’ Mutter im Sinne der Nazi-Ideologie versorgte ihren Mann und ihre Kinder und hielt den Haushalt ordentlich und sauber. Sie war zuständig für den Familienzusammenhalt. Der ‘Wert’ einer Frau bemaß sich nach ihrer Fruchtbarkeit und der Fähigkeit, Kinder im Sinne der arischen Normen zu erziehen (vgl. Scherer 1990, 38). Frauen sollten keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Von diesem Ideal blieb angesichts des im Krieg herrschenden Arbeitskräftemangel v.a. das Mutterideal lebendig.

Die allgemein rigiden Normvorstellungen galten in besonderem Maße für eine Frau. Frauen, die keine Kinder bekommen konnten und wollten, hatten gesellschaftliche Nachteile. Frauen, welche als ‘erbkrank’ und ‘asozial’ galten, sollten sterilisiert werden. Ihr Anteil an den sterilisierten Personen betrug nach Fragner (1988, 18) in etwa 50%. Da Frauen in den Anstalten und Krankenhäusern überproportional vertreten waren, wurden vermutlich viele von ihnen Opfer der T4-Aktionen. Leider finden sich in den von mir recherchierten Büchern und Artikeln keine weiteren geschlechtsspezifischen Angaben.

3.3 Bundesrepublik Deutschland (ab 1949) - Das Schwerbeschädigtengesetz von 1953:

3.3.1 Ausgangslage:

Der Ausgang des zweiten Weltkriegs hatte sozialpolitisch gesehen wesentlich größere Probleme zur Folge als dies nach dem ersten Weltkrieg der Fall gewesen war. Nach zwei Weltkriegen innerhalb von drei Jahrzehnten war ‘Krieg’ zur dominierenden Ursache von Körperbehinderungen geworden. Sieben von zehn Körperbehinderten waren Kriegsopfer, in der Gruppe der 25- bis 45-jährigen Männer waren es sogar neun von zehn (vgl. Fandrey 1990, 195). Die Volkszählung von 1950 erfaßte in der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland 1,2 Millionen anerkannte Kriegsbeschädigte. Davon galten 675.000 Personen als Kriegsbeschädigte mit einer Erwerbsminderung von 50% und mehr.

Nach einer relativ langen Zeit der rechtlichen Zersplitterung in den verschiedenen Bundesländern und der Abhängigkeit von den Besatzungsmächten, war deutlich geworden, daß der z.T. übernommene Rechtsrahmen der Weimarer Zeit keine ausreichende Basis für ein einheitliches Schwerbeschädigtengesetz bieten konnte (vgl. Weber 1998, 2). Zum einen war die Ausgangslage in ihrer sozialen Dimension eine andere, zum anderen wurde bereits Anfang der 50er Jahre deutlich, daß der wirtschaftliche Aufschwung einen zusätzlichen Arbeitskräftebedarf bewirken würde. Es ging deshalb darum, den Kriegsbeschädigten Möglichkeiten der beruflichen Integration und Rehabilitation zu bieten. Dies mußte in einem Rahmen geschehen, welcher die staatlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten nicht überschritt.

3.3.2 Gesetzliche Grundlagen:

Das Schwerbeschädigtengesetz, welches am 5. Mai 1953 vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde, trat rückwirkend am 1. Mai 1953 in Kraft. Mit besonderen Modifizierungen wurde es auch in Berlin (West) wirksam8. Übergeordnetes Ziel des Gesetzeswerkes ist die Förderung der beruflichen (Wieder-) Eingliederung der Schwerbeschädigten. Zu diesem Zweck verpflichtet das Gesetz Verwaltungen der öffentlichen Hand und Anstalten des öffentlichen Rechts, Banken und Versicherungen zu 10%, öffentliche und private Betriebe zu 8% anerkannte Schwerbeschädigte zu beschäftigen. Die Einstellung sogenannter Schwerstbehinderter (ab 80% MdE) darf doppelt angerechnet werden, Aufträge für Heimarbeit können die Zahl der Pflichtplätze verringern. Erfüllt ein Arbeitgeber die Pflichtquote nicht, so ist er gesetzlich verpflichtet für jeden unbesetzten Pflichtplatz pro Monat eine Ausgleichsabgabe von 50,-DM zu zahlen (vgl. Harmsen 1988, 13). Die Zahlungen sollen für Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation von Schwerbeschädigten eingesetzt werden. Verweigert der Arbeitgeber die Erfüllung der Pflichtquote oder erteilt hinsichtlich der Bestimmungen des Gesetzes falsche Auskünfte, so droht der Gesetzgeber mit drastischen Geldbußen bis 5000,-DM (vgl. Fandrey 1990, 197).

Bei einer Kündigung eines Schwerbeschädigten benötigt der Arbeitgeber die Zustimmung der zuständigen Hauptfürsorgestelle.

3.3.3 Personenkreis:

In den Schutzbereich des Gesetzes sollten in erster Linie und uneingeschränkt Menschen einbezogen werden, die durch eine im Dienst für die Allgemeinheit erlittene gesundheitliche Schädigung in ihrer Erwerbsfähigkeit um wenigstens 50 v.H. gemindert waren. Damit wurden mit diesem Gesetz nahezu 800.000 Schwerbeschädigte in den Schutzbereich des Gesetzes einbezogen (vgl. Weber 1998, 3). Gleiches galt für schwerbeschädigte Arbeitsopfer. “Insgesamt wurde von einer Gesamtzahl von 885.000 Kriegs- und Arbeitsopfern ausgegangen, wovon wieder die völlig arbeitsunfähigen und die selbständigen Schwerbeschädigten abgesetzt wurden, da auch das neue Gesetz, wie das bisherige Recht, nur die Beschäftigung als Arbeitnehmer regelte” (ebd. 3).

Neben den Kriegs- und Arbeitsopfern bezog das Gesetz die Versehrten Verfolgten des Nationalsozialismus und die Blinden explizit mit ein (vgl. Fandrey 1990, 196).

3.3.4 Zur Kategorie "Normalität":

Normalität nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 waren Hunger, Tod, Vertreibung, Krankheit und Zerstörung. Neben den Kriegsversehrten flüchteten an die 10 Millionen Menschen in das Gebiet der späteren zwei deutschen Staaten. Für die Bundesrepublik wurde die aus der Zerstörung der Städte entstandene Wohnungsnot, welche durch die massive Zuwanderung von Flüchtlingen noch verstärkt wurde, zur größten Belastungsprobe der Nachkriegszeit. In dieser Zeit der allgemeinen Entbehrungen konnten behinderte Menschen nicht auf die gesellschaftliche und staatliche Solidarität zählen. Gleiches galt zunächst für die Kriegsbeschädigten, welche neben den physischen Schädigungen z.T. erhebliche psychische Belastungen und Probleme (z.T. aus dem Krieg oder der Kriegsgefangenschaft) mitbrachten. In dieser Situation verboten die Alliierten im Rahmen der Entmilitarisierung Deutschlands besondere Renten- und Versorgungsansprüche an Kriegsbeschädigte.

Erst nach und nach entsteht mit der Etablierung der beiden ideologisch konträren deutschen Staaten ein neues Gemeinwesen. Während sich die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) als spätere DDR planwirtschaftliche Strukturen nach dem Vorbild der Sowjetunion gibt, orientieren sich die drei westlichen Besatzungszonen an den kapitalistischen Vorstellungen v.a. der Amerikaner (vgl. Turner 1989). Im Westen ist man der Ansicht, daß angesichts der zerstörten Wirtschaftsstrukturen eine Gesetzgebung vonnöten ist, welche optimale Bedingungen und Anreize für das private und öffentliche Kapital bietet.

In diesem Sinne ist auch das Schwerbeschädigtengesetz von 1953 zu verstehen. Es geht in erster Linie um die Normalisierung des wirtschaftlichen Lebens. Mit der Gründung der Bundesrepublik nehmen die Deutschen die Gestaltung ihres Gemeinwesens in weiten Teilen wieder selbst in die Hand. Ähnlich wie nach dem ersten Weltkrieg setzt sich eine starke Lobby ehemaliger Soldaten und führende Politiker für die Kriegsbeschädigten ein. Das Schwerbeschädigtengesetz akzentuiert in diesem Sinne einseitig die Anliegen der aus dem Krieg zurückkehrenden versehrten Soldaten. Man spricht in der Bundesrepublik von “echten” und “unechten” Schwerbeschädigten: “unechte” sind u.a. die von Geburt an Behinderten (vgl. Fandrey 1990, 196). Auf diese Weise trägt das Schwerbeschädigtengesetz dazu bei, politische und gesellschaftliche Interessen von Menschen zu befördern, welche in der Kontinuität deutscher Politik seit Beginn des Jahrhunderts stehen. Nicht von ungefähr bezeichnen Kritiker der Adenauer-Ära diese als Phase der ‘Restauration’ (vgl. Jantzen 1982).

3.3.5 Zur Kategorie "Geschlecht":

Normalität nach 1945 erscheint uns heutzutage eng verwoben mit den Bildern von Trümmerfrauen, welche den Aufbau des zerstörten Deutschlands in die Hand nehmen. Frauen bestimmen das gesellschaftliche und soziale Leben im zusammengebrochenen Deutschland. Anders als nach dem ersten Weltkrieg sind Millionen Frauen vom Krieg unmittelbar betroffen. Frauen sind durch die Bombenangriffe verletzt, verwundet und getötet worden.

Ein Wiederaufbau Deutschland wäre ohne die Arbeit und Leistung von Frauen nicht denkbar gewesen. Entgegen dieser faktischen Macht setzt mit der Rückkehr der versehrten Männer und mit der Übergabe der Macht durch die Alliierten an die Deutschen der Rückzug eines Großteils der Frauen in das Privatleben ein. Allzu lebendig scheint noch das Familienideal der Nationalsozialisten zu sein.

Die Politik, von Männern dominiert, unterstützt diese Entwicklung nachhaltig. Zwar galt das Schwerbeschädigtengesetz in Teilen auch für Kriegerwitwen (ihre Beschäftigung konnte angerechnet werden), Voraussetzungen hierfür waren aber, “daß eine Kündigungsfrist von mindestens 8 Wochen vereinbart und die Unterbringung von Schwerbeschädigten dadurch nicht beeinträchtigt wurde”

(Weber 1998, 7). Im Endeffekt bedeutet dies, daß Frauen nur insoweit von den Rechten des Schwerbeschädigtengesetzes Gebrauch machen können, als daß ihre Arbeitskraft wirtschaftlich erforderlich war. Normalität richtet sich somit bald schon wieder nach den Maßstäben männlicher Politiker und deren ökonomischen Interessen.

3.4 Neufassung des SBG von 1961:

3.4.1 Ausgangslage:

Im Zuge des ‘Wirtschaftswunders’ wurde schon bald nach der Verabschiedung des Schwerbeschädigtengesetzes 1953 deutlich, daß bei stetigem Wachstum der Wirtschaft die Zahl der Pflichtplätze die Zahl der unterzubringenden Schwerbeschädigten beträchtlich überstieg. Am 31. Januar 1955 waren von rund 670.000 Pflichtplätzen nur rund 390.000 Plätze besetzt, beinahe 300.000 Plätze standen offen. Damit hatte Anfang der 50er Jahre niemand rechnen können. Der Überhang an Pflichtplätzen erhöhte sich weiter, während die Zahl der arbeitslosen Schwerbeschädigten Ende 1960 bei ca. 6000 lag (vgl. Jung 1987, 5). Zu dieser Zeit wurden v.a. von seiten der Gewerkschaften Forderungen laut, den Personenkreis der vom Gesetz Betroffenen unabhängig von der Kausalität der Behinderung auszuweiten (vgl. Fandrey 1990, 199f.). Die Bundesregierung vertrat aber weiterhin die Ansicht der Kriegsopferverbände (z.B. VdK), daß der Staat denjenigen Personen gegenüber, welche ihre Behinderung im Zuge des Krieges oder eines Unfalles erlitten hatten, zu einer besonderen Fürsorge verpflichtet war. Eine Gleichstellung würde eine Benachteiligung dieser Gruppe implizieren (vgl. Weber 1998, 4). Außerdem wurde eine Ausdehnung des Personenkreises und somit eine zusätzliche Belastung für die Wirtschaft befürchtet (vgl. Jung 1987, 5).

Es gilt aber angesichts der wirtschaftlichen Situation, in der weitgehende Vollbeschäftigung und eher Arbeitskräftemangel herrschte, zu bedenken, daß es auch für diejenigen Personen, bei denen eine schwere Behinderung unabhängig von Krieg oder Unfall gegeben war, ausreichende Arbeitsangebote und -möglichkeiten gab.

3.4.2 Gesetzliche Grundlagen:

Durch das Änderungsgesetz vom 31. Mai 1961 sollte9 das Schwerbeschädigtengesetz den veränderten Verhältnissen angepaßt werden. Zum einen sollte insbesondere der dramatische Überhang an Pflichtplätzen für Schwerbeschädigte beseitigt und zum anderen das Verwaltungsverfahren vereinfacht werden. Die korrigierte Neufassung des Schwerbeschädigtengesetzes, welches am 8. Juli 1961 in Kraft trat, senkte die Pflichtquote generell ab und stellte Kleinbetriebe von der Beschäftigungspflicht frei (vgl. Weber 1998, 12).

3.4.3 Personenkreis:

Der Personenkreis, welcher unter den Schutz des Gesetzes fiel, blieb weitgehend unverändert. Lediglich eine geringe Anzahl an schwerbeschädigten politischen Häftlingen und Schwerbeschädigte aus dem zivilen Ersatzdienst wurde in den Wirkungskreis des Gesetzes aufgenommen. Das zunehmend umstrittene Kausalitätsprinzip blieb dabei aber unangetastet. Die Bundesregierung vertrat wie 1953 folgende Ansichten: “Von der Ausdehnung auf die Schwererwerbsbeschränkten wurde Abstand genommen, da hierdurch einerseits eine Benachteiligung der Kriegs- und Arbeitsopfer und andererseits eine unerträgliche Belastung der Wirtschaft zu befürchten ist. Wenn es auch Pflicht des sozialen Rechtsstaates ist, die in der Entfaltung ihrer Kräfte Behinderten, die Hilfsbedürftigen und Schwachen zu stützen, so muß das Gesetz in Anerkennung der Tatsache, daß die Schwerbeschädigten das gesundheitliche Opfer für das ganze Volk erbracht haben, diese Personenkreise bei der Eingliederung in das Arbeitsleben bevorzugen” (Regierungsbegründung 1953 zitiert nach Jung 1987, 5f.).

3.4.4 Zur Kategorie "Normalität":

Selten zuvor haben sich das Bild von Normalität und damit verbunden die Normen so schnell und nachhaltig verändert wie zu den Zeiten des Wirtschaftswunders. Lag Deutschland 1945 noch in Schutt und Asche, so gehörte die Bundesrepublik Deutschland gegen Ende der 50er Jahre bereits zu den reichsten und wohlhabendsten Staaten der Welt (vgl. Turner 1989).

Vollbeschäftigung und bescheidener Wohlstand waren zur Normalität geworden. Im Zuge einer zunehmenden Konsumorientierung konnten sich die Deutschen nach Jahren der Entbehrung wieder unerreichbar geglaubte Wünsche erfüllen. Die boomende Wirtschaft verlangte nach Arbeitskräften, die Anfang der 60er Jahre bereits aus anderen Ländern (z.B. Italien, Türkei) angeworben wurden. Das Schwerbeschädigtengesetz hatte unter diesen gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen eine völlig veränderte Bedeutung gewonnen. Sollte es ursprünglich den durch die Beschädigung erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen, so wurde angesichts von Vollbeschäftigung dieser zentrale Aspekt des Schwerbeschädigtengesetzes in Relation unbedeutend. Mit dem Wachsen der Wirtschaft und somit auch der staatlichen Steuereinnahmen stiegen die Ansprüche und Forderungen der Bürger an den Staat. In zunehmenden Maße wurde Kritik am Kausalitätsprinzip geäußert. Die Selbstverständlichkeit mit der die Lobby der Kriegsbeschädigten ihre Rechte im Unterschied zu den anderen Behinderungsgruppen durchsetzte, wurde auch mit der zeitlichen Distanz zum Krieg stärker in Frage gestellt.

3.4.5 Zur Kategorie "Geschlecht":

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der dadurch bedingt gestiegenen Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt lag ein ökonomisches Interesse an der Veränderung der traditionellen Frauenrolle vor. Frauen wurden als Arbeitskräfte gebraucht. Frauen wurden sich zunehmend ihres eigenen ‘Wertes’ bewußt und brachten ihre Interessen auch in politischen Belangen zur Sprache. Folgerichtig waren es in den Gewerkschaften, Sozialverbänden und in den politischen Organisationen v.a. Frauen, welche sich für eine grundlegende Reformierung des Schwerbeschädigtenrechts aussprachen. Sie lehnten die einseitige Orientierung an Kausalitätsprinzipien ab und verlangten, daß Behinderte unabhängig von der Behinderungsursache je nach Bedürftigkeit unterstützt werden sollten (vgl. Niehaus 1994).

Der Einfluß von Frauen in der ausgehenden Adenauer-Ära blieb aber begrenzt. So ist nicht überraschend, daß sich die leicht modifizierte Gesetzgebung von 1961 weiterhin an männlich konservativen Normen orientiert.

3.5 Das Schwerbehindertengesetz von 1974:

3.5.1 Ausgangslage:

In den 60er Jahren hatte sich nicht nur die wirtschaftliche, sondern v.a. auch die politische Situation in der Bundesrepublik weitreichend verändert. Erstmals wurde 1966 die Sozialdemokratie in einer großen Koalition an der Regierung beteiligt. Dies entsprach der gesellschaftlichen Stimmung, welche sich ab Mitte der 60er Jahre kritischer mit der Nachkriegspolitik der CDU-geführten Regierung auseinandersetzte (vgl. Turner 1989). Die Wirtschaft wuchs weiterhin beständig und Arbeitslosigkeit galt als ein Randphänomen. Somit konzentrierte sich die Öffentlichkeit und die politische Diskussion zum einen auf die Bewältigung und Verarbeitung der jüngsten deutschen Vergangenheit und zum anderen auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, welche stärker denn je als ungerecht empfunden wurden. In einer selbstkritischen Analyse wurde konstatiert, daß die Machteliten den Systemwechsel z.T. unbeschadet überstanden hatten (z.B. Wirtschaftskonzerne, Politiker) und daß gesellschaftliche Minderheiten sowie die sozial unteren Schichten von den Umwälzungen wirtschaftlich und gesellschaftlich nicht profitiert hatten. Im Staat wurde die zentrale Instanz gesehen, welche sich für eine gerechtere Verteilung der gesellschaftlichen und ökonomischen Ressourcen einsetzen sollte. Im Hinblick auf die Behindertenpolitik wurden die Forderungen und die Kritik der Gewerkschaften und anderer Verbände am bestehenden Schwerbeschädigtenrecht lauter. Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung konnte die SPD in einer Koalition mit der FDP ab 1969 endlich ihre eigenen Vorstellungen diesbezüglich in konkrete Politik umsetzen. In einem permanenten Dialog mit den Interessenverbänden der Behinderten, der Arbeitgeber und Gewerkschaften, hatte die Bundesregierung am 14. Mai 1970 ein weitreichendes ‘Aktionsprogramm zur Förderung der Rehabilitation der Behinderten’ vorgelegt. In diesem hatte die Regierung angekündigt, sie werde um verstärkte Maßnahmen bemüht sein, die den Behinderten in Beruf und Gesellschaft Chancen eröffnen, wo immer dies möglich sei (vgl. Jung 1987, 6). In diesem Aktionsprogramm findet sich unter anderem die Forderung nach einer Veränderung der gesetzlichen Grundlagen der Rehabilitation. Das in erster Linie zur Überwindung der Folgen des 2. Weltkriegs geschaffene Schwerbeschädigtengesetz sollte den Verhältnissen, insbesondere den modernen Gedanken einer umfassenden Rehabilitation aller Behinderten, angepaßt werden. Das Gesetzgebungsverfahren zog sich auch dadurch in die Länge, daß die Legislaturperiode im Herbst 1972 vorzeitig zu Ende ging (vgl. Weber 1998, 21). Interessanterweise wurde das Gesetz sowohl vom Bundestag als auch vom Bundesrat, nachdem es zuvor durch den Vermittlungsausschuß gehen mußte, beinahe einstimmig verabschiedet.

Es trat am 1. Mai 1974 in Kraft. Damit fand ein langer Prozeß der Auseinandersetzung um das Behindertenrecht einen erfolgreichen Abschluß. Der Zeitpunkt der fundamentalen Gesetzesnovellierung fiel aber bereits in eine Periode, in der sich v.a. die ökonomischen Verhältnisse zu verändern begannen. Mit der akuten Ölkrise und der daraus resultierenden Wirtschaftskrise 1973/74 wurde das ‘alte’ Recht erstmalig auf eine ernsthafte Bewährungsprobe gestellt. Seit dieser Wirtschaftskrise stellt Arbeitslosigkeit ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem dar, welches Schwerbehinderte in besonderem Maße zu bedrohen scheint.

3.5.2 Gesetzliche Grundlagen:

Mit dem ‘Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft’ (Schwerbehindertengesetz - SchwbG) war eine grundsätzlich neue Konzeption des Behindertenrechts verwirklicht worden. Nicht nur daß die Begrifflichkeit ‘Schwerbehinderung’ erstmals in die Gesetzgebung einfloß, damit verbunden war v.a. das Abrücken vom Kausalitätsprinzip zugunsten des Finalitätsprinzips. Jeder Mensch mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50% und mehr, sollte, unabhängig von der Ursache seiner Schädigung respektive Behinderung, unter den Schutz des Gesetzes gestellt werden (vgl. Schell 1984, 28). Die Begrifflichkeit ‘Schwerbeschädigung’ war somit rechtlich obsolet geworden.

Das Gesetz ordnete des weiteren das System der Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber und der Pflicht zur Zahlung einer Ausgleichsabgabe im Falle der Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht neu. Jeder Arbeitgeber mit 16 oder mehr Arbeitsplätzen, gleich ob Arbeitgeber der privaten Wirtschaft oder der öffentlichen Hand, wurde verpflichtet, mindestens 6% der Arbeits- und Ausbildungsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen. Die Ausgleichsabgabe wurde auf 100,-DM pro Monat für jeden nicht besetzten Pflichtplatz festgelegt, wobei die Zahlung die Pflicht zur Beschäftigung nicht aufhob (vgl. Jung 1987, 11). Der besondere Kündigungsschutz für Schwerbehinderte ist verstärkt worden. Jede Kündigung bedarf seit dem 1. Mai 1974 zu ihrer Wirksamkeit der vorherigen Zustimmung der Hauptfürsorgestelle. Die Stellung des Vertrauensmannes, der die Interessen der Schwerbehinderten wahrzunehmen hat, ist verbessert worden. Seine Rechtsstellung ist präzisiert worden, das Anhörungsrecht gegenüber dem Arbeitgeber ausgedehnt und ein Teilnahmerecht an allen Sitzungen der kollektiven Beschäftigtenvertretung und ihrer Ausschüsse gesetzlich verankert worden. Darüber hinaus ist der Zusatzurlaub mit dem Anspruch auf sechs echte Arbeitstage verlängert worden (vgl. ebd., 12). Das Gleichstellungsverfahren für Personen mit einer MdE von 30 und mehr Prozent ist vereinfacht worden (vgl. Weber 1998, 19).

Die Werkstätten für Behinderte sind in den Anwendungsbereich des Gesetzes einbezogen worden. Ihnen sind Hilfen eröffnet worden, die dazu beitragen sollten, die erforderlichen Arbeits- und Lieferaufträge zu beschaffen, um auf diese Weise den laufenden Betrieb der Werkstätten sicherzustellen.

3.5.3 Personenkreis:

Mit der Erweiterung des Personenkreises durch die Abkehr vom Kausalitätsprinzip stieg die Anzahl der vom Gesetz Betroffenen drastisch an. Lag die Zahl der Kriegsbeschädigten im Jahr 1966 bei etwa 1,9% der Bevölkerung (das waren ca. 800.000 Personen), so galten 1979 5,6% (das sind 3,4 Millionen Personen) als schwerbehindert (Statistisches Bundesamt 1981 zitiert nach Cloerkes 1997, 18f.). Der Personenkreis hatte sich binnen einer Dekade vervielfacht. Während die Zahl der Kriegsbeschädigten durch Ableben weiter sank, stieg der prozentuale und absolute Anteil alter Menschen, welche unabhängig der Ursachen als schwerbehindert eingestuft wurden. Durch den starken Anstieg der Zahl Schwerbehinderter und die verschlechterte wirtschaftliche Situation stieg die auch Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten dramatisch an. Fandrey (1990, 208) nennt für 1975 eine Zahl von 28.000; für 1984 bereits eine Zahl von 139.000 arbeitslosen Schwerbehinderten. Die berufliche Rehabilitation und somit die Eingliederung von Schwerbehinderten in das Arbeitsleben stellte eine große Herausforderung für die Politik und Wirtschaft dar. Die Zeiten der Vollbeschäftigung waren vorbei. Geeignete und der Qualifikation Schwerbehinderter entsprechende Arbeitsplätze wurden rarer, bzw. von der Wirtschaft in nicht ausreichender Zahl nachgefragt. Die Ausgleichsabgabe wurde von der Wirtschaft in zunehmendem Maße instrumentalisiert, um sich auf diese Weise von den Verpflichtungen, welche das Gesetz umreißt, freizukaufen.

3.5.4 Zur Kategorie "Normalität":

Mit dem Abrücken vom Kausalitätsprinzip orientierte sich das Schwerbehindertenrecht nicht mehr an der Ursache der Behinderung, sondern einzig und allein an der Bedürftigkeit der Personen (Finalitätsprinzip). Das Maß der Bedürftigkeit war die Minderung der Erwerbsfähigkeit, welche vom Versorgungsamt festzustellen war. “Das Lebensalter des Schwerbehinderten spielte keine Rolle, so daß auch Kinder und Jugendliche und über 65 Jahre alte Personen den Schutz des SchwbG haben” (Schell 1984, 28). Zentrales Anliegen des Schwerbehindertengesetzes blieb die berufliche Eingliederung der betroffenen Personen. Die Norm des behinderten Menschen wurde in den 60er Jahren und erst recht in den 70er Jahren nicht mehr geprägt vom geschädigten Kriegsteilnehmer, sondern wurde zunehmend ersetzt durch das Bild eines körperbehinderten Rollstuhlfahrers. Verstärkt wurde diese Umorientierung noch durch den in den 70er Jahren um sich greifenden Contergan-Skandal. Durch die verstärkte gesellschaftspolitische Aufmerksamkeit, z.B. durch das Hinterfragen von sozialen Bedingungen wurde die zuvor wie selbstverständlich gehandhabte Privilegierung der Kriegsbeschädigten offensichtlich. Versteckte Machtstrukturen wurden aufgedeckt und politisch zu Fall gebracht. Das Gesetzeswerk von 1974 kann insofern als gesellschaftlich-politischer Ausdruck seiner Zeit verstanden werden (vgl. Jantzen 1982).

3.5.5 Zur Kategorie "Geschlecht":

Durch das Finalitätsprinzip fielen erstmals Frauen in einer nennenswerten Zahl in den Bereich des Schwerbehindertenrechts. Dennoch orientierte sich die Gesetzgebung von 1974 ausschließlich an der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Über die implizite Norm der Erwerbsfähigkeit wurden Frauen durch das Schwerbehindertengesetz indirekt diskriminiert. Diese Norm deckt sich in erster Linie mit den biographischen Lebensentwürfen und Biographien von Männern.

Schwangerschaft und Erziehungsarbeit als sogenannte Reproduktionstätigkeiten einer Industriegesellschaft blieben im Kontext des Schwerbehindertengesetzes von 1974 unangesprochen. Frauen standen nur insoweit unter dem Schutz des Gesetzes, als sie sich an männlichen Lebensentwürfen orientierten. Ein umfassendes Recht, welches auch die Wünsche von schwerbehinderten Frauen hinsichtlich eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Beruf und Familienarbeit berücksichtigt, lag nicht vor. Die höheren Erwerbsquoten von Männern führten statistisch dazu, daß trotz einer etwa gleichen Zahl an Bedürftigen, Männer überproportional häufiger den Schwerbehindertenstatus erhielten (vgl. Schildmann 1999). Viele behinderte Hausfrauen stellten trotz eigener Bedürftigkeit diesen Antrag nicht (vgl. Niehaus 1994).

3.6 Das Schwerbehindertengesetz von 1986:

3.6.1 Ausgangslage:

“Sind wir ein Volk von Behinderten?” Diese Frage wurde von Kritikern der veränderten Gesetzespraxis immer wieder aufgeworfen. Es wurde der Umstand kritisiert, daß immer mehr Menschen in den Genuß von Vergünstigungen kamen, welche aus dem Schwerbehindertenstatus resultierten. Unsachlicherweise wurde Anfang der 80er Jahre eine Zahl von 8-10 Millionen Behinderten in die politische Diskussion eingebracht (vgl. 1987, 18). Angesichts der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der desolaten wirtschaftlichen Situation, in der sich die deutsche Wirtschaft nach der erneuten Weltwirtschaftskrise befand, wurden gesellschaftliche Ressentiments gegenüber Behinderten aus parteipolitischen Interessen instrumentalisiert. Es wurde der Umstand bemängelt, daß eine, in den Augen der Kritiker, zu große Anzahl von Personen Steuererleichterungen, Vergünstigungen im öffentlichen Nahverkehr, den Kündigungsschutz sowie den Zusatzurlaub in Anspruch nehmen konnte. Den tatsächlich bedürftigen arbeitslosen Schwerbehinderten würden die Regelungen des Schwerbehindertengesetzes dagegen nicht zur Integration in die Arbeitswelt verhelfen. Und es war tatsächlich ein Dilemma, in dem sich die Behindertenpolitik befand. Beispielsweise befanden sich am 31. Dezember 1982 3,3 Millionen Schwerbehindertenausweise, die Inanspruchnahme der unentgeltlichen Beförderung berechtigten, im Umlauf. Das waren fast 75% der zum gleichen Zeitpunkt anerkannten Schwerbehinderten (rund 4,5 Millionen). Bei Erlaß des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung war der Gesetzgeber aber nur von einer Quote von 45% ausgegangen. Für 1984 wurde ein Mehraufwand von 500 Millionen DM angenommen (vgl. Weber 1998, 40). Auf der anderen Seite stieg die Zahl der arbeitslos gemeldeten Schwerbehinderten bis 1987 kontinuierlich auf rund 127.000 an (vgl. Harmsen 1988, 17). Insbesondere für schwerbehinderte Berufseinsteiger wurde es zunehmend schwieriger, einen adäquaten Ausbildungs- und Arbeitsplatz zu finden.

Die Kritik war also insofern berechtigt, als daß es das Gesetz von 1974 nicht vermocht hatte, die umfassende berufliche Eingliederung und Rehabilitation von Schwerbehinderten zu gewährleisten. Von seiten der CDU, welche ab 1982 die Regierungsgeschäfte wieder übernahm, wurde gefordert, den Aspekt der beruflichen Eingliederung in einer Gesetzesnovelle stärker zu akzentuieren. Ein Hemmnis wurde nach Ansicht einiger Kritiker darin gesehen, daß der Terminus ‘Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit der Unfähigkeit zu Arbeitsleistung gleichgesetzt werde (vgl. Schimanski 1990, 78). Arbeitgeber scheuten sich deshalb - so die Argumentation - Schwerbehinderte neu einzustellen. Man solle den Terminus verändern und die Programme zur beruflichen Förderung Schwerbehinderter verstärken.

3.6.2 Gesetzliche Grundlagen:

Das grundsätzliche Konzept des Schwerbehindertengesetzes von 1974 wurde in der Neuregelung 1986 nicht in Frage gestellt. Alle Fraktionen waren der Ansicht, daß sich das Finalitätsprinzip in der Praxis mit Einschränkungen bewährt habe. Das wichtigste Ziel des neuen Gesetzes, welches am 26. August 1986 bekanntgegeben wurde, bestand darin, die Einstellungs- und Beschäftigungschancen der Schwerbehinderten auf dem Arbeits- und Ausbildungsstellenmarkt zu verbessern. Dieses Ziel sollte v.a. durch folgende Maßnahmen erreicht werden durch

1. Ersetzung des mißverständlichen und einstellungshemmenden Begriffs ‘Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) durch ‘Grad der Behinderung (GdB),
2. Nichtberücksichtigung der Ausbildungsplätze bei der Berechnung der Mindestzahl von 16 Beschäftigten und der Zahl der zu beschäftigenden Schwerbehinderten,
3. zeitliche Anpassung des Beginns des besonderen Kündigungsschutzes an den allgemeinen Kündigungsschutz (Einarbeitungszeit),
4. Zurückführung des Zusatzurlaubs von 6 auf 5 Tage bei der Fünftagewoche,
5. Erhöhung der Ausgleichsabgabe auf 150,-DM monatlich pro unbesetzten Pflichtplatz,
6. zusätzliche finanzielle Anreize für Arbeitgeber aus der Ausgleichsabgabe zur Einstellung und Beschäftigung besonders betroffener Gruppen von Schwerbehinderten,
7. Verbesserung der Chancen schwerbehinderter Auszubildender durch Sonderprogramme,
8. Verstärkung der Rechtsstellung der Schwerbehindertenvertretung und der Stellvertreter,
9. Überprüfung der seit 1974 ergangenen Anerkennungsbescheide (vgl. Schimanski 1990, 78; sowie Weber 1998, 41f.)

Der SPD-Fraktion ging der Gesetzestext nicht weit genug. Sie forderte beispielsweise eine drastische Erhöhung der Ausgleichsabgabe auf 400,-DM monatlich pro unbesetzten Pflichtplatz (vgl. Weber 1998, 42).

3.6.3 Personenkreis:

Der Personenkreis der von der Veränderung des Gesetzes betroffen war, veränderte sich nicht unmittelbar. Durch die erneute Überprüfung der Anerkennungsbescheide läßt sich aber vermuten, daß eine restriktivere Politik bezüglich der Anerkennung von Schwerbehinderung verfolgt wurde. Dadurch sollte die Zahl der Anspruchsberechtigten mittelfristig gesenkt werden. Insgesamt läßt sich aber konstatieren, daß sich das Alter der Schwerbehinderten aufgrund der demographischen Veränderungen sukzessive erhöht hatte. Von 5.371.634 Schwerbehinderten seien im Jahre 1986 mehr als 2,3 Millionen älter als 65 Jahre alt gewesen (vgl. Harmsen 1988, 16). Das entspricht einem Prozentsatz von 42,8%.

3.6.4 Zur Kategorie "Normalität":

Diese Zahlen belegen, daß entgegen dem gesellschaftlich verbreiteten Bild vom Behinderten, der ‘normale’ Schwerbehinderte über 65 Jahre alt war und nicht mehr im Erwerbsleben stand. Diese Entwicklung hat sich bis zum Ende der 90er Jahre weiter verstärkt (vgl. Kapitel 2.2.1). Leider hatte sich Mitte der 80er Jahre auf seiten der Arbeitgeber eine Normalität eingeschlichen, die man als Freikauf von gesellschaftlichen Verpflichtungen beschreiben kann. Anders als in den 60er und 70er Jahren wurde die Behindertenpolitik in den 80er Jahren zunehmend als wirtschaftliche Belastung empfunden (vgl. Weber 1998, 39). Das Bild von ‘Volk der Behinderten’ zeigt aber, daß die Behindertengesetzgebung von Teilen der Bevölkerung nicht mehr als berechtigte Unterstützung von individuell und gesellschaftlich Benachteiligten, sondern zunehmend als Privileg für ‘kranke Omis’ (vgl. Harmsen 1988, 16) empfunden wurde.

3.6.5 Zur Kategorie "Geschlecht":

Das Klischeebild von der alten, kränkelnden Großmutter erscheint angesichts der in dieser Arbeit skizzierten Entwicklung des Schwerbehindertenrechts nicht zufällig zu sein. Ist das Behindertenrecht ein neuer Schauplatz des ‘Geschlechterkampfes’ geworden? Diese Frage kann man getrost mit einem Nein beantworten, da es niemals anders gewesen ist. Die ‘patriarchale Männlichkeit’ fühlte sich angesichts einer Statistik um ihre Privilegien betrogen, welche Frauen eine höhere Lebenserwartung bescheinigte und in der die Zahl der Schwerbehinderten geschlechtsspezifisch beinahe paritätisch verteilt war. Zwar waren und sind Frauen im Schwerbehindertenrecht noch unterrepräsentiert, jedoch liegt die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Frauen deutlich über der schwerbehinderter Männer, die Diskrepanzen zu den bislang privilegierten Männern sind aber seit 1974 deutlich geringer geworden. Dazu beigetragen hat insbesondere die Frauenbewegung, welche in der Partei Die Grünen besonders stark vertreten war. Die Grünen wurden 1982 erstmals in den Bundestag gewählt und beeinflußten mit ihren zunächst sehr radikalen Forderungen die politische Kultur der Bundesrepublik nachhaltig. Dies hatte auch Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis. Die Frauenquote, anfangs belächelt, hat sich z.B. heute als Selbstverständlichkeit und gängige Norm in Wirtschaft und Politik durchgesetzt. Frauen konnten in den 80er Jahren somit wichtige Fortschritte in der Gleichstellung der Geschlechter erreichen, die wirtschaftliche Entwicklung mit einer stärkeren Akzentuierung der gewerblichen Arbeit lief dieser Tendenz aber entgegen. Familie und Arbeit miteinander zu vereinbaren, stellt in Deutschland für Frauen (und Männer), insbesondere für schwerbehinderte Frauen, eine große Herausforderung dar. In dieser Hinsicht ist das Gesetz von 1986 aber vieles schuldig geblieben.

4 Zusammenfassung und Fazit:

In dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, in einem ersten Teil das aktuell geltende Schwerbehindertenrecht zu umreißen. Im zweiten Teil wurde die Entwicklung des Schwerbehindertenrechts dargestellt. Dabei wurde die jeweils geltende Rechtslage nicht nur theoretisch erörtert, sondern auch in ihren Auswirkungen auf den konkret praktischen Vollzug des Rechtes reflektiert. Dies geschah in besonderem Hinblick auf die Kategorien ‘Normalität’ und ‘Geschlecht’.

Insgesamt wurde deutlich, daß die Bestimmungen des Schwerbe- hindertenrechtes nicht ohne Berücksichtigung des gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Hintergrundes gesehen und bewertet werden können. Es zeigte sich, daß vor allem ökonomische Bedingungen, wie die jeweilige Arbeitsmarktlage, sich nachhaltig auf die Gestaltung des Schwerbehindertenrechts auswirkten. Gab es eine große Nachfrage nach Arbeitskräften, so wurde die berufliche Integration von schwerbehinderten Menschen besonders forciert, gab es dagegen eine geringe Nachfrage, so wurde über Restriktionen im Schwerbehindertenrecht diskutiert oder das Angebot auf dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt (z.B. Werkstätten für Behinderte) ausgebaut.

Das Bild von Behinderten hat sich im Verlaufe der Entwicklung des Schwerbehindertenrechtes stark verändert. Wurde es bis in die 60er Jahre geprägt von den Kriegsbeschädigten, so sind es heute v.a. alte Menschen, welche die Norm des Schwerbehinderten kennzeichnen.

Unter geschlechtsspezifischen Aspekten betrachtet, zeigt die Entwicklung des Schwerbehindertenrechts, daß die politischen und sozialen Machtverhältnisse einer patriarchalen Kultur großen Einfluß auf die Verteilung und Ausprägung von rechtlichen Vergünstigungen haben. Über das Schwerbeschädigtenrecht nach den zwei Weltkriegen sicherte sich die militärische Führungsriege politisch-gesellschaftliche Privilegien und sorgte für eine rechtliche Kontinuität über die Systemveränderungen hinweg (Diktatur, Demokratie). Erst zum Ende der 60er Jahre wurde diese zweifelhafte Kontinuität in Frage gestellt. Begünstigt wurde dies durch die Vollbeschäftigung des Wirtschaftswunders. Mit dem Schwerbehindertengesetz von 1974 hatte sich die größte Veränderung des Rechtes ergeben. Die Privilegien der Kriegsbeschädigten fielen, zumindest, was den Sektor des Schwerbehindertenrechtes betraf. Trotz der positiven Konsequenzen, welche die Gesetzesreform für schwerbehinderte Frauen mit sich brachte, hat sich aber bis heute, was die grundsätzliche Orientierung des Schwerbehindertenrechts an der männlichen Norm der Erwerbstätigkeit betrifft, nichts verändert. Die wirtschaftliche Entwicklung mit Massenarbeitslosigkeit hat diese Tendenz eher verstärkt. Schwerbehinderte Frauen werden trotz aller Programme und Versprechungen durch das Schwerbehindertenrecht weiter direkt und indirekt benachteiligt.

Schwerwiegender und mittelfristig bedrohlicher für das Schwerbehindertenrecht erscheint mir aber eine andere Problematik, welche auch durch die Geschlechterdiskussion bislang verdeckt blieb. Es handelt sich um die gerechte Verteilung der sozialstaatlichen Belastungen zwischen den Generationen. Das Schwerbehindertenrecht begünstigt, unterstützt von der auf Wählerstimmen fixierten Politik, die Interessen der älteren Generation. Nicht nur im Renten- und Pensionsrecht, sondern auch im Schwerbehindertenrecht nehmen ältere Menschen rechtliche Privilegien in Anspruch, für die die jüngere Generation zahlen muß, ohne daß diese mit den vergleichbaren Vorteilen im Alter rechnen kann. Wurde das Schwerbehindertengesetz ursprünglich konzipiert, um schwerbehinderten Menschen bei der beruflichen Rehabilitation zu unterstützen, so ist es angesichts der hohen Sockelarbeitslosigkeit von Schwerbehinderten dieser Aufgabe nicht gerecht geworden. Allerdings stellen die Schwerbehinderten, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen mit nicht einmal 20% eine deutliche Minderheit im Personenkreis der Schwerbehinderten dar. Für mehr als 80% der Schwerbehinderten gelten zentrale Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes nicht (v.a. Schwerbehinderte über 65 Jahre). Der Schwerbehindertenstatus erlaubt aber die Inanspruchnahme diverser weiterer Vergünstigungen und Nachteilsausgleiche. Diese Privilegien werden von einer Politik protegiert, welche angesichts des Wählerstimmenanteils immer stärker von den Interessen der älteren Generation bestimmt wird. Die Politik steht in dieser Hinsicht vor einer gewaltigen Herausforderung, bei der es darum geht, einen neuen gesellschaftlichen Konsens über die Geschlechts- und Generationsgrenzen hinweg zu finden, bei dem schwerbehinderten Menschen die ihnen zustehenden Hilfen gewährleistet sind, ohne daß sich daraus neue soziale Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen ergeben.

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Verfasserin:

Claudia Smeets Rückertstraße 30 44147 Dortmund Tel.:0231/8280089

z.H.: Prof. Ulrike Schildmann

[...]


1 Eine ausführliche und übersichtliche Broschüre zur Wahl der Schwerbehindertenvertretung kann man beim Landschaftsverband Rheinland kostenlos anfordern. Neben dem Verfahren und der gesetzlichen Grundlagen finden sich dort mustergültige Vordrucke für Stimmzettel, Merkzettel u.ä.

2 Einen ausführlichen Überblick über die “Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderungen” gibt die gleichnamige kostenlose Informationsbroschüre des Landschaftsverband Rheinland (1997, Hg.).

3 Die genauen gesetzlichen Bestimmungen sind im Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr (UnBefG) fixiert.

4 Für Schwerbeschädigte gelten z.T. nach dem Sozialen Entschädigungsrecht weitere Vergünstigungen.

5 Die Maßnahmen, welche nicht näher präzisiert werden, beziehen sich vorwiegend auf Beschäftigungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst. Gesetzliche Veränderungen und Vorgaben, wie die Privatwirtschaft zur verstärkten Einstellung von Schwerbehinderten bewegt werden könnte, werden nur partiell angedacht (vgl. BMA 1998, 73f.).

6 Es ist schon bezeichnend, wenn die Bundesregierung die gestiegene Zahl an Werkstattplätzen als gelungenes Exempel der gesellschaftlichen Integration von behinderten Menschen anpreist (vgl. BMA 1999, 70f.).

7 Ausnahmen waren die Jugendämter, welche sich für ‘behinderte’ Kinder und Jugendliche einsetzten und die Krüppelfürsorgestellen, welche sich auf kommunaler Ebene etablierten und welche eng mit den größeren Anstalten und Krankenhäusern zusammenarbeiteten (vgl. Sachße/Tennstedt 1989, 132f.).

8 Für Berlin galt jedoch eine Sonderregelung insofern, als in den Schutzbereich des Gesetzes auch Personen aufgenommen wurden, deren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um wenigstens 50% infolge sonstiger gesundheitlicher Schäden bestand (vgl. Weber 1998, 12).

9 Leider fehlen in den von mir recherchierten Kommentaren detailliertere Auskünfte zur Gesetzesnovelle von 1961.

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Schwerbehindertenrecht
Hochschule
Technische Universität Dortmund
Autor
Jahr
2000
Seiten
59
Katalognummer
V104582
ISBN (eBook)
9783640029051
Dateigröße
511 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
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Schlagworte
Schwerbehindertenrecht
Arbeit zitieren
Manuel Höfs (Autor:in), 2000, Schwerbehindertenrecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104582

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