Der athenische Bürgerkrieg von 404/3 v. Chr. und sein Vergessen


Ausarbeitung, 2001

7 Seiten


Leseprobe


Der athenische Bürgerkrieg von 404/3 v. Chr. und sein Vergessen

Eines der zentralen Motive des griechischen politischen Denkens des 5. und 4. Jh. v. Chr. scheint der Wunsch nach politischer Einheit gewesen zu sein. So läßt Aischylos die Eumeniden der Stadt Athen gebieten: ,,Niemals brülle das unersättlichste aller Übel, der Aufruhr [stasis] ... Nur Freude sollen die Bürger einander schenken, sich gegenseitig lieben und auch im Haß eines Sinnes sein." (Ayschylos, Eumeniden, 976-986) Im folgenden Jahrhundert gibt es auch für Platon nichts Schlimmeres für den Staat, ,,als das, was ihn auflöst und in eine Vielheit zerspaltet" (Platon, Politeia, V, 462). Deshalb sollen die Gesetze des idealen Staates ,,nicht dahin zielen, einen einzelnen Stand besonders glücklich zu machen. Deshalb bringen sie die Bürger, mit Güte und mit Gewalt, in Harmonie miteinander ... [S]ie sollen dazu dienen, den Staat einheitlich zu machen." (Ebd., VII, 519-520) Nicht von der Gewalt oder dem Haß an sich soll hier die Politik befreit werden, vielmehr beschwören Aischylos und Platon die philia bzw. die harmonia im Inneren des politischen Verbandes. Woher kommt und welchen Charakter trägt dieses Bedürfnis nach einer ungeteilten, harmonischen Gemeinschaft, die den Widerstreit und den Aufruhr nicht kennt? Zumindest im Fall Platons läßt sich das Ideal eines Staates, der mit allen die Harmonie seiner Teile herstellt und den Konflikt nicht kennen will, als Ausdruck eines kollektiven und auch persönlichen Erinnerns an jene stasis verstehen, welche 404/3 die athenische Polis in zwei verfeindete Hälften teilte. Tatsächlich kennt wohl kaum eine andere Epoche des klassischen Athens solche Exzesse an innerer politischer Gewalt, blutiger Rache durch Amtsträger und Verfolgung von politisch mißliebigen Polismitgliedern, wie jene letzte Dekade des 5. Jhs., die auf die Niederlage im Pelleponesischen Krieg folgte. Die militärische Katastrophe scheint, ähnlich wie in den späteren oligarchischen Regimen des 4. Jhs., der entscheidende Auslöser und Antrieb der Mobilisierung und Desintegration der Bürgerschaft gewesen zu sein. In Folge des außenpolitischen Mißerfolges wurde die Stabilität des überkommenen politischen Systems von Athen derartig nachhaltig erschüttert, daß in kurzer Zeit zweimal, wenn auch jeweils nur von kurzer Dauer, das demokratische System durch ein oligarchisches Regime abgelöst werden konnte; Auf den Krieg (polemos) folgt der Streit der Athener untereinander (diaphora), der schließlich in die gewaltsame innere Auseinandersetzung (stasis) umschlägt. Was uns hier interessiert, ist aber nicht der Umschlag des äußeren in den inneren Konflikt. Vielmehr wollen wir den Bürgerkrieg von seinem Ende her lesen: der Versöhnung der Athener. Unter Umständen erlaubt uns diese Perspektive einen Blick auf die griechische Unterscheidung von äußerem Krieg und innerer Zwietracht und damit auf die Identität der Polis. Wir werden sehen, daß das einmal vergossene Blut der ,Brüder` nicht in einen Kreislauf aus Rache und Gewalt führt, den erst die vollständigen Zerstörung oder Vernichtung des Feindes zu stoppen vermag. Vielmehr endet, obwohl die demokratische Fraktion als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgeht, die innere Auseinandersetzung in einer Amnestie, d.h. in einer institutionalisierten Form des Vergessens der vorangegangenen Taten. Es scheint so, als ob der angesprochene Einheitsgedanke nicht nur die ideale Vorstellung von der Polis bestimmte, sondern auch die politische Praxis leitete. Bevor wir uns aber den Ereignissen von 403/04 v. Chr. zuwenden, und nur ihre Darstellung wird die Tragweite des verordneten Vergessens deutlich machen können, sei daher noch einmal auf dieses Denken der Gemeinschaft zurückgekommen.

Noch einmal müssen wir Platon bemühen, genauer: seine Unterscheidung von polemos und stasis im fünften Buch der Politeia. Auffällig ist hier zunächst, daß Platon jenen Bürgerkrieg nicht erwähnt, von dem Lysias behauptete, er habe so starke Erinnerungen hinterlassen, daß ein für allemal der Wunsch nach einer anderen Regierungsform erloschen sei (Lysias 34,1). Und dies, obwohl Platon selbst Zeitgenosse des gewaltsamen inneren Konfliktes war und der Gegenstand seiner Untersuchung eben dieser zu sein scheint. Man mag diese fast provozierende Leerstelle Platons Genre zuschreiben. Daneben wird er, der zunächst mit dem neuen Regime sympathisiert hatte, zudem mit Kritias verwandt war und kaum übermäßiger demokratischer Neigungen verdächtig ist, kein ausgeprägtes Interesse daran gehabt haben, den oligarchischen Terror noch einmal auferstehen zu lassen.1

In der Politeia nun werden mit den Begriffen polemos und stasis zwei unterschiedliche Formen des Streites, der Uneinigkeit oder des Zwietrachts bezeichnet; unterschieden sowohl hinsichtlich der Kontrahenten, als auch was die Form des Austrags angeht. Stasis ist danach die Feindschaft zwischen solchen, die miteinander durch Herkunft verbunden sind; polemos dagegen ist der Krieg zwischen Fremden. Dieser Krieg bzw. die Feindschaft zwischen Griechen und Barbaren ist für Platon ein natürlicher Zustand. Ebenso bleiben die Griechen, selbst wenn sie sich bekriegen, ,,von Natur Freunde" (Platon, Politeia, V,470). Verwandtschaft und gemeinsame Herkunft verbürgen, daß selbst die gewaltsame Auseinandersetzung das gemeinschaftliche Band der Griechen untereinander nicht zu trennen vermag. Kommt es trotz der in der Natur gegründeten Affinität dennoch zu Auseinandersetzungen, so sind diese nicht einfach widernatürlich, sondern sie stellen eine ,Krankheit der Polis` dar. Aus der physis leiten sich nach dem Verfasser der Politeia nicht nur Anziehung und Abstoßung, Widerstreit und Einmütigkeit, Krieg und Frieden etc. ab, sondern sie stellt auch verbindliche Regeln für die Art und Weise der Austragung von Konflikten auf. Daß der griechische genos dem barbarischen fremd ist, bedeutet für die Kriegführung gegen den Fremden, daß sie keine Rücksichtnahme kennt. Eine auf vollständige Unterwerfung und Vernichtung zielende militärische Politik ist danach nicht nur nicht verboten, sondern sogar Gesetz: ,,Die Barbaren müssen [!] sie [die Bürger, M.C.] auf diese Weise behandeln, wie es jetzt die Hellenen untereinander tun." Das heißt für Platon nichts anderes, als das die Verwüstung des Landes, das Niederbrennen der Häuser, die ausnahmslose Feindschaftserklärung gegenüber sämtlichen Einwohner des gegnerischen Territoriums, einschließlich Frauen und Kindern, sowie die Versklavung der Gefangenen im Krieg mit den Fremden Pflicht ist. Umgekehrt verbietet das verwandtschaftliche Band in einem Konflikt der Griechen untereinander eine solche Eskalation der Kriegführung. Kann auch ein solcher Bruderstreit nicht gänzlich ausgeschlossen werden, so gebietet doch die gemeinsame Herkunft, daß er in einer Form ausgetragen wird, die eine spätere Aussöhnung nicht unmöglich macht und damit garantiert, daß der Krieg nicht ewig dauert. Entsprechend ist das Gesetzt., welches Platon für die Zwietracht unter den Hellenen aufstellt, eher eines der Pädagogik denn des Krieges: ,,Sie werden es gut meinen und die Gegner zu bessern, nicht zu knechten und zu vernichten suchen, also wie ein Lehrer Strafen, nicht wie ein Feind." Während der Krieg gegen die Barbaren keinen Unterschied macht, ob es sich um Soldaten, Frauen oder Kinder handelt, sind die erklärten Gegner im innergriechischen Konflikt ,,immer nur wenige, die die Fehde angestiftet haben". Die Auseinandersetzung währt nur solange, bis diese ihrer Strafe überantwortet sind.

Nun mag man zurecht einwenden, daß die Auseinandersetzungen unter den Griechen keineswegs diesem Gesetz der physis gehorchen; Platon deutet dies ja auch an, wenn die gegenwärtigen Auseinandersetzungen der Hellenen eher der Ordnung des Krieges als der der brüderlichen Zwietracht zuordnet. Tatsächlich zeugt die Blutspur, mit welcher der Terror der Dreißig Athen durchzog keineswegs von Platons natürlichen Freundschaft und der daraus abgeleitete Milde. Ganz im Gegenteil: die nicht zuletzt von Rache beflügelten Säuberungsaktionen der Oligarchen scheinen nur aus dem engen Zusammenhang der Polismitglieder erklärbar zu sein. Kein Zweifel, bei der Politeia handelt sich um ein ideales Programm, welches die Verhältnisse beschreibt wie sie sein sollen, nicht wie sie sind. Sie gibt uns daher keinerlei Auskunft über die konkreten Ereignisse von 404/03 v. Chr. Dennoch lassen sich einige Gemeinsamkeiten finden, setzt man Platons Begründung der Gemeinschaft aus dem familiären Zusammenhang und die daraus abgeleiteten Regeln in Beziehung zu der tatsächlichen Versöhnung der Athener von 403 v. Chr.; hierzu zählen das Primat der politischen Einheit der Polis, die Versöhnlichkeit gegenüber dem Bruder bei gleichzeitiger Unversöhnlichkeit gegenüber dem Fremden sowie das Gebot, ausschließlich eine kleine Anzahl von Anstiftern zur Rechenschaft zu ziehen.

Was geschah nun im einzelnen zwischen 411 und 404 v. Chr., daß man sich genötigt sah, nicht an diese Zeit erinnern zu wollen? Wie bereits erwähnt, folgten die inneren Auseinandersetzungen unmittelbar auf die verheerende militärische Niederlage Athens. Von Anfang an kreiste dabei der Konflikt um die Frage nach der Größe und Zusammensetzung des politisch partizipierenden Teils der Polis. Die nichtdemokratischen Kräften zielten, bei allen internen Gegensätzen, allgemein auf eine Begrenzung der Aktivbürgerschaft zugunsten einer wirtschaftlichen und militärischen Elite. Nach dem Scheitern des militärischen Abenteuers in Sizilien (413 v. Chr.) wurde die Frage nach der Partizipation zum ersten Mal wirksam auf die Tagesordnung gesetzt. 411 v. Chr. gelang es einer Gruppe von Demokratiegegnern das bestehende politische System aufzuheben. Formal beruhte die Neuordnung des politische n Systems auf einer Selbstaufhebung der demokratischen Institutionen. Auch wenn die neuen Machthaber auf gezielten politischen Mord als Mittel zum Erreichen ihrer Ziele zurückgriffen und es Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Selbstentmachtung der Volksversammlung geben mag, läßt unser Wissen von den Ereignissen doch vermuten, daß man bestrebt war, dem Umsturz den Anschein der Legalität zu geben. Unter dem Vorwand, Athen eine neue Verfassung zu geben, die auf der Partizipation von 5000 militärisch und finanzielle höhergestellten Bürgern beruhen sollte, wurde die Macht in einem ,,Rat der Vierhundert" konzentriert. Dieser erste oligarchische Umsturz währte allerdings nur kurz. Bereits 410 v. Chr. wurde die Demokratie restauriert. Es folgten Prozesse und Verurteilungen gegen einen Teil der Vierhundert wegen Landesverrats und ein Gesetz zum Schutz der Demokratie, welches u.a. die Tötung von Umstürzlern erlaubte. Die wiederhergestellte Demokratie konnte sich allerdings nur bis zur Kapitulation Athens (404 v. Chr.) in dem, trotz aller innenpolitischen Auseinandersetzungen fortgesetzten Krieg behaupten. Der mit Sparta geschlossene Friedensvertrag ermöglichte u. a. die Rückkehr derjenigen Bürger, die während und nach der Restauration der Demokratie aus Athen geflohen waren. Diese Exilanten, unter denen sich auch Kritias befannd, sollten in der Folgezeit zur treibenden Kraft des erneuten oligarchischen Umsturzes werden. Die meisten von ihnen stammten aus der Oberschicht, standen der Demokratie feindschaftlich gegenüber und waren von den Sophisten beeinflußt. In Athen fanden sie eine Reihe ähnlich Gesinnter, so daß die Dreißig später auf etwa tausend Unterstützer zählen konnten. Ein Teil der Umstürzler organisierten sich in Hetaireiai genannten konspirativen politischen Verbindungen, die sich mit ihren oligarchischen Ideen stark am spartanischen Modell orientierten. Eine weitere Gruppe von Demokratiegegnern bildete sich um Theramenes, der mit Alkibiades befreundet und für den Friedensvertrag mit Sparta verantwortlich war. Ein erster Schritt auf dem Weg zur Beseitigung der Demokratie war die Verhaftung von Generälen und Taxiarchen, die sich gegen die Friedensbestimmung aussprachen durch den bereits oligarchisch dominierten Rat. Die endgültige Zerschlagung des bestehenden Systems folgte, als eine unter dem Einfluß des spartanischen Generals Lysander stehenden Volksversammlung beschloß, eine Behörde von Dreißig zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung einzusetzen. Daneben wurden ein Exekutivkommitee der ,,Elf", zehn Archonten für Peiraius sowie eine Leibgarde von 300 sog. Peitschenträgern eingesetzt. Rat und Boulé fungierten in der Folgezeit lediglich als Ausführungsorgane des Willens der Dreißig. Ähnlich wie schon 411 v. Chr. ließ diese faktische Aufhebung der Demokratie formal die bestehenden Institutionen intakt. Ebenso war man rhetorisch bemüht, den Eindruck von Kontinuität zu erwecken, indem man den Umsturz unter der Formel einer Wiederherstellung der patrios politeia (Väterverfassung) betrieb. Die politische Verfolgung des neuen Regimes zielte zunächst anscheinend darauf, Rückhalt in einem Teil der Polis zu gewinnen und beschränkte sich daher auf die Ermordung von Sykophanten, die insbesondere in der Oberschicht verhaßt waren. Es folgten Hinrichtungen der inhaftierten Generäle und Taxiarchen sowie anderer politisch mißliebiger Personen. Schließlich weitete sich der politische Terror der sog. ,,dreißig Tyrannen" auf wohlhabende Bürger und insbesondere Metöken aus. Ein Grund für diese Intensivierung des politischen Mordes wird im steigenden Geldbedarf des neuen Regimes zu suchen sein, das u.a. eine zu seinem Schutz angeforderte spartanische Garnison unterhalten mußte. Folgt man Martin Oswald, dann ist das gesamte Ausmaß der Verfolgungsmaßnahmen aber nur verständlich, wenn man den Akteuren unterstellt, daß sie die Restrukturierung Athens auf der Grundlage eines ausgearbeiteten Plan betrieben.2 Dieser habe in der Umsetzung des spartanischen Modells auf die athenischen Bedingungen bestanden, d.h. man wollte eine aus der Oberschicht zusammengesetzen Elite mit vollem Bürgerrecht bilden und gleichzeitig alle anderen ausschließen und auf einen Status analog zu dem der spartanischen perioikoi reduzieren. Tatsächlich verband die politische Praxis des oligarchis chen Regimes die Privilegierung einer kleinen Gruppe mit der völligen Entrechtung des ausgeschlossenen Teils. So veröffentlichte man eine Liste von 3000 Männern, die die neue Bürgerschaft bilden sollten. Das Auswahlkriterium scheint dabei Loyalität mit den Dreißig gewesen zu sein. Ein parallel verabschiedetes Dekret untersagte die Tötung eines der verzeichneten Bürger ohne vorangegangenes Gerichtsurteil. Das bedeutete auf der Seite nicht anderes, als daß all jene, die nicht auf der Liste standen, dem politischen Terror der Dreißig schutzlos ausgeliefert waren. Wahrscheinlich an den Fragen der Begrenzung der Bürgerschaft und des Ausmaßes des Terrors entzündete sich innerhalb des oligarchischen Regimes ein Machtkampf zwischen Kritias und Theramenes, wobei Letzterer anscheinend die Herrschaft auf eine breitere - die Hopliten umfassende - Basis stellen wollte. Daß Theramenes sich aber allein gegen die politischen Verfolgungen richtete, wie einige Quellen versuchen zu zeigen, scheint zweifelhaft. Nach Einschätzung von Oswald ist es nicht anzunehmen, daß er gegen die Verfolgung der Metöken opponierte, die wahrscheinlich kurz nach Veröffentlichung der Liste der Dreitausend einsetzte. Auch hier sieht Oswald das Bestreben, dem spartanischen Modell und seinem Ausschluß von Fremden nachzueifern. Mit dieser Praxis, so vermutet er, wird Theramenes noch keine Probleme gehabt haben, wohl aber mit der Entscheidung, daß die Mitglieder der Dreißig eigenhändig einen Metöken töten sollten, um so ihren Eifer unter Beweis zu stellen. Er wurde schließlich verurteilt und hingerichtet. Jene, die nicht auf der Liste der Dreitausend verzeichnet waren, wurden entwaffnet, enteignet und aus der Stadt ausgewiesen.

Ende 403 v. Chr. organisierte sich der militärische Widerstand der athenischen Exilanten unter Führung von Thrasybulos. Seine Truppen erhielten nicht nur durch die repressiven Maßnahmen in Athen ständig Zulauf, sondern auch durch das Versprechen auf isoteleia, d.h. auf Gleichstellung mit den Bürger in Bezug auf Abgaben und Wehrdienst, das Thrasybulos jedem Fremden gab, der sich am Kampf beteiligte. Diesem Versprechen sollen nicht weniger als neunhundert Metöken und andere freie Nichtgriechen gefolgt sein. Nach ersten militärischen Erfolgen der Exilanten führte ihr Sieg im Peiraeus, bei dem Kritias fiel, zur Absetzung der Dreißig in Athen. An ihrer Stelle beriefen die Dreitausend ein Gremium von zehn Männern, das die Feindseligkeiten beenden sollte. Unklar ist, warum sie entgegen dieses Mandats Krieg fortsetzten. Man kann vermuten, daß weder die Verfolgung der Mitglieder der Vierhundert, noch die breite Beteiligung der Bürgerschaft an dem Terror der Dreißig Hoffnung auf eine friedliche Verständigung zuließ. Man rief vielmehr Sparta um Hilfe an. Nachdem sich hier aber König Pausanias in einem innerspartanischen Machtkampf gegen seinen General Lysander durchgesetzt hatte, führte dessen Intervention schließlich zu einer Vermittlung zwischen den verfeindeten Lagern. Der unter Federführung Spartas zustande gekommene Friedensvertrag zielte vor allem auf den Schutz der unterlegenen oligarchischen Partei. So sah er die Gründung eines autonomen Teilstaates in Eleusis vor. In diesen konnte jeder binnen einer festgesetzten Frist übersiedeln und ohne seinen Besitz oder sein Bürgerrecht, das in der Zeit der Abwesenheit ruhte, in Athen zu verlieren. Wahrscheinlich um möglichen Racheakten vorzugreifen, beinhaltete die Übereinkunft daneben das Verbot, den jeweils anderen Teilstaat zu betreten. Aber auch auf der Seite des siegreichen demos tat man alles, um die Trennung der beiden Teile der Polis nicht zu vertiefen und so eine Reintegration der unterlegenen oligarchischen Fraktion auf Dauer zu verhindern. Zu dieser Versöhnungspolitik, die einem Verzicht der Demokraten auf die Reklamation ihres Sieges bedeutete, gehörte in erster Linie die erwähnte Amnestie, die, nachdem der eleusische Teilstaat 401/00 v. Chr. wieder in die athenische Polis eingegliedert worden war, noch einmal bekräftigt wurde. Die beeidete Formel, nicht an die Übel erinnern zu wollen, bedeutete faktisch, daß jemand wegen seiner Beteiligung am Regime der Dreißig nicht juristisch belangt werden durfte, wobei Körperverletzungs- und Tötungsdelikte nicht unter den Verzicht auf Strafverfolgung fielen. Damit verlangte das verordnete Vergessen dem einzelnen nicht weniger ab, als das politische Motiv von Mord, Vertreibung und Enteignung zu ignorieren. Zwar kam die Amnestie auf Druck der Garantiemacht Sparta zustande, aber einiges deutet darauf hin, daß man bemüht war, sie strikt einzuhalten. So ließ, glaubt man der Athenaion Politeia, Archinos einen Demokraten hinrichten, als dieser einen das Erinnerungsverbot verletzenden Prozeß anstrengte; nur so, fügt Aristoteles hinzu, sei die Demokratie zu retten gewesen. Ausgenommen von der Amnestie waren - wie es auch später bei Platon heißen sollte - nur jene wenigen Personen, die man als Anstifter des Terrors identifizierte. Insgesamt handelte es sich um einundsechszig Männer (die Dreißig Tyrannen, die Zehn, die zehn Magistrate aus dem Piräus und die Elfmänner), die sich für die Ermordung von den in den Quellen angegebenen 1500 getöteten Bürger verantworten mußten. Aber auch sie konnten der juristischen Verfolgung entgehen, wenn sie Rechenschaft ablegten. Auch die Übernahme der Schulden des oligarchischen Regimes durch den athenischen demos gehörte zur Politik der Wiederherstellung der ursprünglichen Gemeinschaft. Sie bedeutete nichts anderes, als daß man nachträglich den Krieg gegen sich selbst finanzierte. Ein Vorgehen, das im darauffolgenden Jahrhundert immer wieder zum Anlaß für die Huldigung Athens genommen wurde; Aristoteles etwa sah hierin die vernünftigste aller möglichen Regelungen der vorangegangenen Schwierigkeiten und versäumte es dabei nicht zu betonen, daß eine solche auf Ausgleich bedachte Politik außerhalb Athens nicht zu finden war. Man kann sicherlich in der Amnestie und der Schuldenübernahme den Ausdruck einer durch Milde und Großzügigkeit geprägten Politik erkennen. Man wird daneben pragmatische Gründe für das Bestreben nach Versöhnung angeben können; so stand die Vereinbarung ja nicht nur unter dem Druck Spartas, sondern man hatte daneben die Erfahrung gemacht, das der Ausschluß aus der Polis zu einer latenten Gefahr für das politische System werden konnte und zudem hätte es sich bei den mutmaßlichen Anhängern des oligarchischen Regimes überwiegend um wohlhabende Athener gehandelt. Man kann aber auch mit Nicole Loraux sagen: ,,Hinter dem Lob verbirgt sich die Einbalsamierung".3 Sie spricht von verschiedenen Strategien, den Sieg der Demokratie vergessen zu machen. Hierzu zählte, die Kontinuität der Stadt bei allen Umwälzungen und Umstürzen der Verfassung zu betonen, so daß nicht nur im 4. Jh. das Wort pólis das der demokrat í a aus dem politischen Vokabular verdrängte, sondern bis heute der tópos der athenischen Demokratie als análogon der Stadt weiterwirkt. Daneben projizierte die politische Erinnerung die Heimführung des Volkes und die Wiederherstellung der Demokratie in die Zeit des Kleisthenes, wodurch die mit dem Widerstand gegen die Oligarchie in der jüngsten Vergangenheit verbundenen Handlungen jeder Triftigkeit verlören. Weil in dieser Form nicht nur die Erinnerung an den Groll, sondern auch an den Sieg der Demokratie neutralisiert wurde, charakterisiert Loraux die Amnestie als doppeltes Vergessen. Wir wollen diesem noch ein drittes hinzufügen, das ebenfalls mit der Höherbewertung der Gemeinschaft gegenüber dem politischen System zu tun hat. Es geht um eine Episode, welche angesichts der Zurückhaltung des demos gegenüber seinen oligarchischen Feinden kaum mehr als einen Nebensatz für sich zu beanspruchen erhoffen kann; ein Mangel an Dankbarkeit, nicht mehr als ein kleiner Makel in einer ansonsten beispielhaften Geschichte für geglücktes Konfliktmanagement. Immer noch geht es um die Frage der Partizipation an der Polis: Nach dem Sieg des demos beantragte Thrasybulos, der die militärischen Opposition gegen die tyrannis geführt und unmittelbar nach Verabschiedung des Friedensvertrages die unbedingte Einhaltung der Amnestieregelung eingefordert hatte, eine Öffnung der Bürgerschaft. Er wollte jenen Metöken und anderen freien Nichtathenern (nach Aristoteles sogar einigen Sklaven), denen er - erinnern wir uns - für den Einsatz im Kampf gegen das oligarchische Regime bereits die isoteleia versprochen hatte, nun das Bürgerrecht verleihen. Dieser Antrag wurde, vielleicht weil er der angestrebten Annäherung an die oligarchische Fraktion im Wege gestanden hätte, abgelehnt. Man kann den Verzicht auf eine Öffnung natürlich die gleichzeitige Ablehnung einer weiteren Schließung der Bürgerschaft entgegenhalten. So erging es dem Antrag des ebenfalls auf der Seite des demos kämpfenden Phormimisios, der die Einschränkung des Bürgerrechts auf Haus- und Grundbesitzer vorsah, nicht anders als dem des Thrasybulos. Man führte stattdessen die zeitweise gelockerten Bestimmungen des Perikleischen Bürgerrechtsgesetzes von 451 wieder ein, wonach nur denjenigen freien Männern das volle Bürgerrecht zustand, deren Eltern bereits Athener waren. Das bedeutete nun für den Zusammenhang zwischen der Einheit der Polis und dem Sieg der Demokratie zweierlei. Im Zeichen des verordneten Vergessens verteilte man unter den Athenern das Bürgerrecht unparteiisch, so daß mit der Tilgung des Terrors der Dreißig aus der politischen Erinnerung den erklärten Gegnern der Demokratie, die an der Vertreibung Ermordung der Verteidiger des demokratischen Systems beteiligt waren, nicht nur die volle Mitbestimmung zugebilligte wurde, sondern sogar die Besetzung der höchsten politischen Ämter. Gleichzeitig verweigerte man jenen, die unverhältnismäßig unter den politischen Säuberungen gelitten hatten und einen entscheidenden Beitrag für die Wiederherstellung der Demokratie geleistet hatten, die Partizipation, weil sie von Geburt keinen Athener waren. Wie gesagt, man kann dies einfach für einen Akt der Ungerechtigkeit halten. Man kann aber hierin auch eine Wirkung der Fiktion eines genealogischen Bandes sehen, wie sie sich am Beispiel von Platons Unterscheidung von polemios und echthros gezeigt hat. Platon, dies sei noch erwähnt, stellt der Frage nach der angemessenen Behandlung der Feinde eine andere voraus: wie sind jene zu behandeln, die in den eigenen Reihen stehen und sich im Kampf auszeichnen? Für Platon gibt hier keinen Zweifel: Sie sollen von den Knaben bekränzt werden, jeden, den sie begehren, lieben dürfen, einen Ehrenplatz an der Tafel und das beste Essen erhalten. Was aber, wenn der Mitkämpfer eigentlich ein ,natürlicher Feind` ist und umgekehrt der Feind ein ,natürlicher Freund`? Die Athener scheinen dieses Paradox ganz im Sinne Platons zu lösen: das natürliche Band der Gemeinschaft, die Einheit der Polis, wiegt in ihrer Rhetorik wie auch in der Praxis stärker als die Demokratie, auch wenn man bemüht war zu betonen, daß letztere nur auf diese Weise zu retten gewesen sei.

[...]


1 Ebenso finden sich in Platons Verteidigung des Sokrates keine Spuren der Ereignisse von 404/3. Auch hier läßt das Fehlen aufhorchen, schließlich folgte die Hinrichtung seines Lehrers nicht nur unmittelbar auf die Wiederherstellung der Demokratie, sondern die Verurteilung wird daneben wohl nicht von der Tatsache zu trennen sein, daß zwei zentrale Figuren der oligarchischen Umstürze, Alkibiades und Kritias, zu den Hörern von Sokrates zählten.

2 Martin Oswald: From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law. Law, Society, and Politics in Fifth-Century Athens, Berkeley u.a. 1986; insb. S. 485.

3 Nicole Loraux: Das Vergessen in der Erinnerung der athenischen Demokratie, in: Gary Smith / Hinderk M. Emrich: Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, S. 79-104; hier: S. 90.

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Details

Titel
Der athenische Bürgerkrieg von 404/3 v. Chr. und sein Vergessen
Autor
Jahr
2001
Seiten
7
Katalognummer
V104090
ISBN (eBook)
9783640024605
Dateigröße
344 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bürgerkrieg, Vergessen
Arbeit zitieren
Marco Clausen (Autor:in), 2001, Der athenische Bürgerkrieg von 404/3 v. Chr. und sein Vergessen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104090

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