Ich möchte ein Cyborg sein


Trabajo de Seminario, 2001

12 Páginas, Calificación: 1


Extracto


Die Ursache der radikalen Unterschiede wie auch der scheinbaren Ähnlichkeiten zwischen postmodernem und nicht-modernem Modell ist nicht so schwer zu bestimmen. Wie schon sein Name sagt, stammt der Postmodernismus von einer Reihe von Übereinkünften ab, durch die sich die Moderne definiert hat. Geerbt davon hat er die Suche[...] nach absoluter Wahrheit, die Debatte zwischen Macht und Recht, die radikale Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Politik, Kants Konstruktivismus und den damit verbundenen Hang zur Kritik, doch er hat aufgehörtzu glauben, dass dieses unglaubwürdige Programm sich erfolgreich verwirklichen ließe.

Bruno Latour

Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charak-terisierung vor:die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.

Michel Foucault

Cyborgs sind respektlos. Sie können sich nicht an den Kosmos erinnern [...] sind ihrer Herkunft gegenüber häufig nicht allzu loyal. IhreVäter sind letzten Endes unwesentlich.

Donna Haraway

Ironie[gr.], Übertreibung od. Untertreibung einer Aussage, die durch die pointierte Diktion(im Gespräch auch durch Mimik) so weit zurückgenommen wird, dass sie spöttisch-distanziert eine we-sentl. Sache trifft.

mein rororo-lexikon von '66

EINE LANGE EINLEITUNG

Der Begriff Cyborg, eine Mischung aus cybernetics und organism, wird als Hybrid dem Bezeichneten durchaus gerecht. Diese Wortschöp-fung wurde von Manfred Clynes und Nathan Kline 1960 geprägt, im Zusammenhang von Fragestellungen, die um die Anpassungsprobleme des Menschen an ein Leben im Weltall kreisten 1- bien sûr und na- türlich, so könnte ein text zu 'cyborgs' oder zu Donna Haraways 'Pri- maten, Cyborgs und Frauen' gut und naheliegend beginnen, oder aber ebenso: „Analog der Deessentialisierung des Geschlechts in der femi-nistischen Philosophie setzt sich Haraway mit der Bewegung von der Naturalisierung zur Denaturalisierung des Körpers im Kontext der neu-zeitlichen westlichen Tradition auseinander ...2. Passabel. Allein, ein lebendigerer Beginn wäre - meine Meinung - ungleich passender, also Donna Haraway mit Verve im O-Ton: „Wir sprechen hierüber völlig neue Formen der Subjektivität,über Vorstellungen vom Menschen, die so niemals vorher auf diesem Planeten existierten.3Schwingt da nicht eine gewisse Tragweite mit, ein gar nicht zu subtiles 'achtung-free y-our mind' wir betreten Neuland? Dieser einstieg wäre schon ein deutli- ches mehr in die 'Richtung', in die ich vorzustoßen unbedingt nahe le- gen will. Inhaltlich mag ich diesem O-Ton aber nicht ganz zustimmen und die 'Richtung', die muss ich erstens selbst präzisieren, und die führt vor allem ohne Definition des Ausgangspunkts nirgends hin. Da- her zuerst, worum es hier nicht geht:

:Kein Überblick vom etymologischen Ursprung aus, nein, nicht die dritte-person-distanz-würdigung unter Schirmherrschaft wissenschaft- licher Standardwirklichkeit, nicht hier, keine Interpretation einer Hara- wayschen 'aussage' und keine Textanalyse also, und keine der Hara- wayschen Intention (zugegeben, bis auf gewisse anklänge vielleicht).

Ich sage also offen, ich knüpfe an das Manifesto mit einemAufruf an. Meinen emanzipatorischen Impetus und meine emotionale Befan- genheit sollen nicht irritieren, müssen nicht durch die Zeilen des Texts hindurch konstatiert werden, siesindimmanent. Statt dessen versuche ich die selten gespielte Eröffnung, durch explizite Vorwegnahme diesen Einfluss zu einem berechenbaren Faktor zu zähmen. Auch mit der Schreibweise, die ich zu diesem Essay probiere, möchte ich explizit und bewusst die aussage des Gesamttextes unterstützen und mit- definieren. Und, dieser Aufruf knüpft primär nicht (eine notwendig- nennenswerte Klarstellung) am Text der Autorin an. Er orientiert sich explizit nicht zeitgefrierend an den Sätzen, die in den Achtzigern ge- sprochen wurden sondern an dem Geschöpf 'cyborg'. Die cyborg, die bereits lange lebendig ihren Kreationsbrutkasten 'veröffentlichter Text' entstiegen ist und mithin seither die Dimension zeit gewonnen hat. Was heißt das?

Es existieren unabhängig von einander erstens die gedruckten Ha- rawayschen manifeste in buch-, artikelabdruck-, html-, Zettelform, die einen/den Text, relativ willkürlich an einem Punkt der Historie ausge- spuckt, für immer in der festgelegten Form reproduzierbar machen, dann zweitens die Auseinandersetzungen mit diesem Text, von der Zeitlinie stark abhängig, sich aber auf einen auf der Zeitlinie nicht mehr bewegenden Sprechakt beziehend, und last but not least die cy- borg selbst, lebendig, vom eingefrorenen Sprechakt befreit und damit von der Schöpferin Haraway, dem Kreationsmoment des Erstabdrucks und der Plazenta 'Text'. Die cyborg der Haraway lebt also, behaupte ich, und macht damit jede Hoffnung auf ein halbwegs authentisches oder nur möglichst einhelliges 'sich beziehen' zu nichte! Worauf? - auf das Wort cyborg?, - den begriff cyborg? (welchen?), - den Text hara- ways? (welchen Aspekt? oder unter welchem Aspekt?), - den Text da- mals?, heute?, - in jenem oder diesem historischen Kontext? (Am bes- ten nicht ausgesprochen sondern von der Empfängerin interpretierbar.) Jetzt wird deutlich, warum ich meine "unwissenschaftlichen" Ballast- körper emanzipatorischen Impetus und emotionale Befangenheit zuerst explizit zu machen habe und ebenso, dass ich dies klarzustellen habe, wenn ich mich nicht primär auf den Text sondern die lebendige cyborg beziehe. Ich beziehe mich also auf eine Konstruktion, die mittlerweise Erweiterungen und Verengungen erfahren hat. Es ist wahrscheinlich, nachdem ich so begonnen habe, dass manche fragen nun immer drin- gender werden. Ich werde aus dieser Annahme heraus daher zunächst zu erklären versuchen, - was nenne ich (warum)lebendigund wasDimension Zeit? · worauf will ich eigentlich hinaus?

Ich habe diesem Essay bereits den Untertitel „essayistischer Ver- such zumeinem'ein manifest für cyborgs'“ angehängt. Ich wollte von Beginn an die illusorische Vorstellung von Unparteilichkeit, Allgemein- gültigkeit und objektiver Basis zerstört wissen. Ich beziehe mich auf meinecyborg, weil sie fürmichlebendig ist. Kommt nun aber selbst in unserem standardisierten wissenschaftlichen Dialog keine Begriffskon- notation zweimal vor in ihrer spezifisch persönlich-kognitiven Färbung, so ist die uniqueness bei einer mir lebendigenundim Diskurs lebendi- gen Konstruktion erst recht eine bewusst zu machende Größe. Ich bin mir dieser Voraussetzungen bewusst und hier erkläre sie daher. Dass die cyborg lebendig ist, ist freilich ebenso willkürlicher Zufall wie Fak- tum. Das heißt, der Text hätte genauso "nur" interessant sein können. Er musste nicht auch noch etwas 'gebären, das sich über den Text hinaus von dem Text abkoppelnd, sich als vom Text unabhängig viabel erweist4und dennoch ist dem aber so.

Die cyborg hat eine Gestalt und ein Wesen von Haraway definiert bekommen, beides ist unveränderlich in den Buchstaben des kreativen Texts festgeschrieben. Ihrlebendig-seinallerdings hat ihre Gestalt und ihr wesen verändert, wobei es eine müßige Diskussion wäre, wieweit Donna Haraway das vielleicht mehr stört oder eher freut. Es existieren also zwei cyborg, die Harawaydefinierte festgeschriebene und die Ha- rawaygeborene lebendige. Erstere kennt die Dimension zeit nicht, wird allein durch den Ort beschrieben und dieser umfasst dann auch alle Koordinaten des 'Zeitpunkts' (innerhalb der Geschichte des Diskurses, der persönlichen Geschichte der Autorin und Wissenschaftlerin, in der universalen Historie eingewobene, etc.). Beziehen wir uns auf diese cyborg, so stört nur unsere eigene 'Lebendigkeit' die Betrachtung, un- sere einseitigen Bewegungen innerhalb der Dimension Zeit. Zweitere cyborg aber lebt ebenso wie wir, hat eine eigene Bewegung, hat und hatte zujedemZeitpunkt eigeneBewegungenin dieser Dimension. Sie hat eine eigene Historie.Historie-habeninkludiert aber auch, was die Soziologie Sozialisation nennt, die Psychologie interne Transformation, Michel Foucault das Archiv (Foucault1981), Heinz von Foerster die nicht-triviale maschine (NTM) (Gumin/Meier 1997), Noam Chomsky das Rätsel des „kreativen Aspekts des Sprachgebrauchs“ (Chomsky 1977) und vor allem, was Francisco J. Varela für die Kognitionswissenschaft die „Verknüpfung von Emergenz und Welterzeugung“ nennt (Varela 1990). Was wir letztlich in einem Moment über unsere Beziehung zur Harawaygeborenen aussagen können, das ist nur in jenen kurzen Mo- ment des Aussprechens gültig, es hängt nicht mehr nur und allein von unserer Geschichte ab. Als schmerzliche Konsequenz sagt es nicht län- ger automatisch etwas über unsere Relation zu der Autorin Haraway,

dem Text oder dem Diskurs der achtziger aus, innerhalb dem der Text als Sprechakt verwoben ist.

Die Harawaygeborene cyborg ist lebendig, weil sie sich als Idee, als Bild = Konzept = begriff, als wesen und als Idol entwickelt, nicht in einer Urfassung weiter Gültigkeit hat sondern mutiert, Dimensionen gewinnt, sich adaptiert, selbst reproduziert, fortpflanzt. Sie ist in "un- serer" Kognitiondoppeltlebendig, sie lebt, weil wir sie lebendig den- ken und lebt unabhängig von uns. Die Harawaygeborene ist Haraways direkten Einfluss genauso wie unserem entwachsen.Meinecyborg lebt also und ich denke sie unabhängig von der Harawaydefinierten, dem Text oder Donna Haraway. Klarzustellen ist dabei, dass die Identität5 der cyborg immer unangetastet bleibt. Es wird also nicht einfach zu einem anderen Zeitpunkt eine neue andere cyborg gedacht.

MEINE HARAWAY

Ich habe mit sehr allgemein relevanten Phänomenen eingeleitet. Dieser essayistische Versuch zielt aber nicht auf eine kritische Ausei- nandersetzung mit methodologischen Referenzproblemen, Sprechakt- "verortungen", Intentionsanalysen oder überhaupt der Krux der histo- rischen Wissenschaften ab. Manche Brücken zwischen den einleitenden Umwegen und dem Spannungsfeld Haraway-text-cyborg haben sich umgekehrt vielleicht bereits angedeutet. Zurück also zumeinem'mani- fest für cyborgs', der cyborg kritisch huldigend, Donna Haraway kri- tisch dankend.

Was ist das 'ein manifest für cyborgs' alles in zweiter Ordnung, ab- gesehen also davon, dass es ein Text und ein manifest ist? Viel. Unge- wöhnlich viel, was in meinen Augen auch als der direkte Hintergrund für die ungewöhnlich umfangreiche oder genauer definiert umfangreich und vielseitige Wirkung anzusehen ist. Man gebe nur die Suchbegriffe 'cyborg' und/oder 'Haraway' im internet ein, die fülle und die Ausprägung der Fülle indiziert schnell, 'ein manifest für cyborgs' ist: viel!

Ich könnte an dieser stelle ein weiteres mal negativ definieren und beginnen, was aus dieser fülle mir dieses manifestnichtist. Als nächs- tes müsste ich dann immer noch erklären, was mir der Text als mani- fest allesauchist. Dies wäre im folgenden seriöser weise mit meiner persönlichen taxonomischen Geographie zu ergänzen, was mir der Text zuvorderst wäre und danach und damit verbunden etc. Stattdessen will ich gleich die Aufmerksamkeit auf den mir wesentlichsten Punkt rich- ten, und es wird klar werden, warum weitere Irrwege und Erklärungen damit hinfällig werden. 'Ein manifest für cyborgs' ist mir nur eines wirklich, alles andere darin enthalten:

„Ich will euch dies jetzt näher erklären. Wenn es auch den Anschein hat, als ob ich damit vom eigentlichen Gegenstand etwas abschweife, so werdet ihr doch bald se-hen, dass gerade dies zur Sache gehört. So erfahrt also, ehrenwerte Freunde, dass von den Schöpfungen dieses Königs eine besonders rühmlich hervorzuheben ist [...], die wir 'das Haus Salomons' nennen. Es ist dies unserer Ansicht nach die hervorra- genste Schöpfung dieser Art auf der Erde, ...“Francis Bacon, Neu-Atlantis EineUtopie.

'Ein manifest für cyborgs' von Donna Haraway ist 'politeia' von Pla- ton ist 'Utopia' von Thomas More alias Morus ist 'Neu-Atlantis' von Francis Bacon ist auch 'Also sprach Zarathustra' von Friedrich Nietz- sche ist einepositive Utopie heute. Voilá. Ich komme mit seltener Ein- dringlichkeit und Wucht nur zu diesem Ergebnis, wenn ich diesen Text soziologischlese, und mir erscheint gar dies das einzig mögliche "Er- gebnis" zu sein, die sich logisch aufzwingende Kategorie. Verstehe ich das manifest nun grundlegend als Utopie in der oben angedeuteten reihe, so muss sich die Rezeption des Texts, das VerhältnisHaraway-text-cyborgmaßgeblich verändern. Jetzt ist plötzlich natürlich nahelie- gend, dass meine lebendige cyborglebendigist. Jetzt werden emanzi- patorischer Impetus und emotionale Befangenheit vor einem anderen Beurteilungshintergrund erscheinen, das Bekenntnis zur Kategorie 'Aufruf' verständlich. Und Donna Haraway? Der Autorin Intention, die ich nicht interpretieren wollte, vielleicht aber doch ein wenig, wie eingangs angedeutet hatte?

Dieser Essay versucht, einen ironischen, politischen Mythos zu ent-wickeln ,“ beginnt Donna Haraway das manifest. Steckt da nicht bereits der Aufruf zur Verselbstständigung, zur 'Lebendigkeit' als Keimzelle im ersten Satz des Texts. Liegt nicht nahe, dass die Autorin um die Unvermeidlichkeit der relativen enge ihrer Definition wissend, dass sie da den Raum für das sich befreiende weiterwachsende Kon- zept nicht schon geschickt vorpräpariert hat? „Cyborgs sind [...] Ge-schöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion. Gesell- schaftliche Wirklichkeit [...] ist unser wichtigstes politisches Konstrukt, eine weltverändernde Fiktion.“ Donna Haraway ist das Gegenteil von naiv. Sie kann erahnen, das die unvermeidliche engeihrerindividuelle Historie in ihre Definition einfließen muss, ebenso der konkrete aber letztlich willkürlichen Zeitpunkt ihres Sprechakts innerhalb der Diskur- se und der universellen Historie. Sie geht dem Zwiespalt zwischen e- manzipatorischen Impetus und emotionaler Befangenheit auf der einen Seite und der angst vor der Lächerlichkeit, die Welt verändern zu wol- len nicht ins rückgratzerbrechende Netz. Stattdessen lässt sie Impetus und Befangenheit selbstverständlich sein, versucht es mit einem im glücklichsten Fall viablen Mythos. Sie lässt die ihre Arbeit, die Kon- struktion cyborg als Idee, als Virus auf die gesellschaftliche Wirklich- keit los, und sie weiß, sie muss ihr Geschöpf Geschöpf sein lassen, wenn es eine Chance haben soll. „Sie ist oppositionell, utopisch und ohne jede Unschuld.“ Also tritt sie zurück, tritt in ihre eigene Historie zurück, um der anderen alle Möglichkeiten mitgegeben zu haben, sich eine eigene zu konstruieren, “Cyborgs sind respektlos. Sie können sich an den Kosmos nicht erinnern. [...] Ihre'Väter'sind letzten Endes un-wesentlich.“ So ausgestattet setzt Donna Haraway ihr Geschöpf in der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus, lässt diese die Ausbildung über- nehmen und liefert ihrer Tochter damit die Gesellschaft zur Verände- rung aus. “Die Allgegenwart und Unsichtbarkeit dieser Cyborg [...] sind der Grund ihres tödlichen Potentials.“ (Donna Haraway kritisch dan- kend.)

MEINE CYBORG

Die Harawaygeborene ist die Verkörperung der positiven Utopie. Die cyborg ist oppositionell, utopisch und ohne jede Unschuld. Meine cyborg ist meine positive Utopie:

Oppositionell. Sie kann, wovor ich zurückschrecke, sie lässt Foucault hinter sich, geht über Richard Rorty hinaus, sie muss nicht überzeugen, nicht konziliant sein, sie ist resistent gegen Ermüdung und Zweifel. Weil sie nie naiv war, ist ihre Opposition nie Reflex oder Rache. Sie ist nicht korrumpierbar.

Utopisch. Sie hört nie auf. Die cyborg bleibt nicht irgendwann in ih- rer prägenden Sozialisation gefangen, wird nicht durch das tempo der Geschichte überfordert, sie entwickelt nicht die spezielle Relativitäts- theorie und verweigert sich dann der Quantenmechanik, sie überwindet nicht Hegel, um dann erschöpft dem Kommunismus zu verfallen, de- konstruiert nicht machtvolle Mythen und meint, damit das ende der Geschichte erreicht zu haben. Sie schreitet weiter und bleibt utopisch.

Frei von jeder Unschuld! - war alles bis hier herschöneUtopie, so entwickelt sich jetzt diepositive Utopie. Mochte bis hier her romanti- sche Naivität hinter der emotionellen Befangenheit stehen, mochte der emanzipatorische Impetus potentiell zum persönlichen back-lash wer- den, so entwickelt sich hierDie Utopie. Die Utopie als realistische ge- sellschaftliche Fiktion, als politisches Programm, als konkrete Zukunft.

Frei von jeder Unschuld. Das ist übersetzbar mit unabhängigem Selbstbewusstsein, unabhängiger Selbstdefinition und unabhängiger Kognition. Ihre Unabhängigkeit ist wirklich und endgültig. Der basale unterschied ihrer endgültigen zur relativen Unabhängigkeit sind die Nebenwirkungen des "in Opposition" erstrittenen. Ihres ist nicht ein "in Opposition" entwickeltes Selbstbewusstsein des Menschen, der sich ein Leben lang von Zwang ausübender macht emanzipieren will. Ihre Selbstbestimmung ist nicht die "in Opposition" gewonnene Selbstdefi- nition des Menschen, der sich von einer ihn unterwerfenden Struktur loslösen will. Und die Wahrnehmung, das denken der cyborg hat nichts zu tun mit der "in Opposition" befreiten Kognition des Menschen, der sich vom telos des bestimmten Schicksals abnabeln will. Ihre Unab- hängigkeit macht also den basalen Unterschied zu einem Foucault, der sich von Hegel befreien wollte, ihm aber nie entkommen konnte, macht den unterschied zu einem Popper, der den glauben an die ‚geschichtli- che Notwendigkeit’ ausrotten wollte und seinem glauben an Gott nicht entgehen mochte, macht den unterschied zu dem empirischen Positi- visten, der sich in der herrschenden standardisierten metaphysischen Sprache beweisen müsste, zum systemischen Konstruktivisten, der in die dominante analytisch-rationalistische Sprache übersetzen sollte, zur Feministin, die um dem Sprachgebrauch der Great White Men in letzter Konsequenz nicht entkommen kann. Alle brauchen die Tradition des Kampfes und die Gegenwart der Gegnerschaft. Es gibt keinen Tri- umph, ohne die mittel und Werkzeuge des überwundenen selbst ange- nommen zu haben, keinen sieg, ohne vom Gegner geprägt geworden zu sein, kein entwachsen, ohne in Opposition entwachsen zu sein.

Donna Haraway bekennt sich im ersten Satz des Manifests zu der Kognition des Feminismus, Sozialismus und Materialismus und stellt damit auch klar, dass sie einer gewissen Sozialisation gar nicht ent- kommen könnte während sie uns ein bewundernswert hohes Maß an Unabhängigkeit vorführt. Ihr Geschöpf, die lebendige cyborg aber ist die Unabhängigkeit per se. Für mich ist es dieser "Charakterzug", der den Kristallisationspunkt für die universelle positive Utopie ausmacht. In der Konstruktion der cyborg bündeln sich die einzelnen Kampfansa- gen vom Wiener Kreis über die radikalen Konstruktivisten, von Popper oder Goffman, Lacan und Foucault, Freud bis Piaget, Camus, Habermas und Rorty, Butler und Harding, von Manturana bis Chomsky. Es steht auch in dieser Tradition, wie Haraways 'ein manifest für cyborgs' sich ganz energisch gegen die Trennung von Wissenschaft und Politik rich- tet.

MEIN TEXT

Mein Credo zusammenfassend, will ich also zu dem Experiment auf- rufen, 'ein manifest für cyborgs' nochmals neu als Utopie zu lesen. Ich schlage vor bewusst und vorsätzlich die eigene Wahrnehmung, die "re- lativ unabhängige" Kognition marginal aber wesentlich zu verschieben. So soll programmatisch der Zeitpunkt der Universalgeschichte in die Kognition einbezogen werden mitallenRichtungen, zusätzlich zur viel- leicht automatisch mitgedachten Richtung der ‚feministischen Wissen- schaftskritik’. Der Text wird als universale, untrennbar wissenschaftli- che wie politische Utopie zu Beginn dieses Jahrhunderts gelesen und die vielen ‚neuen’ Kognitionen unserer zeit werden im Lesevorgang le- bendig gehalten6.

Dieses Experiment löst den Text von Donna Haraway und den acht- ziger Jahren. Er wird runder und unabhängiger, der Cyborgmythos le- bendiger und konkreter. Hatte Donna Haraway drei für die Kreation der cyborg relevante niederbrechende grenzen angeführt, so löst sich jetzt ein rapide Konsistenz gewinnender Umbruch aus dem Nebel des schwierig benennbaren. Die grenzen zwischen Tier und Mensch, zwi- schen Organismus und Maschine, zwischen physikalischem und nicht- physikalischem benennt materielles und erleichtert, eine solche unphy- sische grenze als relevant zu denken. Der Text als Utopie gelesen macht eine selten im Streiflicht aufblitzende schemenhafte grenze deutlich sichtbar. Den Hadrianswall nämlich zwischen Sklave und Herr, die ewige Grenze zwischen Selbstbestimmung und Sendung, Freiheit und Schicksal, Gerechtigkeit und Moral, zwischen Wahrheit und Objek- tivität, Subjekt und höherem Ziel. Werden erster drei grenzen laufend penetriert und perforiert durch Biologie und Evolutionstheorie, durch Quantentheorie und Unschärferelation, durch Medizin und Technologien fortschritt, so erodiert die grenze zwischen Subjekt und höherem Ziel durch die Arbeit der Wissenschaftsforschung, Wissenssoziologie, Kom- munikationsforschung, vergleichender Psychologie, feministischer Wis- senschaftskritik, evolutionärer Epistemologie, Linguistik, Rechtswissen- schaften, ... diese grenze wird durch das vordringen von sozialwissen- schaftlich betriebenen Wissenschaften7und ihrem wissen zersetzt.

Die Utopie, von der ich glaube, dass sie greifbar begreifbar werden sollte, wenn man dieser Versuchsanordnung meines Aufrufs eine Chan- ce gibt, sie ist nicht weniger als der breitere soziale Wandel mit dem universellen Paradigmawechsel, umfassender als zu Renaissance und Humanismus, breiter als die Aufklärung oder tiefgreifender als die tief- greifenden Veränderungen in den Jahrzehnten rund um den ersten Weltkrieg.

Ist die cyborg der neue Mensch Platons, Bacons oder Nietzsches?Der cyborg ist’s egal, mit Hegel hat sie Platon, Bacon und Gott mit ihren Utopien obsolet gemacht, hat sie wie ihre anderen Väter aus der Kognition in die Geschichte verbannt.

LITERATURVERZEICHNIS

Bacon, Francis:Neu-Atlantis; Stuttgart 1997

Chomsky, Noam:Reflexionen über die Sprache; Frankfurt am Main 1977 Foucault, Michel:Was ist Kritik?; Berlin 1992

Foucault, Michel:Archäologie des Wissens; Frankfurt am Main 1981

Gumin/Meier(Hg.):Einführung in den Konstruktivismus; München 1997

Haraway, Donna J.:Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen; Frankfurt/New York 1995

Latour, Bruno:Die Hoffnung der Pandora; Frankfurt am Main 2000

Piaget, Jean:Einführung in die genetische Erkenntnistheorie; Frankfurt am Main 1996 Popper, Karl:Das Elend des Historizismus; Tübingen 1987

Rorty, Richard:Philosophie und Zukunft; Frankfurt am Main 2000

Varela, Francisco J.:Kognitionswissenschaft-Kognitionstechnik; Frankfurt am Main 1990 Veyne, Paul:Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte; Frankfurt am Main 1992 Principia Cybernetica Project (PCP): http://pespmc1.vub.ac.be/DEFAULT.html

[...]


1http://www.konsum.net/server/Graz/transformoativ/CYB2FEM.HTM; 20.06.00 10:57

2Carmen Hammer und Immanuel Stieß in der Einleitung zu Haraway 1995, S. 9-10

3http://buchverlag.dumont.de/null/scholl/text3a.htm; 20.06.00 10:50

4an dieser stelle muss ich klarstellen, dass ich sehr wohl immer nur vondiesercyborg spreche, diedieserText geboren hat und dass es naturgemäß auch noch andere „gleichnamige“ cyborgs geben wird. Obschon dies ein weiteres behandelnswertes Problem situierter Perspektiven ist, möchte ich es in diesem Fall (ein wenig willkürlich) bei einer kurzen Fußnote belassen.

5Das Wort Identität steht an dieser stelle sehr konkret und ausschließlich für den Begriff Identität wie ihn Jean Piaget verwendet (Piaget 1996, S. 62-68)

6für manche habe ich die oben genannten Namen stellvertretend angeführt

7und der Lächerlichkeit der theologischen und teleologischen "Geisteswissenschaften"

Final del extracto de 12 páginas

Detalles

Título
Ich möchte ein Cyborg sein
Universidad
University of Vienna
Curso
Seminar
Calificación
1
Autor
Año
2001
Páginas
12
No. de catálogo
V104502
ISBN (Ebook)
9783640028320
Tamaño de fichero
372 KB
Idioma
Alemán
Notas
Ein hoffentlich anregender, vielleicht verstörender Essay zu Donna Haraways berühmten `Ein Manifest für cyborgs` inklusive einer persönlichen "Interpretation" und dem ebenso persönlichen Vorschlag, das Experiment einer gewissen Lesart zu versuchen.
Palabras clave
Cyborg, Seminar
Citar trabajo
Christian Voigt (Autor), 2001, Ich möchte ein Cyborg sein, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104502

Comentarios

  • visitante el 25/5/2005

    Weiterführendes.

    Ein weiterführender Link, der mir als Einstieg in die Cyborgproblematik sehr viel gebracht hat:

    Patrick Stary, Ruth Sarrazin - Cyborgs @ Postmoderne - Zur Cyborgtheorie Donna Haraways.

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Título: Ich möchte ein Cyborg sein



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