Beyer, Marcel - Flughunde, Analyse der Leitmotive #


Presentation / Essay (Pre-University), 2000

4 Pages, Grade: 14 Punkte


Excerpt


Als Schwerpunkt habe ich folgende Motive besonders ins Auge genommen:

1.) Die Flughunde
2.) Hunde und Tiere
3.) Luft/Atem

Alle drei Motive ziehen sich wie ein roter Faden durch den ganzen Roman, werden teilweise miteinander verknüpft und sind darüber hinaus auch wichtig für die Wirkung und Intention des Romans.

1.) Die Flughunde:

„ Flughunde: Gattung Flederhunde; Schwanz fast stets kurz zurückgebildet; Kopfform häufig hundeähnlich; Augen gro ß, hoch lichtempfindlich, ermöglichen die Orientierung bei Nacht. “

So werden die Tiere, nach denen Marcel Beyer seinen Roman benannt hat, im Lexikon definiert.

Die erste Begegnung mit diesen Kreaturen erfährt der Leser schon relativ weit am Anfang des Romans. Er vergleicht die Gesten der Taubstummen mit dem Flattern von Flughunden [S. 15]. Dieser Vergleich geschieht ohne jeglichen Bezug. Hieße der Roman nicht Flughunde, so wäre der Leser an dieser Stelle vielleicht irritiert oder würde einfach drüber hinweglesen. Doch schon hier wird das Wort Flughunde eng mit dem Tag/Nacht- und Dunkelheitsmotiv (das ja auch die Definition vermuten lässt) verknüpft. „Wie Flughunde flattern die Arme lautlos zwischen Tag und Nacht“. Im folgenden schildert Karnau die erste Begegnung mit den Fledermäusen in der Turnhalle. Er legt hier [S. 19] Betonung auf das „Zittern des Fledermausleibes“, das er bis zur Gegenwart nicht vergessen kann. Als „schwarze Kreatur“ bezeichnet er die Tiere, von denen er in seinem Zigarettenbilder-Album ein Bild hatte. Auch hier [S. 20] betont er ausdrücklich, dass diese Tiere, die in Gemeinschaft leben, Nachttiere sind. Eine ähnlich Stelle folgt ein wenig später [S. 43]: „Niemals flogen sie bei Sonnenlicht.“

Helga und ihre Geschwister werden, nachdem sie bei Karnau nun gewohnt hatten, von diesen Tieren unterrichtet. Hieran sieht man, dass diese Tiere von wirklicher Wichtigkeit für Karnau sind, da er den Kindern, die er noch gar nicht so lange bei sich hat, direkt von den Flughunden erzählt [S. 51]. Wenige Menschen hätten diese Flughunde jemals gesehen, wenig Menschen wüssten von dieser Existenz. Aber es gäbe in der Realität diese „Hunde, die fliegen können“.

Die Flughunde tauchen über lange Strecken des Romans und von der Erzählzeit her mehrere Jahre lang nicht mehr auf. An dieser Stelle ist ein deutlicher Schnitt. Denn hier steht nun [S. 164 ff.] der „tierische Ursprung der Sprache“ und die Lauterzeugung im Mittelpunkt. Exakt werden die Flughunde beschrieben, wie sie Geräusche produzieren, kopfüber am Holz hängen und sich gegenseitig warnen. Eine neue Gestalt in diesem Zusammenhang ist Moreau. Die Kinder finden ihn, nachdem Karnau die Stelle im Sanatorium bekommen hatte, mit den Flughunden vor. An dieser Stelle wird die Phantasie mit der Realität verknüpft: „Und nun beobachten wir wirkliche Flughunde ... als träten sie aus dem gemalten Bild hervor.“ [S. 173] Moreau hat die Flughunde aus Madagaskar mitgebracht, im Sanatorium werden nun Versuche mit diesen Tieren gemacht. Ein anderes Leitmotiv, nämlich Stimmen, Frequenzen und Töne, trifft nun mit den Flughunden zusammen. Die Forschung nach Klangwelten und Hörvermögen an den Flughunden steht hier im Mittelpunkt.

Die ganze Zeit über herrscht Krieg. Das merkt man an den Flughunden aber erst, als die Lage in einer Retrospektive erläutert wird [S.189 f.]: Moreau spendete dem Zoo Nachkommen der Tiere. Er und seine Zucht waren zerbombt worden, detailliert beschreibt Karnau das Szenario, das er in Berlin vorfindet. Die letzten Flughunde sind in sämtliche Einzelteile zerfetzt worden [S. 191].

Marcel Beyer verwendet bewusst Tiere, die nachtaktiv sind. Denn genau wie bei den Tieren findet die Handlung der Menschen auch meistens nachts oder zumindest im Dunkeln statt. Auffällig ist, dass außer Karnau alle vorkommenden Personen im Krieg sterben. Darunter auch Moreau mit seinen Flughunden. Sie waren ebenso wehrlos gegen die Bombardierungen, wie ein Großteil des deutschen Volkes. Immer wieder werden die Eigenschaften und Fähigkeiten der Flughunde betont; sie nehmen fast schon eine Art Hauptrolle im Roman ein. Von ihnen ist immer die Rede, wenn Karnau und die Kinder zusammentreffen. Sie fungieren als eine Art verbindendes Element zwischen den beiden Erzählern. Nachdem die letzten Flughunde ausgelöscht worden sind, deutet sich die Katastrophe am Ende schon an.

2.) Hunde und andere Tiere:

Neben den Flughunden werden immer wieder andere Tiere genannt. Allen voran Karnau’s Hund Coco, den die Kinder vom ersten Augenblick an lieb gewinnen.

Coco wird sehr genau beschrieben; mit „überwach und aufmerksam“ [S. 17] wird hier ein Schwerpunkt auf die Sensibilisierung im Wahrnehmungsbereich gelegt. Die bildhafte Suche nach dem Gehörsinn wird durch den „Blick in die Ohren“ [S. 26] symbolisiert. Dieser Hörsinn wird später noch einmal als „besser als jeder Mensch hören kann...“ [S. 256] beschrieben. Des weiteren dient er für die Kinder als Spielgefährte. Ob die Erwähnung seiner Abstammung (es wird ausdrücklich gesagt, dass er nicht reinrassig ist) [S. 66] eine Anspielung auf die nationalsozialistische Rassenpolitik ist, sei dahingestellt. Neben Coco treten noch andere Hunde im Roman auf: Zum einen die Totenhunde, die den auf der Straße Schlafenden und Toten die Kehle durchbeißen [S. 205], im Folgenden Hitler’s Schäferhündin, die bei einem Tierversuch gegen Ende des Krieges umgebracht wird, sowie die Hunde im Bunker, hinter denen sich die Kinder verstecken [S. 271].

Neben diesen Hunden werden unter anderem noch folgende Tiere erwähnt:

Fledermäuse, die dicht in Zusammenhang mit den Flughunden stehen [S. 18]

Pferdezungen, die mit allen anderen erwähnten Schädeln und Körperteilen Sinnbild für die Tierversuche und die Suche nach der Stimme und dem Gehör sind [S. 51]

Ein Vogel, der „aufgeregt über die Gasse“ zwitschert [S. 88]

Die Spinne, die Goebbels während der Autofahrt durch den Fahrtwind abzuwerfen versucht [S. 108]

Raubtiere, die die Kinder unbedingt im Zoo betrachten möchten [S. 135]

Das Pony, das Hilde und Helga von ihrem Vater geschenkt bekommen haben [S. 162]

Tauben, die auf dem Fensterbrett kratzen [S.227]

Moskitos, die im Bunker auf dem Gang lauern [S. 259 f.]

Dies sind nicht alle Beispiele, aber man erkennt, dass vielen Tieren sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Als verbindendes Element kann man den Zoo sehen, in dem der Mensch nach seiner Wahl alle Tiere anschauen kann, ohne dass ihm was dabei passiert, oder den Werwolf [S. 191 ff.], der halb Mensch, halb Tier ist. Dennoch sind zum Beispiel die Moskitos oder ist die Spinne für den Menschen im Roman bedrohlich. Bei mehreren anderen Tieren wird betont, dass sie hinter Gittern leben oder sogar vertraut sind und Schutz bieten. In der Beschreibung der Erzähler wird im Roman zwischen Tier und Mensch nicht unterschieden. Helga zum Beispiel sagt: „Die (Tiere) können jetzt endlich den Frieden ebenso gut gebrauchen wie wir Menschen.“ Man erkennt also eine deutliche Analogie. Vielleicht ist eine Aussage Karnaus darüber ein Schlüsselsatz:

„Alles ist formbar: Menschen, Tiere, Häuser, wenn man nur geschickt mit den Fingern umzugehen weiß.“ [S. 148]

3.) Luft und Atem:

Dem Wort Luft kommt im ganzen Roman eine besondere Bedeutung zu. Karnau, der auf Geräusche spezialisiert ist, beschreibt genau das rhythmische Atmen der Kinder, wie sie „im Schlaf Luft holen“ [S. 38 f.].

Auch Coco’s „warmer feuchter Atem“ wird an dieser Stelle veranschaulicht, oder als „frische Luft“ [S. 66] benannt. Noch wird die Nachtluft als „klar“ [S. 42] oder „ungewöhnlich warm“ [S. 87] beschrieben.

Doch diese ehr positiven Attribute schlagen im Laufe des Romans (und somit auch im Laufe des Krieges) in negative um. Nachdem die Flughunde nun ausgerottet worden sind ist alles andere neben der Luft schwarz [S. 173]. Die Luft im Bunker ist „verbraucht“ [S. 213] und die „Entlüftungsanlage des Bunkers droht zusammenzubrechen“ [S. 203]. Die Luft bietet ein schauderhaftes Szenarium: „...keine Vögel singen. Die Luft steht still“ [S. 249]; wobei das still hier nicht als beruhigend aufgefasst werden kann. Helga muss am Ende den Atem anhalten, da „die Luft voll Pisse“ ist [S. 268].

Mann erkennt also einen deutlichen Bedeutungswandel der Luft für die Menschen im Roman. Gerade am Ende im Bunker drohen die Menschen zu ersticken. Im Laufe des Krieges wird die Luft immer knapper, die Überlebenschancen immer geringer. Die Luft ist also auch eine Art Hoffnungssymbol für das Leben. Des weiteren steht die Luft aber auch für die Freiheit. Ich denke, einen, wenn nicht den Schlüsselsatz des ganzen Romans sagt Karnau. Es geht um die „Übungen der Formung“, das disziplinierte Exerzieren:

„Das langsame Absinken vom Kind zum Erwachsenen, von einem Tier, das sich frei in der Luft bewegt, zu einem, das am Boden klebt.“ [S. 149]

In diesem Satz werden alle drei besprochenen Leitmotive Verknüpft: Der Mensch ist nach seiner Geburt ein freies Tier, wie die Vögel, die Tauben und die Flughunde, als sie noch in Madagaskar gelebt haben. Diese Tiere konnten sich tatsächlich in der Luft bewegen. Ebenso frei ist der Mensch, bevor er von anderen Menschen geformt wirt (Alles ist formbar...). Doch nach dieser Formung sinkt der Mensch ab, klebt am Ende nur noch am Boden. Auch die Flughunde kleben am Ende am Boden, alle Toten kleben (so zynisch wie es sich auch anhört) am Ende am Boden. 6 Millionen Juden, 27 Millionen Soldaten und 25 Millionen Zivilisten klebten am Ende am Boden, waren Opfer einer nationalsozialistischen Charakter- und Bewusstseinsformung.

Der Mensch wurde genauso gefangen, gequält und ausgerottet wie die Flughunde.

Heiko Richter

Excerpt out of 4 pages

Details

Title
Beyer, Marcel - Flughunde, Analyse der Leitmotive #
Grade
14 Punkte
Author
Year
2000
Pages
4
Catalog Number
V104139
ISBN (eBook)
9783640025084
File size
334 KB
Language
German
Keywords
Beyer, Marcel, Flughunde, Analyse, Leitmotive
Quote paper
Heiko Richter (Author), 2000, Beyer, Marcel - Flughunde, Analyse der Leitmotive #, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104139

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