Hyperaktivität - Gefahr von Stigmatisierung "verhaltensauffälliger" Kinder


Hausarbeit, 2001

35 Seiten


Leseprobe


Gliederung

0 Einleitung

1 Hyperaktivität aus medizinischer Sicht
1.1 Definitionen und Erklärungsversuche
1.2 Erscheinungsbilder
1.3 Mögliche Ursachen
1.4 Behandlungsmöglichkeiten und Hilfen
1.4.1 Medizinische Behandlung und Diät

2 Hyperaktivität aus der heilpädagogischen Sicht
2.1 Erklärungsversuche und Definitionen
2.2 Erscheinungsbilder
2.3 Mögliche Ursachen
2.4 Frühförderung und Behandlung

3 Pädagogische und psychologische Folgeüberlegungen

4 Hyperaktivität: Mögliche Stigmatisierung von Kindern
4.1 Der Stigmatisierungsansatz
4.1.1 Definition/ Worterklärung
4.1.2 Mögliche Ursachen und Funktionen von Stigmatisierung und Erklärungen
4.1.3 Verschiedene Stigmatisierungsphänomene
4.1.4 Folgen der Stigmatisierung
4.2 Praxisbeispiel

5 Konsequenzen für mein pädagogisches Handeln
5.1 Konsequenzen für geplantes sozialpädagogisches Handeln
5.2 Konsequenzen für situatives sozialpädagogisches Handeln
5.3 Konsequenzen für institutionelles sozialpädagogisches Handeln

6 Perspektiven

7 Persönliches Schlußwort

Anlagen:

- Gedicht

- Literaturverzeichnis

0 Einleitung

„Hyperaktivität“ bzw. das „hyperkinetische Syndrom“ sind in unserer Zeit zu Schlagwörtern geworden.

Diese Bezeichnungen sagen ähnliches aus: hyper kommt aus dem Griechischen und bedeutet ü ber, ü berm äß ig; kinetisch, ebenfalls griechischen Ursprungs läßt sich übersetzen mit auf Bewegung beruhend. Mit hyperkinetisch wird also ein ü berm äß iger Drang zur Bewegung bezeichnet. Hyperaktiv, überaktiv, meint den übermäßigen Drang zum Tun. Unter Syndrom versteht man einen Syptomenkomplex - ein Krankheitsbild mit mehreren charakteristischen Krankheitszeichen.

Die Meinungen über die Benennung, über das Syndrom an sich und über einzelne Symptome gehen sehr auseinander. Leider führen beide Begriffe nicht allzu selten zu Etikettierung und Stigmatisierung der betrof- fenen Kinder.

Ich kann hier nicht alle bestehenden Standpunkte und Theorien über dieses Thema mit einbeziehen, denn das würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Aber ich versuche, drei verschiedene Sichtweisen zu betrachten und zu erläutern.

1 Hyperaktivität aus der medizinischen Sicht

1.1 Definitionen und Erklärungsversuche

Im „Roche Lexikon Medizin“ ist die Hyperaktivität folgendermaßen definiert: „Übersteigerter Drang zu motorischen Äußerungen bei psychischer Unruhe, zum Beispiel bei Manie oder psychotisch/organisch bedingten Erregungszuständen“ (Roche Lexikon Medizin, 2. Auflage 1987, Urban und Schwarzenberg. Zitiert nach Rosival 1992, S.7)

Die offizielle Begriffserklärung lautet nach Dr. Klaus Skrodzki, Kinderarzt aus Forchheim wie folgt: „Es sind Kinder von durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz, die gewisse Lern, und / oder Verhaltensstörungen aufweisen, welche einen geringen bis schweren Ausprägungsgrad erreichen können und die mit geringen Funktionsstörungen des zentralen Nervensystems verbunden sein können. Diese Ab- weichungen charakterisieren sich durch die unterschiedliche Kombination von Beeinträchtigungen im Be- reich der Wahrnehmung, Begriffsbildung, Sprache, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Mo- torik.“( Dr. K. Skrodzki, in einem Skript vom 31.03.1993 über das Thema „Das hyperaktive Kind“ inner- halb des Arbeitskreises Grundschule-Kindergarten des Staatlichen Schulamts im Landkreis Nürnberger Land)

1.2 Erscheinungsbilder

Es besteht eine gewisse Schwierigkeit darin, hyperkinetische Kinder zu beschreiben, da viele ihrer Symptome als Eigenschaften bei anderen Kindern in einem gewissen Ausmaß in bestimmten Situationen zu beobachten sind. Bei dem Auftreten von folgenden geschilderten Erscheinungsmerkmalen gleich auf ein hyperkinetisches Syndrom zu schließen, wäre also falsch und vorschnell geurteilt. Was die hyperkenetischen Kinder auszeichnet sind Intensität, Dauerhaftigkeit und Konstellation dieser Symptome. Letztlich kann aus der medizinischen Sicht nur ein mit der Hyperkinese vertrauter Arzt entscheiden, ob bei einem Kind ein hyperkinetisches Syndrom vorliegt.

Die im folgenden geschilderten Eigenschaften/ Symptome müssen nicht unbedingt alle bei allen Kindern mit hyperkinetischen Syndrom vorliegen.

(Dieser Abschnitt basiert auf Beschreibungen von P.H. Wenders in „das hyperaktive Kind“.)

- Aktivität / extreme motorische Unruhe

Von dieser Erscheinungsform, der großen Aktivität bzw. extremen motorischen Unruhe der Kinder, stammt die ursprüngliche Benennung, die „Hyperaktivität“; sie tritt mit Abstand am häufigsten auf. Betroffene Eltern berichten oft von einer sehr auffallenden Unruhe schon in der Säuglingszeit. Es werden hier Säuglinge geschildert, die sehr viel schreien, sehr unruhig sind, teilweise auch schwer zu füttern sind . Hinzu kommen häufig Schlafstörungen (spätes Einschlafen, häufiges Aufwachen in der Nacht und frühes Wiedererwachen).

Dr. Anne Calatin beschreibt die Anzeichen von hyperkinetischen Kindern im Krabbelalter folgendermaßen: “Das Krabbelkind ist ruhelos und kann kaum zum Schlafen gebracht werden Eß- und Verdauungsstörungen sind häufig. Bereits in diesem Alter sind manche Kinder ungewöhnlich ag- gressiv, schlagen und beißen. Das Krabbelstadium kann aber auch übersprungen werden, die Kinder rich- ten sich dann ungewöhnlich früh auf und beginnen rastlos herumzurennen, bevor sie langsam und koordiniert laufen können.“ (Calatin 1992, S. 16)

Wenn die Kinder dann älter werden, werden sie häufig wie folgt beschrieben: Sie machen einen rastlosen, ziellosen Eindruck, die Kinder sind ständig in Bewegung , äußerst zappelig, wie von einer inneren Unruhe getrieben. Es scheint, als ginge ihre Fähigkeit, sich zu betätigen , ins Unermeßliche. Paul H. Wender gibt hier zu bedenken: „Es gibt auch Gelegenheiten, wo es relativ stillsitzen kann [...] Daran muß man denken , wenn man ein hyperkinetisches Kind untersucht. Man kann zu einem falschen Urteil kommen, wenn es dabei für 10- 15 Minuten stillsitzen kann.“ (Wender 1991, S. 14)

- Mangelnde Aufmerksamkeit/ Ablenkbarkeit/ Konzentrationsschwäche

Bei fast allen Kindern mit hyperkinetischen Syndrom ist zu beobachten, daß diese sich sehr leicht ablenken lassen, bzw. nur eine kurze Zeitspanne aufmerksam sind. Die Kinder zeigen wenig Ausdauer in Spiel und Arbeit. Das hyperkinetische Kind bedient sich einer sprunghaften Beschäftigungswahl und kann dann nicht bei der Sache bleiben. Es ist häufig zu beobachten, daß sich hyperkinetische Kinder in Bezug auf ihre Auf- merksamkeit nicht ihrem Alter entsprechend verhalten können, sondern die Aufmerksamkeitsspanne eines jüngeren Kindes aufweisen. Sie zeigen sich oft sehr wenig bzw. gar keine Ausdauer, nehmen beispielsweise ein Spielzeug heraus, beschäftigen sich nur sehr kurze Zeit damit und legen es dann wieder weg. Die hyper- kinetischen Kinder scheinen wie von einer „inneren Unruhe“ davon abgehalten werden, sich längere Zeit intensiv auf eine Tätigkeit konzentrieren zu können. So ist beispielsweise häufig zu beobachten, daß diese Kinder zwar Anweisungen nicht mißachten (etwa aufgetragene Arbeiten beginnen) aber diese nicht zu Ende führen. Dieses Aufmerksamkeitsdefizit muß aber nicht immer vorhanden sein; das Kind kann bei gewissen Umständen schon eine Weile aufmerksam sein (beispielsweise wenn es individuelle Zuwendung erfährt). In manchen Fällen ist es auch möglich, daß die Kinder bei einer speziellen Tätigkeit sehr konzentriert und auf- merksam sein können (auch für eine ungewöhnlich lange Zeitspanne). Diese Tätigkeit kann immer wieder von dem gewöhnlich leicht ablenkbaren Kind beharrlich und stereotyp wiederholt werden.

- Impulsivität

Sehr häufig werden hyperkinetische Kinder als sehr impulsiv, als „unberechenbar und unsteuerbar“ be- schrieben. Eine häufig anzutreffende Erscheinungsform ist die geringe Steuerungsfähigkeit, die Impulsivität oder mangelhafte Impulskontrolle. Das Kind reagiert oft aus seinen ersten Impuls heraus, es ist teilweise gar nicht in der Lage, Grenzen wahrzunehmen, oder sich die Zeit zu nehmen um Überlegungen anzustellen, oder auf eventuelle Folgen Rücksicht zu nehmen. Auch hier könnte man sagen, daß diese Kinder nicht den An- forderungen, die an ihr Alter gestellt werden können, gerecht werden. Beispielsweise wenn sie wie kleine Kinder häufig auf das sofortige Erfüllen ihrer Wünsche bestehen, ohne abwarten zu können. Es ist also die Fähigkeit zur Selbstkontrolle nicht genügend entwickelt. Hyperkinetische Kinder reagieren häufig sofort aggressiv, wenn ihren Vorstellungen nicht entsprochen wird. Durch die Impulsivität geraten viele hyperkine- tische Kinder in größere Schwierigkeiten, da sich diese oft in aneckendem Verhalten auswirkt. Die Impulsi- vität äußert sich aber auch dadurch, daß die Handlungen dieser Kinder unorganisiert, unsystematisch, rich- tiggehend planlos erfolgen. Es könnte auch möglich sein, daß die Schwierigkeiten, die einige hyperkineti- sche Kinder mit der Darm- und Blasenkontrolle haben, mit der Impulsivität zusammenhängen. „Kleinere hyperkinetische Kinder können tagsüber einnässen [...] Sie scheinen ihren diesbezüglichen, dringenden Be- dürfnissen’ keine Beachtung zu schenken und ,überzulaufen’. Bettnässen, das bei etwa 10% aller sechsjäh- rigen Kinder vorkommt, scheint bei hyperkinetischen Kindern häufiger zu sein. (Wender 1991, S. 13)

- Mängel im sozialen Verhalten und soziale Aspekte

Ein meist sehr auffälliger Teil und der am häufigsten als „störend“ empfundene Teil im Erscheinungsbild von hyperkinetischen Kindern sind die Schwierigkeiten, welche Kinder durch das Nichteinhalten von sozialen Forderungen haben. So kommt es häufig zu Konflikten mit den Eltern, aber auch mit Lehrern und Erzie- hern. Es ist auffallend, welch eine große Auflehnung viele Kinder gegen Verbote oder Forderungen aufbrin- gen. Einige hyperkinetische Kinder zeigen erstmals eine Art von Widerstand gegen jegliche Erziehungsmaß- nahmen. So scheinen einige nie hören zu können, andere leisten aktiven Widerstand gegen jegliche Forde- rung. Hyperkinetische Kinder haben zu einem großen Teil extreme Schwierigkeiten, sich sozial anzupassen. Die Beziehungen zu anderen Kindern, zu Kindergarten- und Schulkameraden oder Geschwistern sind häu- fig problembeladen. Hyperkinetische Kinder sind oft wegen ihrer Herrschsucht, ihrer ständigen Unruhe und ihrem stark dominanten Verhalten bei ihren Spielkameraden wenig beliebt. Häufig scheitern die Beziehun- gen der hyperkinetischen Kindern daran, daß sich die Spielkameraden durch sie gestört bzw. geärgert füh- len oder daß das hyperkinetische Kind unbedingt die Führungsrolle übernehmen will, alle Entscheidungen allein treffen will, und die anderen sich nach seinen Vorstellungen richten sollen.

Hyperkinetische Kinder zeigen häufig ein stark in Anspruch nehmendes Verhalten. Sie scheinen ein uner- sättliches Maß an Aufmerksamkeit zu brauchen, oft wollen sie ständig im Mittelpunkt stehen, fordern ein großes Maß an Zuwendung. Um dies zu erreichen, zeigen sie häufig unangebrachtes Verhalten; sie tun bei- spielsweise ständig etwas was verboten oder störend ist, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; nör- geln, necken oder Imponiergehabe zeigen. Hyperkinetische Kinder werden von ihren Eltern häufig als „wild, bockig, trotzig, widerspenstig, aufsässig, verstockt“ aber auch als „gleichgültig“ beschrieben. Viele hyperkinetische Kinder haben große emotionale Probleme, natürlich auch wegen den vorher geschil- derten sozialen Verhaltensweisen. Es ist häufig zu beobachten, daß die Kinder einer wechselhaften Affekt- lage unterliegen.

Hyperkinetische Kinder regieren oft „überzogen“. „Viele hyperkinetische Kinder zeigen einerseits außer- gewöhnliche schwache, andererseits übermäßig starke Reaktionen“. (Wender 1991, S.18) Außerdem ist häufig nur eine sehr niedrige Frustrationsschwelle vorhanden, die Kinder können oft auch mit kleineren Ent- täuschungen nicht angemessen umgehen (reagieren etwa mit Zornes- und Wutausbrüchen). Es ist auch auf- fallend, daß einige dieser Kinder ständig unzufrieden sind, sie scheinen teilweise mit nichts zufrieden zu stel- len zu sein. Bei manchen Kindern zeigt sich weiterhin auch eine erstaunliche Furchtlosigkeit gekoppelt mit dem großen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, was sie häufig in Schwierigkeiten, bzw. Gefahren bringt. Ein recht schwerwiegendes Merkmal beim emotionalen Erscheinungsbild ist das bei vielen hyperkinetischen Kindern sehr geringe Selbstbewußtsein. Sie haben oft eine niedrige Selbsteinschätzung.

- Schulschwierigkeiten bzw. Lernverhalten

Als Sekundärsymptome sind bei hyperkinetischen Kindern häufig Schwächen im Rechnen, Rechtschreiben und Lesen zu verzeichnen. Einige hyperkinetische Kinder haben Teilleistungsstörungen. Das hyperkinetische Syndrom scheint aber in keinem unmittelbaren Bezug zu den Teilleistungsstörungen zu stehen. Dennoch bereitet vielen hyperkinetischen Kindern auch ohne Teilleistungsstörung das schulische Lernen häufig Schwierigkeiten. Dies ist sicherlich leicht verständlich, wenn man an die vorher geschilderten Schwierigkei- ten bei der Konzentration oder an die niedrige Frustrationsschwelle denkt. Wichtig hierbei ist, daß das hy- perkinetische Syndrom die Intelligenz eines Kindes nicht unmittelbar beeinflußt. „Manche hyperkinetische Kinder, nicht alle, haben bestimmte Probleme mit ihrer Intelligenzentwicklung und mit ihrer Perzeption. An- dere zeigen eine Unausgeglichenheit der Intelligenzentwicklung.“ (Wender 1991, S.16)

- Koordinationsschwierigkeiten

Bei annähernd der Hälfte der Kinder mit hyperkinetischen Syndrom sind Koordinationsstörungen zu ver- zeichnen. diese Koordinationsstörungen können unterschiedlichster Art sein, es kann etwa der Fall sein, daß das Kind Probleme mit der Feinmotorik hat, bei anderen ist evtl. die Hand-Auge-Koordination oder die Figur- Grund Wahrnehmung unzureichend ausgebildet, wieder andere haben leichte Gleichgewichtsstö- rungen.

1.3 Mögliche Ursachen

Es gibt von der medizinischen Seite her unterschiedliche Anschauungen über die Ursachen, die zu dem Entstehen des hyperkinetischen Syndroms führen sollen. Die nun folgenden möglichen Ursachen sind teilweise nicht, bzw. noch nicht wissenschaftlich gesichert. Es wird hier auch wieder die große herrschende Unstimmigkeit zu diesem Thema deutlich.

Die meisten Kinder mit dem hyperkinetischen Syndrom haben keine Hirnschädigung erlitten , was längere Zeit für den eigentlichen Auslöser des hyperkinetischen Syndroms gehalten wurde. Dies ist in nur sehr wenigen Fällen die Ursache.

Da dies also nicht der eigentliche Grund ist, wird versucht die Entstehung anders zu begründen.

Im allgemeinen wird das hyperkinetische Syndrom als das Ergebnis unterschiedlicher Veranlagung gesehen. Die Entwicklung desselben ist von der Erziehung bzw. den Umwelteinflüssen (für jedes Kind spezifisch mehr oder weniger) stark beeinflußt aber nicht bedingt. Das hyperkinetische Syndrom kann nach dieser Sichtweise nicht nur aufgrund eines „Erziehungsfehlers“ bzw. einer Erziehungsform hervorgerufen werden, wenn das Kind nicht die anlagebedingten Voraussetzungen mit sich bringt. Die Grundlagen scheinen nach der Theorie der meisten Sachverständigen genetisch bedingt zu sein.

Diese unterschiedlichen Veranlagungen kommen evtl. von einem chemischen Unterschied im Gehirn. Die Forschung sucht die Gründe für die Entstehung in Stoffwechselstörungen des Gehirns Von Neurochemikern wird vermutet, daß die Stoffe, an denen bei hyperkinetischen Kindern ein Mangel herrscht, in dem Teil des Gehirns liegen, dem die Regulierung der Aufmerksamkeit obliegt. Der Grund für diese chemischen Unterschiede könnte in einer vorgeburtlichen anormalen Entwicklung des Babys oder in genetischen Unterschieden liegen.

Eine weitere mögliche Ursache könnte nach medizinischer Sicht eine Bleivergiftung sein. Darüber hinaus wurde für möglich gehalten, daß das hyperkinetische Syndrom aufgrund einer allergischen Reaktion auf Nahrungsmittel entstehen kann. „Der Stellenwert von Nahrungsmittelallergien für die Entstehung hyperkinetischer Syndrome ist umstritten. Es wird eine Vielzahl von auslösenden Stoffen diskutiert- Salicylate, Phosphate, Farb- und Konservierungsstoffe, Schwermetalle u.a.“ (Czerwenka 1994, S.94)

Es gibt bis jetzt kaum eine wissenschaftlich fundierte Basis für den Zusammenhang von Nahrungsmittelallergie und hyperkinetischen Verhalten.

Diese Ansicht wurde inzwischen auch weitestgehend wieder verworfen.

Weiter werden sich Mängel in der Lebenssituation (wie emotionale und soziale Vernachlässigung, mangelnde Zuwendung oder Hektik bei den Bezugspersonen) sehr nachteilig auf hyperkinetische Kinder auswirken; diese sind aber nach medizinischer Meinung (wie auch schon erwähnt) wahrscheinlich nicht die eigentliche Ursache, können aber als Auslöser zum Auftreten des anlagebedingten Verhaltens wirken.

1.4 Behandlungsmöglichkeiten und Hilfen

1.4.1 Medizinische Behandlung und Diät

Bei einem großen Teil der hyperkinetischen Kindern kann der Einsatz von Medikamenten sehr wirksam sein, was die Normalisierung ihres Verhaltens betrifft. Bei einigen Kindern (es sollen zwischen 10 und 20 Prozent sein) können die Symptome durch die Medikation sogar vollständig beseitigt werden. Meist wer- den durch die Medikation aber einige Symptome beseitigt, andere bleiben bestehen; wodurch eine weitere Behandlung nötig ist. „Die medikamentöse Therapie kann als Substitutionstherapie betrachtet werden, d.h. als Zufuhr chemischer Stoffe, die dem Körper fehlen, oder die ihn veranlassen, mehr von den ihm fehlenden Stoffen zu bilden ... Die Medikation ist so lange erforderlich, bis das Gehirn durch eigenes Wachstum und eigene Entwicklung anfängt, hinreichende Mengen der benötigten Substanzen zu bilden.“ (Wender 1991, S. 45)

Die Kinder können auf unterschiedliche Medikation unterschiedlich ansprechen. Ein Medikament, das für ein Kind gut geeignet ist, kann also für ein anderes ungeeignet sein.

Für die Wirkung der Medikation ist häufig eine gewisse Anlaufzeit nötig, das Medikament wirkt also nicht sofort. Die Medikation wird meist mit einer geringen Dosis begonnen und wird erst später (wenn es nötig erscheint) erhöht, da es nicht voraussehbar ist welche Menge des Medikaments benötigt wird und jedes Kind eine spezifische Menge braucht.

Am häufigsten werden bei der Behandlung Stimulanzien eingesetzt, Die am meisten benutzten Präparate sind hier Amphetamin und Mehylphenidat („Ritalin“). Es kann unterschiedlich sein, auf welches der beiden Mittel das einzelne Kind besser reagiert, obwohl sie in ihrer Wirkung ähnlich sind. Dr. med. habil. Wolfram Kinze berichtet über die beobachtbare Wirkung der Stimulanzien: „Der am häu- figsten gefundene und am besten rezipierbare Effekt der Stimulanzien liegt in der Verbesserung von Auf- merksamkeit- und Konzentrationsleistungen, vor allem im quantitativen Bereich. Dabei verkürzen sich nicht die Reaktionszeiten der Kinder, sondern sie arbeiten insgesamt kontinuierlicher, lassen sich weniger ablen- ken und kommen so zu größeren Leistungsmengen bzw. kürzerer Bearbeitungszeit. In höherer Dosierung beeinflussen Stimulanzien auch das Verhalten, insbesondere Impulsivität und Hyperaktivität.“ (Czerwenka 1994, S. 103).

„Wenn die Stimulanzien wirken, werden die hyperkinetischen Kinder in der Regel ruhiger und weniger hyperaktiv, sie entwickeln eine längere Aufmerksamkeitsspanne, werden lenksamer und lassen sich leichter führen. Sie bekommen außerdem häufig mehr Feingefühl auf die Bedürfnisse anderer Menschen und reagieren viel besser auf erzieherische Maßnahmen.“ (Wender 1991, S.48)

Bei der Regulierung der Dosis werden die Beobachtungen und Beschreibungen zu den Symptomen und ihren Veränderungen der Eltern oder sonstigen Bezugspersonen berücksichtigt.

Bei der Stimulanzientherapie sind bislang folgende Nebenwirkungen bekannt:

Es treten vor allem Appetitmangel und Einschlafstörungen, seltener auch Neigung zu reizbaren Verstimmun- gen auf. Allergische Reaktionen auf die genannten Mittel sind eher selten. Auch braucht man angeblich bei der üblichen Dosierung keine Schäden an den Organen zu befürchten. Von vielen Eltern wird die Anbah- nung zur Drogenabhängigkeit befürchtet. „Doch trifft dies auf die Mittel, die von den Ärzten für die Behandlung des hyperkinetischen Syndroms verwendet werden, nicht zu.“ (Wender 1991, S. 47)

Desweiteren werden noch Neuroleptika (Beruhigungsmittel) und Antidepressiva zur Behandlung des hy- perkinetischen Syndroms verwendet. Diese haben eine beruhigende Wirkung. Sie erhöhen allerdings nicht die Aufmerksamkeit. Außerdem haben diese Mittel möglicherweise schwerwiegendere Nebenwirkungen. „Eine sehr schwere Nebenwirkung, die unter Neuroleptika auftreten kann, ist die „tardive dyskinesia“, eine Spätdyskineseie. Sie zeigt sich in unwillkürlichen Bewegungen der Muskeln von Lippen, Zunge, Händen und Füßen.“ (Wender 1991, S. 53) Unter Einnahme von Antidepresiva kann unter anderem eine leichte Benommenheit eintreten.

Bis herausgefunden ist. welches Medikament und welche Dosis sich als wirksam erweisen dauert kann oft ein sehr langer Zeitraum vergehen, in dem an den Kindern „herumgeforscht“ wird.

In seltenen Fällen muß der Arzt bis zu sechs oder acht verschiedene Substanzen ausprobieren, und die Eltern müssen mehrere Monate warten, bevor sich herausstellt, ob es eine Medikation gibt, die dem Kind nützt.

Wie schon bei den Ursache geschildert, könnte es möglich sein, daß einige hyperkinetische Kinder auf bestimmte Nahrungsmittel allergisch sind. Über die Wirksamkeit von Diäten macht Dr. med. habil. Wolfram Kinze folgende Aussage: „Es mangelt an wissenschaftlich zweifelsfrei erwiesenen Effekten bei größeren Gruppen, wobei die methodischen Schwierigkeiten bei längerfristigen Studien in der Praxis kaum überwindbar sind. Aber zumindest in Einzelfällen haben konsequente Diäten das hyperkinetische Verhalten wesentlich reduzieren können.“ (Czerwenka, 1994 S. 95)

Ob diese geänderten Verhaltensweisen tatsächlich durch das Weglassen bestimmter Nahrungsmittel, oder durch die entstandene verstärkte Aufmerksamkeit für das Kind, die verstärkte Zuwendung oder die gesteigerte Erwartungshaltung entstanden ist, kann hier nicht geklärt werden.

2 Hyperaktivität aus der heilpädagogischen Sicht

2.1 Erklärungsversuche und Definitionen

Hyperaktivität „ist nach Nissen ein Behinderungs- bzw. Störungsbild, das z.T. auf erhebliche erbgenetische, somatogene (Hirnfunktionsstörungen usw.) psychogene Umwelt, Erziehung) und endogene (katatone ange- borene Schizophrenie) Ursachen zurückführt.“(Schmutzler 1994, S.169) „Kinder, die die Trennung von Wichtigem und Unwichtigem nicht ausreichend durchführen können, also aufgenommene Sinnesreize zu wenig abblocken und filtern können, sind oft hyperaktiv. Sie sind von den verschiedenen Sinnesreizen über- flutet und wirken dadurch unkonzentriert. Ihre Aufmerksamkeit springt von einer Reizquelle zur nächsten , und sie haben Schwierigkeiten , sich länger mit einer Sache zu beschäftigen. Somit können sie verschiedene Sinnesqualitäten nur unzureichend erfahren, aufnehmen und verarbeiten. Dadurch fehlt eine ausreichende Wiederholung, damit Erfahrenes behalten werden kann und sich Bewegungsabläufe automatisieren kön- nen. (Pauli / Kisch 1992, S. 42)

Die Symptome der Hyperaktivität ähneln sich sehr mit denen der MCD. „MCD (minimale cerebrale Dys- funktion oder auch: frühkindliches exogenes frühkindliches Syndrom ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine Gehirnschädigung, die aber durch Fehlerziehung und ungünstige soziokulturelle Entwicklungsbedingungen in ihren Auswirkungen verstärkt werden kann.“ (Schmutzler 1994, S. 166) Dadurch lassen sich häufig eine eindeutige Diagnose und Behandlung nicht zwingend aus den Symptomen ableiten.

2.2 Erscheinungsbilder

Die hier angeführten Erscheinungsbilder decken sich teilweise mit den schon unter Punkt 1.2 aufgeführten. Deshalb werde ich diese nur kurz aufführen:

- Bewegungsunruhe und allgemeine Ruhelosigkeit, d.h. fahrige, ungeschickte und überschießende, ungesteuerte (athetholische) Motorik, aber auch Antriebs- und Haltungsschwäche im Handlungsund Leistungsbereich
- Konzentrationsschwächen, Aggressivität und Ungehorsam
- Reizüberempfindlichkeit/ Reizisolierungsschwäche

Die Lenkung der Konzentration auf wichtige Dinge und die Trennung von Wichtigem und Unwichtigen findet bei diesen Kindern nicht ausreichend statt. Sie können die Sinnesreize die auf sie eintreffen nicht ausreichend abblocken oder filtern. Ihre Aufmerksamkeit wird so ständig abgelenkt und sie können sich schlecht mit einer Sache oder Tätigkeit länger befassen. Diese Kinder können dadurch verschiedene Sinnesqualitäten nur unzureichend erfahren, aufnehmen und verarbeiten.

- Probleme mit Sozialkontakten u.v.a., wie sie schon vom Frankfurter Kinderarzt Dr. Hofmann im „Zappelphilipp“ beschrieben wurden.

In der Schule sind solche Kinder nicht selten ein ständiger „Störungsherd“ mit mangelhaften Lernleistungen“ und sog. „Teilleistungsschwächen“ (= Leistungsschwäche in Teilbereichen der kindlichen Entwicklung, die vom übrigen Fähigkeitsniveau des Kindes deutlich abweicht und seine psychosoziale Integration behindert)

Die aufgezählten Symptome werden häufig aufgeteilt in primäre und sekundäre Symptome.

„Die Primärsymptomatik ist durch übermäßigen Bewegungsdrang, ziellose Bewegungsaktivität, allgemeine Unruhe und Zappeligkeit (als motorische Symptomatik) und Ablenkbarkeit, Konzentrationsmangel und Unaufmerksamkeit gekennzeichnet. Die Impulsivität aufgrund affektiven Steuerungsmangels wird vor allem zu den primären, teils aber zu den sekundären Symptomen der HKS gerechnet. Zur Sekundärsymptomatik rechnet eine ganze Palette von Lern- und Verhaltensstörungen wie Störverhalten, d.h. situativ unangepaßtes Verhalten mit überaktiven emotionalen Impulsen, Stimmungslabilität und Aggressivität.“ (Internationale Frostig Gesellschaft 1991, S. 40)

Es ist klar, daß diese Kinder massive soziale Schwierigkeiten haben und über ein geringes Selbstwertgefühl verfügen. Die Primärsymptome treten unabhängig von elterlichen Erziehungsbemühungen auf, während die Sekundärsymptome einer (positiven oder negativen) Beeinflussung durch den elterlichen Erziehungsstil un- terliegen.

„Eine Frühdiagnostik dieser Kinder ist nicht einfach. Kleinkinder fallen auf durch viel Schreien, Eß- und Trinkstörungen, Jaktationen (Rhythmisches Schaukeln von Kopf und Körper) sinnlose Automatismen und Bewegungsstereotypen. Am ehesten sind die motorische Gesamtentwicklung, Intelligenz, Sprache und Sozialverhalten zu diagnostizieren und damit Funktionen, die im Kindergarten aufgrund der Vergleichsmöglichkeiten mit normalen Kindern leichter erkennbar sind.“ (Schmutzler 1994, S. 170)

2.3 Mögliche Ursachen

Hier möchte ich die schon in Punkt 1.1 zitierten Ursachen nach Nissen näher erläutern und ergänzen:

Hyperaktivität ist ein Behinderungs- und Störungsbild das sich z.T. auf folgende Ursachen zurückführen läßt:

- Erbgenetische, somatogene Ursachen (Hirnfunktionsstörungen usw.) somatogen heißt laut Wahrig Deutsches Wörterbuch: (Berlin 1977, S. 3421) Körperzellen (nicht von der Erbmasse) gebildet. grch. soma „Körper“ + genos „Geschlecht, Art.

Johnson & Myklebust haben untersucht und dargestellt, daß sich „viele (Lern-) Störungen auf spezifische Dysfunktionen bei intaktem Sehvorgang zurückführen lassen“. (Ulrich Hensle „Einführung in die Arbeit mit Behinderten; UTB, Quelle & Meyer; 5., ergänzte Auflage 1994)

- Psychogene Ursachen

„Psychogen, psychologischen Ursprungs; psychogene Störungen sind Psychische Störungen, die ohne organische Ursache entstanden sind“(Michel / Novak 1991 S. 316), z.B. durch Erziehung.

- Endogene (katatone angeborene Schizophrenie) Ursachen

Endogen werden alle psychischen Prozesse sowie psychische Störungen genannt, die nicht durch Einflüsse der Umwelt bedingt werden, sondern von „innen entstehen“, ausschließlich anlagebedingt sind. „Katatonie ist eine besondere Form der Schizophrenie, bei der motorische Symptome vorherrschen, wie Katalepsie ( der Kranke verbleibt wie eine Puppe in jeder ihm zugefügten Stellung), Starrheit des gesamten Körpers, Negativismus (der Kranke tut beständig das Gegenteil dessen, was ihm gesagt wird), Echolalie (ständiges Wiederholen des Gehörten) oder eine Verselbständigung von Bewegungen (z.B. wird der Fuß immerfort in derselben Wiese gehoben).“ (Michel / Novak 1991, S.187)

„Steinhausen erwähnt außerdem Kinder alkoholkranker Eltern.“ (Schmutzler 1994, S. 169) Eine weitere Ursache könnte eine Wahrnehmungsstörung sein.

Der Gesamtprozeß der Wahrnehmung wird auch als sensorische Integration bezeichnet. Sensorische Integration bedeutet, daß die Gesamtheit aller sinnlichen Eindrücke zu einer Ganzheit zusammengebracht werden. Die Wahrnehmung eines Menschen ist die Aufnahme von Reizen aus der Umwelt und aus seinem Körper, deren Weiterleitung zum Gehirn und deren Verarbeitung.

Eine Wahrnehmungsstörung ist eine Störung entweder in der Aufnahme, der Weiterleitung oder der Verarbeitung von Sinnesreizen zum und im Gehirn. Störungen bei der Auswahl und Filterung, beim Vergleichen und Speichern von Informationen führen zu falschen Reaktionen des Kindes.

Kinder, die aufgenommene Sinnesreize zu wenig abblocken und filtern können sind oft hyperaktiv.

Die aufgeführten Ursachen überschneiden sich häufig und es ist immer das Zusammenspiel mehrerer Ursachen für das Auftreten des Hyperkinetischen Symptoms verantwortlich.

2.4 Frühförderung und Behandlung

In diesem Punkt zeigen sich Parallelen zu 1.4, die Möglichkeiten erscheinen hier weitaus vielfältiger.

„Die Behandlung bzw. Therapie hyperaktiver Kinder ist teilweise medikamentös möglich [...] danach ist in 70-80% der behandelten Fälle eine Besserung eingetreten und nur in 10-20% der behandelten Fälle spra- chen die Kinder nicht an bzw., ist eine Verschlimmerung festgestellt worden. Götze / Neukäter verweisen auf bestimmte notwendige Diäten bzw. Nahrungsmittel, die nicht eingenommen werden sollten, weil sie Phosphate, Lecithin, Glyccerophosphate, Alkohol enthalten.“ (Schmutzler 1994, S.170)

Die Heilpädagogik bietet hier aber noch andere Behandlungsmöglichkeiten:

Heilpädagogen arbeiten über Rhythmik, heilpädagogische Spieltherapie und Übungsbehandlung mit Kindern, deren Schwierigkeiten im psychosozialen (und geistigen) Bereich liegen. Dies ist ja auch der Fall bei Verhaltensauffälligkeiten des Kindes.

Zusätzlich gibt es heute glücklicherweise eine Vielzahl von (Bewegungs-) Therapieangeboten für bewegungsauffällige Kinder, was bis vor wenigen Jahren nicht so war.

Ich möchte hier einige Therapieformen aufführen und sie näher erläutern, wobei ich mich hier auf die häufigsten beschränke:

- Psychomotorische Übungen

z. B. nach Kiphard zur Verbesserung der Grob und Feinmotorik, Koordination und Konzentration, Kör- perbeherrschung und des Sozialverhaltens, des Selbstbewußtseins und der realistischeren Selbsteinschät- zung

- Bewegungspädagogische bzw. therapeutische Maßnahmen

z.B. Bewegungserziehung nach Marianne Frostig, für diese die Bewegungserziehung eine großartige Möglichkeit zur Steigerung der Bewegungs- und Lebensfreude, zur Erhöhung des Selbstwertgefühls und der psychomotorischen Kreativität, aber auch zur positiven Beeinflussung kindlichen Lernens einschließlich des Sozialverhaltens war.

- Verhaltensmodifikation

Diese kann nach Götze / Neukäter zu „eindeutigen und dauerhaften Verbesserungen vor allem im schulischen Bereich führen.“(Schmutzler 1994, S.170)

- klientenzentrierte Spieltherapie

- Ergotherapie

Auf der Grundlage der normalen Kindesentwicklung werden Kinder in jedem Alter von Ergotherapeuten behandelt. Ihre Ausbildung ist medizinisch fundiert. Störungen werden über einen ganzheitlichen Therapieansatz in Einzel. oder Gruppentherapie behandelt. Es werden zusammenhängende Handlungsabläufe und Einzelfunktionen geübt. Der Ansatz der Ergotherapie berücksichtigt das Kind in seiner Gesamtpersönlichkeit mit seinen motorischen psychisch-geistigen und sozialen Anteilen.

- Motopädie

Motopäden sind ausgebildete Pädagogen (Lehrer, Erzieher, Heilpädagogen) mit einer Zusatzausbildung. Sie arbeiten ergänzend zu einer medizinisch orientierten Therapie mit Gruppen bewegungsauffälliger und wahrnehmungsgestörter Kinder.

Erwähnenswert sind hier noch Yoga und Judo ( um erfolgreiche Körperbeherrschung, bewußtere Selbststeuerung sowie Konzentration und die allgemeine Geschicklichkeit zu fördern), angewandte Kinesiologie (Muskelentspannungstraining) und Autogenes Training.

Es wird hier im Einzelfall zu entscheiden sein, welche Therapie bzw. Therapienkombination zweckmäßig ist.

3 Pädagogische und psychologische Rückschlüsse und Folgeüberlegungen

In der Art der Umgangsweisen mit „hyperaktiven“ Kindern im besonderen und mit vehaltensauffälligen Kindern im Allgemeinen, wird das Menschenbild der jeweiligen Person deutlich. Hier erscheint mir die Be- handlung mit Medikamenten sehr fragwürdig. Sie ist zwar meist sehr wirksam, aber sie verändert auch das Kind in seinen ganz spezifischen Eigenarten auf unnatürliche, meiner Meinung nach sogar gewaltsame Wei- se. Für die Personen, die mit dem Kind umgehen, stellt diese „Ruhigstellung“ zwar eine Erleichterung dar, sie erscheint mir aber aus pädagogischer Sicht sehr fragwürdig. Wie in 1.4.1 beschrieben werden die Kin- der angeblich „leistungsfähiger“, „lenksamer“ und sie „lassen sich leichter führen“. Außerdem sollen sie bes- ser auf „erzieherische Maßnahmen reagieren“. Natürlich ist der Umgang mit solchen Kindern für die Er- wachsenen leichter. Und diese Verhaltensänderung mit Medikamenten zu erreichen ist eine sehr „bequeme“ Weise. Dabei muß man sich nicht in solchem Umfang mit dem Kind und mit seiner Beziehung zum Kind auseinandersetzen (es ist weniger zeitaufwendig als andere Behandlungsformen usw.). Ein „unnormales“ Kind ist unbequem, auffällig, störend, evtl. sogar beschämend, und vor allem ein ziemlich negatives „Aushängeschild“ für eine Familie, eine Kindergartengruppe, eine Schulklasse. Ich kann zuwenig beurteilen ob eine Behandlung mit Medikamenten für das Kind selber niemals nötig ist, ich denke aber, daß sie aus pädagogischer Sicht in jedem Fall weitestgehend vermieten werden sollte. Auch sollten die „Motive“ aus denen heraus entschieden wird gut überprüft werden: Dient die Behandlung dem Kind selbst (z.B. verstärkt sie das Selbstwertgefühl, unterstützt es das Kind in seinen sozialen Kontakten usw.) oder steht die „Normalisierung“ und der dadurch leichtere Umgang mit dem Kind im Vordergrund?

Für das Kind selbst erscheinen mir die heilpädagogischen Behandlungsmöglichkeiten und Therapieformen für sehr sinnvoll. Hier kann spezifisch für das Kind eine (oder mehrere) bestimmte Behandlung ausgewählt werden. Die verschiedenen Ansätze unterstützen das Kind auf eine sehr ganzheitliche Weise in seiner Ent- wicklung und helfen ihm z.B. besseres Sozialverhalten zu lernen und damit besser und leichter soziale Kon- takte knüpfen zu können .

Über die Behandlung den Umgang aus psychologischer Sicht denke ich , daß es zunächst wichtig ist, dem Kind gegenüber viel Verständnis aufzubringen und ihm dies auch zu signalisieren.

Dieses Verständnis ist die Voraussetzung für die richtige Behandlung von „Hyperaktivität“ (und für den Umgang mit Kindern überhaupt!)

Ich werde hier einige Ansätze, die die Psychologie für sinnvoll hält, besprechen.

- Feste, sinnvolle Regeln

Das „hyperkinetische“ Kind braucht feste, genau definierte, gleichbleibende Regeln.. Diese Regeln müssen bei Einhaltung bzw. Nichteinhaltung vorhersehbare und für das Kind nachvollziehbare/logische Folgen haben. Hier bei ist die Konsequenz sehr wichtig.

- Positives Verhalten verstärken, Erfolgserlebnisse vermitteln

Es kann also eine Anwendung des operanten Konditionieren erfolgen, dem Lernen durch positive Ver- stärkung bei gewünschtem Verhalten und negativer Verstärkung (allerdings hier oft nicht so gut geeignet) bzw. keinerlei Verstärkung durch Ignoranz bei unerwünschtem Verhalten. Hierbei wird dem Kind das Publikum genommen. Im Gegensatz dazu sollte man dem Kind Gelegenheit geben, positiv aufzufallen, z.B.

Das Kind zu Loben für jede Befolgung einer Regel. Denn was für andere normal erscheint, ist für „hyperaktive“ Kinder oft eine Leistung.

Am erfolgreichsten wird diese Erziehungsmethode allerdings bei kleineren Kindern bis zu elf Jahren sein. Desweiteren können Bedingungsabmachungen als verhaltenstherapeutische Technik vor allem für ältere Kinder sehr dienlich sein. Bei dieser Technik werden die gegenseitig aneinander gestellten Erwartungen besprochen (und evtl. in „Vertragsform“ niedergeschrieben) Es werden Übereinkommen getroffen: „Wenn du dieser Verpflichtung nachkommst, führe ich jene Verpflichtung aus“.

- Problembewältigung den Kindern zutrauen

Wenn keine Gefahr für Leben oder Gesundheit besteht. sollten Erwachsene die Folgen des Verhaltens auch wirklich eintreten lassen. Sonst wird den Kindern die unverzichtbare Chance genommen, aus Erfah- rung zu lernen.

Verhaltensauffällige Kinder werden unterfordert, weil wir ihnen keine Problemlösungen zutrauen, sie wer- den aber auch überfordert, weil sie nur eingeschränkte kommunikative Möglichkeiten haben. Eine Mög- lichkeit für Erzieher, Eltern usw. den Kindern eine wirksame Lösung ihrer zahlreichen Probleme zu geben, besteht daher im Einüben kommunikativer Verhaltensweisen und darin, Verständnis für andere zu we- cken.

- Kommunikative Verhaltensweisen einüben/ Verständnis für andere wecken

Das Einüben erprobter sozialer Verhaltensweisen gelingt hier am besten im Rollenspiel. Während der ge- meinsamen Suche nach Konfliktlösungen wird das Verständnis für andere bei allen Beteiligten geweckt.

- Bewegungsdrang kanalisieren

Die Kinder sollten immer wieder die Möglichkeit haben ihren Bewegungsdrang nachzugehen. Hierzu können vielfältige Spielgeräte bereitgestellt sein (z.B. ein Trampolin)

- Beruhigende, entspannende Phasen einbauen

Durch Musik oder meditativen Übungen kann versucht werden eine Stimmung behaglicher Entspannung hervorzurufen. Solche Übungen dürfen nur kurz sein, lange hält dies ein „hyperaktives“ Kind nicht durch.

- Modellernen: Erwachsenen haben Vorbildfunktion

Das erfolgreiche aggressive Verhalten von Vorbildern verstärkt nachweislich die Aggressionsbereitschaft. Hierbei ist es wichtig, sachlich und ruhig auf evtl. Provokationen der Kinder einzugehen.

Allgemein gilt es, dem Kind aktiv zuzuhören. Dies ist vor allem wichtig, wenn man z.B. daran denkt, wie häufig sich diese Kinder selbst nicht über ihre Gefühle klar sind. So kann häufig Klärung von Situationen erreicht werden.

Weiterführend sind hier noch die schon erwähnten speziellen fachkundigen psychologischen Hilfen, wie z.B. die Psychotherapie, psychomotorische Übungen usw..

Eine kombinierte Form der Behandlungsmöglichkeiten bzw. Therapien ist meist die bestmöglichste und erfolgreichste Möglichkeit für die Kinder. Hierbei ist aber eine gute, sich gegenseitig unterstützende Zu- sammenarbeit und der rege Informationsaustausch zwischen Eltern, Therapeuten und Pädagogen aus- schlaggebend.

4 Hyperaktivität: mögliche Stigmatisierung von Kindern

4.1 Der Stigmatisierungsansatz

4.1.1 Definition / Worterklärung

„Stigma (griech. Gebrandmarkter) bedeutet, daß eine Eigenschaft, wie z.B. ein „Anderssein“ oder eine Behinderung in eine Relation zur sogenannten „Normalität“ gebracht wird und die sich zu einem diskreditie- renden Stereotyp ausbildet. Oft wird sie mit diversen Zuschreibungen (Etikettierung, Labeling) wie Faulheit, Bösartigkeit usw. ausgestattet, d.h., so wird ein unerwünschtes, abgelehntes Anderssein bezeichnet und bewertet. Stigmatisierungen sind „ein allgemeiner Bestandteil von Gesellschaft“.“ (Schmutzler 1994, S. 58)

4.1.2 Mögliche Ursachen und Funktionen von Stigmatisierung und Erklärungen

Die Wahrnehmung jedes Menschen ist komplex. Wir müssen selektieren um wahrnehmen zu können. Hier vermeiden wir „kognitive Dissonanzen“ (Widersprüche in unserem Bild über einen Menschen) indem wir das selektieren, was unserem Bild nicht entspricht und Übereinstimmungen verstärkt wahrnehmen. Unser Wahrnehmungsapparat ist dadurch sozialpsychologisch eingeschränkt.

Die sozialpsychologische Einschränkung erfolgt in der Aussonderung jener Reize, die unserer „Einstellung“/ unserem Bild nicht entsprechen. Das heißt, Wahrnehmungen die unserer Einstellung entsprechen, werden verstärkt wahrgenommen. (Diese Vorgänge sind unbewußt und dadurch zunächst auch nicht beeinflußbar!) Hier kommt es zur Stigmatisierung : Der Mensch nimmt selektiv wahr in Bezug auf seine Einstellung.

Ein Kind, das nun dem Bild einer Erzieherin über ein „normales Kind“ nicht entspricht, wird von dieser z.B. als „verhaltensauffällig“ bezeichnet und somit stigmatisiert. Die Erzieherin nimmt fortan die Verhaltensweisen des Kindes verstärkt wahr, die dieser Etikettierung entsprechen (das Kind schlägt, schreit, lügt usw.), wäh- rend sie widersprüchliche Verhaltensweisen (das Kind ist sehr lange konzentriert beim Spiel; es hilft einem Jüngeren usw.) aussondert. Es kann auch zu einer negativen Umdeutung kommen, indem die eigentlich po- sitiv bewerteten Verhaltensweisen, z.B. als Ausnahmen oder Berechnung, abgeurteilt werden.

Katz beantwortet die Frage nach den Funktionen von Stigmata wie folgt: „Stigmata vermitteln Orientierung in noch unklaren sozialen Interaktionen, bieten die Möglichkeit zur Projektion verdrängter Triebansprüche und zur Abreaktion von Aggressionen, offerieren eine Identitätsstrategie zur Bewahrung eines gefährdeten psychischen Gleichgewichts, nachdem die Begegnung mit einem Stigmatisierten (...) in vielen Fällen eine Bedrohung der eigenen Identität dargestellt hat. Gesamtgesellschaftlich wird von Systemstabisisierung, Sündenbockfunktion zur Kanalisierung von Aggressionen sowie von Belohnung der Normtreue der Nicht- Stigmatisierten gesprochen: Ohne Stigmatisierte wäre es kein Vorteil, „normal“ zu sein.“ (Hensle 1994, S.213)

4.1.3 Verschiedene Stigmatisierungsphänomene

Hier werde ich zwei Phänomene betrachten, die meiner Meinung nach in Bezug auf Hyperaktivität von höchster Relevanz sind:

- „Master Status“

„Stigmatisierungs- und Etikettierungsprozesse knüpfen bei Merkmalen an, die von denen der Majorität abweichen (den primären Abweichungen), aber dabei bleibt es nicht: Das Stigma wird zum „Master Sta- tus“, auf dem Weg der Generalisierung werden dem Stigmatisierten weitere ebenfalls negative Eigenschaf- ten zugeschrieben, die mit dem tatsächlich gegebenen Merkmal objektiv nichts zu tun haben.“ (Hensle 1994, S.212)

Hier findet auch eine Reduzierung der Person auf ein (von der Norm abweichendes) Merkmal statt. Alle anderen Merkmale und Eigenschaften werden diesem untergeordnet oder peripher gesehen.

- „Self-fulfilling-prophecy“/ die „Sich-selbst-erfüllende Prophezeiung“

Etikettierung und Stigmatisierung nähern sich der sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

In der Erziehung meint man etwas vorauszusehen und setzt (meist) unbewußt verbale oder nonverbale Settings (Bedingungen), damit seine Prognose auch eintritt.

UNBEWUSST

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Hierbei ist der Einfluß von Interaktionselementen verantwortlich, der den Beteiligten meist unbewußt ist.: „Vielversprechende, „normale“ Kinder erhalten mehr Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und mehr Feedback. Umgekehrt können negative Verhaltenserwartungen sich in -vielfach nonverbalen- Interaktionselementen arrangiertes Setting/ ausdrücken, die den Effekt eines Eintreffens dieser unverbal oder noverbalen zeitigen; delinquentes Verhal- ten eines Jugendlichen etwa kann dadurch verfestigt werden, daß seine Umgebung gar nichts anderes mehr erwartet.“ (Hensle 1994, S. 212)

Deshalb ist bei einem Andauern ausgeprägter Verhaltensstörungen immer nachzuprüfen, ob nicht negative Erwartungshaltungen zu diese Verfestigung beigetragen haben.

1.4.4 Folgen der Stigmatisierung

„Die Folgen reichen von ungünstigem öffentlichen Ansehen über Kontaktverlust, den Verlust von Berufsrollen, den Verlust von Daseinschancen, der mehr oder weniger vollständigen Ausgliederung aus der Gesellschaft bis hin zur physischen Vernichtung“ (Hohmeier 1975, S.13)

Eine mögliche Folge kann hier auch das, von Goffman beschriebene Stigma-Managment (die vielfältigen Reaktionen der Stigmatisierten auf ihren Makel) sein.

Eine solche Reaktion ist z.B., daß die betroffene Person einen sekundären Gewinn aus dem Stigma zieht, es als „Entschuldigung für Mißerfolg“ benutzt.

Auch ein Zurückziehen aus den, als unangenehm erlebten, gemischten sozialen Kontakten oder das Ausweichen unter „Seinesgleichen“ kann eine mögliche Folge sein.

Alle Reaktionen können hier aber von den „Normalen“ als Bestätigung oder direkten Ausdruck des Stigmas aufgefaßt werden.

Dadurch wird es für einen Stigmatisierten auch so „außerordentlich schwierig, das einmal festgelegte Stigma aufzulösen, weil alle seine Reaktionen -wie Ärger, Angst, Aufregung, Aggression oder Resignation- als eine Bestätigung der zugeschriebenen Eigenschaften aufgefaßt werden.“ (Hohmeier 1975, S.14)

4.2 Praxisbeispiel: Werner

Ich möchte hier ein Kind aus der integrativen Gruppe, in der ich als Berufspraktikantin mit zwei Erzieherinnen arbeite, vorstellen und beschreiben. Ich schildere hier zunächst drei Situationen in denen das Verhalten Werner dargestellt wird. Später werde ich noch näher auf ihn eingehen:

1.Situation: Bringsituation

Dienstag vormittag 9.00 Uhr. Die Türe im Gruppenzimmer fliegt auf und Werner stürmt mit strahlendem Gesicht herein, bleibt aber in der Mitte des Zimmers wie angewurzelt stehen. Währenddessen steht seine Mutter im Türrahmen und redet die ganze Zeit sehr schnell auf ihn ein. Sie erklärt ihm irgend etwas über sein Frühstück, das er heute dabei hat. Es ist nicht klar, ob Werner dies überhaupt gehört hat. Die Mutter fängt jetzt die Erzieherin ab, die gerade zur Türe herein kommt und erklärt ihr die ganze Sache nochmals. Werner schaut sich währenddessen im Zimmer um, macht eine Vierteldrehung und springt mit einem Rie- sensatz auf den Teppich mit den Bausteinen. Dabei kichert und schreit er laut. Er lehrt mit einem Schwung die ganze Kiste aus, und beginnt die Bauklötze auf dem Teppich herumzuschmeißen. Die Kinder die neben dem Teppich spielen, fühlen sich dadurch gestört und sagen ihm, er solle aufhören. Aber Werner lacht nur laut und schmeißt die Bausteine weiter umher. Dabei liegt er flach auf dem Bauch und streckt alle Viere von sich. Schließlich geht die Erzieherin auf ihn zu, kniet neben ihm nieder und legt ihre flache Hand auf seinen

Rücken. Sie fragt ihn ob er mit ihr zusammen einen Turm bauen will, worauf er sofort begeistert aufspringt und heftig nickt. Die beiden bauen sehr lange und sind dabei intensiv beschäftigt. Werner wirkt wie befreit.

2. Situation: Stuhlkreis

Donnerstag ca. 11.00 Uhr, Stuhlkreis. Wir spielen gerade „Mein rechter rechter Platz ist leer“. Werner kniet auf seinem Stuhl und dreht sich weg vom Stuhlkreis zu einem Bücherregal hin. Dort beginnt er über die verschiedenen Bücher zu streichen. Die Erzieherin bittet ihn damit aufzuhören, und sich richtig hinzuset- zen. Werner dreht sich kurz wieder Richtung Kreis, aber schon nach ein paar Sekunden streifen seine Fin- ger wieder über die Bücher. Die Erzieherin die neben ihm sitzt, fragt ihn schließlich, ob er sich auf ihren Schoß setzen will. Werner schüttelt den Kopf. Er will auf seinem Stuhl sitzen, beugt sich aber mit dem O- berkörper über ihre Knie. Im Stuhlkreis macht gerade ein Kind ein Krokodil nach. Werner beobachtet dies und springt dann von seinem Stuhl auf, wirft sich auf den Boden und windet sich dort hin und her. Dabei lacht er laut. Die Erzieherin holt ihn zurück auf seinen Stuhl, und sagt ihm, daß er jetzt nicht dran ist. Zwei Sekunden später wirft er sich wieder laut lachend in die Mitte des Stuhlkreises. Schließlich nimmt die Erzie- herin Werner auf den Schoß, wogegen er sich auch nicht wehrt. Sie umarmt ihn fest und er schmiegt sich an sie.

3. Situation: Beim Malen mit Wasserfarben

Dienstag ca. 10 Uhr. Auf einem Tisch in der Gruppe wurden Wasserfarben und dicke Pinsel bereitgelegt. Die Kinder können frei malen und es sitzt eine Erzieherin dabei.

Werner kommt gerade vom Frühstück. Er kommt zielstrebig auf den Tisch zu und sagt mit Bestimmtheit in der Stimme: „Jetzt male ich ein Bild!“ Die Erzieherin bittet ihn, sich einen Malerkittel zu holen, was er auch sofort bereitwillig macht. Sie hilft ihm diesen anzuziehen, denn er ist, so scheint es, vor lauter Eifer und Vor- freude nicht in der Lage dazu. Er setzt sich sofort auf den freien Stuhl. Intensiv betrachtet er zunächst die vorhandenen Farben und Pinsel. Er sucht sich schließlich den dicksten Pinsel aus, tunkt ihn vorsichtig ins Wasser und mischt dann die Farbe dazu. Er läßt sich dazu sehr viel Zeit. Als er den ersten Strich auf sein Papier malt, strahlt er über das ganze Gesicht. Er beginnt langsam mit den Farben und dem Pinsel zu for- schen und zu experimentieren. Dabei wirkt er äußerst ruhig und konzentriert. Ab und zu kommt seine Zun- ge zwischen seinen Lippen zum Vorschein, die er dann immer hin und her fahren läßt. Immer wenn er eine neue Farbe ausprobiert, strahlt er über das ganze Gesicht. Werner ist sehr schnell mit der Technik vertraut und er mischt Wasser und Farben rasch im richtigen Verhältnis. Er malt ein sehr ausdrucksvolles Bild bei dem er die Farben in einer sehr passenden und aufeinander abgestimmten Weise wählt. Schließlich sagt Werner: „Jetzt bin ich fertig!“ Dabei wirkt er sehr stolz. Er will auch sofort wissen ob er es gleich mit nach Hause nehmen darf. Als die Erzieherin das bejaht, strahlt er wieder über das ganze Gesicht und geht, um seine Hände zu waschen.

Die drei beschriebenen Situationen machen die Persönlichkeit Werners in guter Weise deutlich. Man könn- te meinen, daß die dritte Situation ein anderes Kind beschreibt. Würde man nur die ersten beiden Situatio- nen kennen, so entstände ein falsches, eingeschränktes Bild von Werner. Um nicht vorschnell zu einem Urteil zu kommen ist es sehr wichtig, gut und oft zu beobachten. Ich werde darauf später noch einmal ein- gehen. Zunächst werde ich die Person Werner noch näher beschreiben und seine Geschichte, soweit sie mir bekannt ist, aufzeigen:

Kindergarteneintritt:

Werner ist 4,5 Jahre alt und seit September 1996 im Kindergarten. Er hat einen 6 jährigen Bruder in der anderen Gruppe des Kindergartens. Seine Mutter wirkt auf mich äußerst hektisch und etwas chaotisch, sein Vater macht eher einen besonnenen Eindruck.

Kurz nach Werners Eintritt in die integrative Gruppe (zunächst auf einen Regelplatz) wurde uns Erzieherinnen der Gruppe deutlich, daß Werner einen erhöhten Förderbedarf hat.

Er brauchte anfangs ständig (und auch heute noch oft) die intensive Betreuung und Begleitung eines Erwachsenen. Wenn er diese nicht erhielt, rannte er völlig ziellos in der Gruppe herum, holte sich alle möglichen Spielsachen heraus und mischte dadurch die ganze Gruppe auf. Ihm waren die Anforderungen und die verschiedenen Reize zuviel, die nun alle auf ihn eintrafen.

Werner hatte ein sehr starkes und heftiges Bewegungsbedürfnis und verschaffte sich immer wieder Gleichgewichtsstimulationen z.B. durch „Kippeln“ mit dem Stuhl. Außerdem konnte er keinerlei Gefahren einschätzen. Er war sich seiner eigenen Körpergrenzen nicht bewußt und er zeigte häufig distanzloses Verhalten gegenüber Fremden (z.B. hatte er sofort intensives Zutrauen uns Erzieherinnen gegenüber). Werner hatte wenig soziale Hemmschwellen.

Wenn etwas nicht klappte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, wurde er sehr leicht zornig. Insgesamt waren seine Gefühle sehr heftig und wechselten rasch. Auch beim Erfassen der Reihenfolge bei alltäglichen Verrichtungen hatte er anfangs Schwierigkeiten. Beim Turnen z.B. wußte er nicht, ob zuerst die Unterhose, die Strumpfhose oder die Hose angezogen wird.

Die Turnsituation war auch anfangs nahezu unbewältigbar für Werner. Er rannte wild und ziellos im Raum umher, warf sich auf den Boden und konnte nur durch intensiven Körperkontakt und gutes Zureden beru- higt werden. Also mußte auch beim Turnen eine Erzieherin nur für Werner allein dabeisein und ihm unter- stützen und begleiten.

Im Stuhlkreis hielt er es nur aus, wenn er auf dem Schoß einer Erzieherin saß, also intensiven Körperkontakt hatte. Dabei war es ihm egal, um welchen Erwachsenen es sich handelte. Er machte keinen Unterschied zwischen uns. Trotzdem kostete ihm diese Stuhlkreissituation sehr viel Kraft und er konnte die nötige Konzentration kaum aufbringen, auch wenn der Stuhlkreis nur 10 Minuten dauerte.

Säuglingsalter und Entwicklung:

Schon nach kurzer Zeit wurden beide Eltern zu einem Gespräch eingeladen, bei dem folgendes in Erfahrung gebracht werden konnte:

Werner wurde nach seiner (laut Mutter sehr schnellen) Geburt als Säugling gestillt. Auch beim Stillen war er sehr schnell und brauchte nur ca. 10 Minuten.

Mit 12 Monaten begann Werner zu laufen, wobei er die Krabbelphase fast übersprungen hat. Mit Beginn des Laufens hob er zunächst immer sein Laufgitter hoch und schob es vor sich her. Mit 1,5 Jahren hatte Werner einen 3-tägigen Klinikaufenthalt, da er Spülmaschinenmittel geschluckt hat. Die Sprache setzte sehr spät ein, und Werner spricht auch heute noch in der Babysprache, wenn er müde ist.Er schläft mittags 3 Stunden fest. Dieser Mittagsschlaf ist sehr wichtig für ihn, da er nach ein paar Stunden schon am Rande der Erschöpfung ist. Dieser Mittagsschlaf wurde nach dem Eintritt in den Kindergarten noch nötiger. Nachts schläft er ca. 11 Stunden durch, braucht aber eine sehr lange Zeit, um zur Ruhe zu kommen und einzuschlafen. Außerdem ist Werner nachts noch nicht sauber.

Der Vater erwähnt im Gespräch wörtlich: „Werner hat keine Angst und auch keinen Respekt.“ Außerdem fällt auf, daß sie beim Gespräch sehr oft von Werners älteren Bruder erzählen und Parallelen zwischen den beiden aufzeigen.

Der kinderärztliche Seh- und Hörtest war bei Werner laut der Eltern gut und der Arzt hat keine Beeinträchtigung in diesem Bereich festgestellt.

Am Ende des insgesamt sehr positiv verlaufenen Elterngesprächs willigten die Eltern in den Vorschlag ein, Werner vom Heilpädagogen des Kindergartens diagnostizieren zu lassen und danach evtl. (je nach dem Ergebnis) einen heilpädagogischen Platz für ihn zu beantragen.

Diagnostik und Behandlung:

Der Heilpädagoge stellte bei Werner eine Reizisolierungsschwäche fest. Seine Wahrnehmung ist dann eingeschränkt, wenn viele Reize auf ihn einwirken. Wenn er nur einen Reiz empfängt und andere Reize ausgeschaltet sind, funktionieren seine Wahrnehmung und seine Sinne sehr gut.

Bei zu vielen Reizen findet eine Reizauswahl nur mangelhaft statt.

Die Einordnung und die Verbindung mit Erfahrungen wird dadurch erschwert.

Werner ist inzwischen auf einem heilpädagogischen Platz und bekommt nun zusätzliche heilpädagogische Förderung. Der Heilpädagoge arbeitet hauptsächlich allein mit ihm. Er macht mit ihm meistens Übungen zur Förderung der taktilen und akustischen Wahrnehmung, bei denen er versucht, möglichst viele andere Reize auszuschalten (z.B. Tastfelder für Hände und Füße mit Augenbinde). Durch die „dosierte“ Wahrnehmung bietet dies Hilfen in der Reizverarbeitung. Werner ist hier sehr begeistert bei der Sache, er läßt sich gut führen und artikuliert zunehmend eigene Wünsche.

Durch Übungen der „Basal-Stimulation“ nach Jean Ayres erwirbt er Klarheit über sein Körpergefühl z.B. lernt er eigene Körpergrenzen kennen. Diese Übungen macht er sowohl mit dem Heilpädagogen als auch mit den Erziehern.

Bei der gesamten pädagogischen Arbeit wird darauf geachtet, daß Werner als individuelle Persönlichkeit geschätzt und ernst genommen wird. Dies ist manchmal gar nicht so einfach, denn er kann, wie schon erwähnt, sehr zornig werden. Er hat einen sehr ausgeprägten, starken Willen. Diese Erfahrungen von Wertschätzung und Akzeptanz geben ihm sehr viel Selbstvertrauen.

Weitere Hilfen und Behandlungsformen im Kindergarten:

-klare Strukturen und Regeln

Für Werner sind eine klare Struktur, klare Regeln und Konsequenz in der Behandlung sehr wichtig. Er braucht Sicherheiten und einen klaren Rahmen. Unter diesen Voraussetzungen fühlt er sich wohl und ist z.B. fähig, sich zu konzentrieren.

Bei der beschriebenen Malsituation war dies gegeben: Er hatte einen festen Rahmen (das Blatt) und eine vorgegebene Struktur (die bereitgestellten Materialien). Hier konnte er äußerst konzentriert sein. Wenn Werner gelobt wird, weil er sich an eine Regel gehalten hat, so gibt ihm das sehr viel Selbstvertrauen und die Aufmerksamkeit, die er so dringend braucht.

- Materialien

Die in großen Umfang vorhandenen heilpädagogischen und therapeutischen Materialien unterstützen ihn in seinen Bedürfnissen. Er benutzt z.B. gerne und oft das Schaukelbrett. Es befriedigt seinen großen Bedarf an Gleichgewichtsstimulationen. Auch das Trampolin hilft ihm seinen Bewegungsdrang zu kanalisieren. Das ihm zur Verfügung stehende Montessori-Material ermöglicht durch seine Begrenzung auf jeweils ei- nen neuen Abstraktionsschritt entdeckendes Lernen . Es bringt Werner viele kleine Erfolgserlebnisse (die zu weiteren Anstrengungen motivieren), überfordert ihn nicht und läßt so Selbstbewußtsein entstehen.

- Ruhephasen

Für Werner ist es sehr wichtig, daß der Raum auch Ruhezonen bietet. Er zieht sich z.B. sehr gerne in die Hängematte zurück, um sich von seinen Reizeindrücken zu erholen und diese zu verarbeiten. Werner genießt auch kurze Massagen in der Kuschelecke oder Entspannungsgeschichten.

- Vorbild der Erzieher

Durch das möglichst ruhige und ausgeglichene Verhalten der Erzieher, lernt Werner andere Lösungsmöglichkeiten für Konflikte. Außerdem können dadurch die Wogen besser geglättet werden, die Werner durch sein Verhalten verursacht.

- Zusammenarbeit von Erziehern, Therapeuten und Eltern

Durch regelmäßigen Austausch und die Entwicklung eines gemeinsamen Erziehungskonzepts wird verhindert, daß Werner die Erwachsenen gegeneinander ausspielt. Außerdem kann diese Zusammenarbeit beispielhaft für ihn wirken.

Werner hat sich dank der besonderen und individuellen Förderung, der guten personellen Besetzung und der großen Auswahl an heilpädagogischen und Spiel- und Bewegungsmaterialien sehr gut im Kindergarten eingelebt. Viele seiner Verhaltensweisen haben sich gebessert, wodurch er in der Gruppe akzeptierter ist als anfangs. Er hat auch Freunde gefunden, die er außerhalb der Kindergartenzeit besucht. Weil er mit sich selbst besser zurechtkommt, fällt ihm auch der behutsame Umgang mit anderen leichter. Er braucht auch heute noch häufig die intensive Zuwendung einer Erzieherin. Aber nicht mehr so lange wie anfangs. Oft reicht es, ihm ein Material anzubieten/ vorzuschlagen und er geht darauf ein und beschäftigt sich sehr intensiv damit. Er spielt auch gerne und oft mit anderen Kinder. Manchmal ist er über eine Stunde lang beim Spiel mit seinem Freund vertieft.

Während dieser ganzen Zeit gingen wir im Team sehr vorsichtig mit Beurteilungen um und versuchten diese weitgehendst zu umgehen. Es wurde sich immer darum bemüht, Werner als Gesamtpersönlichkeit zu sehen und ihn nicht in seinen Verhaltensweisen einzuschränken.

Obwohl viele seiner Verhaltensweisen mit den Erscheinungsbildern der Hyperaktivität übereinstimmen, fiel dieses Wort im Zusammenhang mit Werner nie.

Exkurs: Was wäre wenn...?

Die Gefahr ist sehr groß, durch Etikettierungen, wie „hyperaktiv“, stigmatisiert zu werden. Werner wäre dann nicht mehr nur als Werner gesehen worden, der sehr aufgeschlossen, fröhlich usw. ist, sondern als der hyperaktive Werner. Seine anderen Eigenschaften wären in den Hintergrund gerückt. Dadurch hätte eine Reduzierung seiner Persönlichkeit auf diese eine Eigenschaft „hyperaktiv“ stattgefunden. Erzieher und Eltern würden gar nichts andres von ihm erwarten, als daß er sich auch „hyperaktiv“ benimmt. Sie hätten ihm verbal oder nonverbal zu verstehen gegeben, daß sie sowieso nichts anderes von ihm erwarten.

Durch diese Etikettierung wäre evtl. die ganze Familie von den anderen Familien des Kindergartens ausge- grenzt worden. Werner hätte weniger soziale Kontakte zu Gleichaltrigen. Vielleicht würde er sich sogar selbst aus den sozialen Kontakten zurückziehen, da diese für ihn (als Stigmatisierten) unangenehm gewor- den sind. Alles was er gegen die ihm entgegengebrachte Abneigung und die unsichtbaren Mauern unter- nommen hätte, wäre als Beweis für sein Stigma gesehen worden. Es wäre ein Kreislauf in Gang gesetzt worden, aus dem er und alle Beteiligten nur schwer wieder herausgekommen wären. Dieser mögliche Ablauf ist natürlich überzeichnet dargestellt. Aber meine Absicht war es hier, den Unter- schied in der Umgangsweise mit einem Kind und die evtl. Folgen möglichst deutlich aufzuzeigen.

5 Konsequenzen für mein pädagogisches Handeln

5.1 Konsequenzen für geplantes sozialpädagogisches Handeln

Tagesablauf:

Der Tagesablauf sollte den Bedürfnissen der Kinder entsprechend angepaßt und veränderbar sein. Hierbei ist eine erkennbare Struktur und die Einplanung von Ruhephasen vor allem für „hyperaktive“ Kinder sehr wichtig.

Planung:

Auch die Wochen- und Monatspläne sollten individuell auf die jeweiligen Bedürfnisse der Kinder angepaßt werden. Außerdem sollten diese auch immer genug Spielraum für spontane Impulse und Veränderungen lassen. Die Planung sollte die Kinder nicht überfordern und die formulierten Ziele sollten vor allem das Wohl der Kinder beinhalten. Außerdem ist es hier auch von Bedeutung, daß die Ziele nicht zu hoch gesteckt werden, weder für die Kinder noch für die Erzieher. In diesen Plänen ist es dann sehr wichtig daß der sehr große Bewegungsdrang mancher Kinder berücksichtigt wird. Auf Projekte, die sehr viel Zeit und Aufwand der ErzieherInnen kosten, sollte lieber verzichtet werden. Denn unter vielbeschäftigten und nervösen ErzieherInnen leiden alle Kinder. Gerade „hyperaktive“ Kinder brauchen eine(n) ruhige(n) und ausgeglichene(n) ErzieherIn am nötigsten. Bei der Planung von Festen ist wichtig, daß deren Vorbereitung nicht schon Wochen vorher alle ErzieherInnen völlig einnimmt und deren Zeit in großen Umfang beansprucht. Solche Veranstaltungen gehen leider sehr oft auf Kosten der Kinder.

In der Erstellung von Wochen und Monatsplänen ist auch die Einplanung von genügend Zeit für regelmäßige Beobachtungen wichtig, damit die vorhandenen Bilder über die Kinder regelmäßig überprüft und verändert werden können, und Etikettierungen gar nicht erst entstehen.

Angebote:

Die durchgeführten Angebote sollten auch an den Bedürfnissen der Kinder anknüpfen. Sie sollten vor allem für die Kinder bewältigbar sein und nicht hauptsächlich die ErzieherInnen beschäftigen und beanspruchen. Die Angebote sollten vielseitig sein und den Kinder die Möglichkeit geben, möglichst viele (Sinnes-) Erfahrungen zu machen. Dabei können die Kinder ihre erworbene Fähigkeiten gebrauchen und die Konsequenzen erfahren, die sich daraus ergeben (z.B. wenn sie zu schnell die Sprossenwand hochklettern, können sie leicht ausrutschen und herunterfallen).

Elternarbeit:

Die Elternabende können als Möglichkeit genutzt werden, die pädagogische Arbeit der Erzieher transparenter zu machen (z.B. über die Wichtigkeit der sensorischen Integration und die Umsetzung im Kindergarten). Außerdem kann hier auch ein Abend über die Gefahr und die möglichen Folgen der Stigmatisierung informieren und dadurch evtl. Etikettierungen vermeiden. Hierbei ist aber wichtig, daß die Eltern nicht überfordert werden und daß das Niveau nicht zu hoch bzw. zu niedrig ist.

Außerdem sollten Elterngespräche regelmäßig stattfinden. Denn gerade in diesem Rahmen kann sehr gut möglichen Stigmatisierungen entgegengewirkt und Verständnis für betroffene Eltern und Kinder geschaffen werden.

5.2 Konsequenzen für situatives sozialpädagogisches Handeln

Beim alltäglichen Handeln ist vor allem das Verständnis für alle Kinder wichtig. Ich sollte hier als Erzieherin dem Kind Wertschätzung entgegenbringen. Denn diese Basis ist für mich die Voraussetzung für pädagogisches Handeln. Gutes Beobachten und Einfühlen in die Situation ermöglicht mir auch, die Bedürfnisse der Kinder rechtzeitig wahrzunehmen und meine Konsequenzen daraus zu ziehen.

Das Wohl des Kindes sollte in jedem Fall im Vordergrund stehen. Hier kann keine Pauschalregel gegeben werden, denn jedes Kind ist individuell und verschieden. Das genaue Beobachten hilft hier nicht vorschnell zu urteilen und nicht falsch bzw. unpassend zu reagieren. Bei der Arbeit mit „hyperaktiven“ Kindern ist dies genauso wichtig wie bei allen anderen Kindern und Jugendlichen auch.

Besonders hervorzuheben wäre hier noch die Wichtigkeit der Konsequenz. Denn die ist für „hyperaktive“ Kinder besonders wichtig, da sie feste Strukturen brauchen und abschätzbare Folgen besonders nötig sind. Die Konsequenzen sollten hier in jedem Fall für das betreffende Kind logisch nachvollziehbar sein. Spontanität ist im alltäglichen Handeln für mich sehr wichtig. Denn diese ist nötig um auf die nicht immer voraussehbaren Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können (z.B. auf das geplante Vorlesen des Bilder- buchs zu verzichten, wenn gerade ein Bagger im Garten steht und die Kinder wie gebannt am Fenster kle- ben.)

Die Tagesstruktur sollte deshalb, wie schon erwähnt, nicht zu fest sein und genügend Freiraum für spontane Änderungen ermöglichen.

Dabei ist Flexibilität im täglichen Handeln ebenfalls notwendig. Die Kinder bringen ihre momentanen Gefüh- le und Erlebnisse mit in den Kindergarten, auf die (soweit die Kinder das wollen) eingegangen werden soll- te.

5.3 Konsequenzen für institutionelles sozialpädagogisches Handeln

- Personalstruktur:

Eine gute Mitarbeiterstruktur und vor allem genügend pädagogisches Personal ist eine sehr wichtige Voraussetzung für das pädagogische Handeln. Unter ständigem Personalmangel leidet die pädagogische Arbeit. Die Bedürfnisse der Kinder können nicht ausreichend berücksichtigt werden, wenn nur die Betreuung der Kinder für den Träger eine Rolle spielt. Die Gefahr von Stigmatisierung ist dadurch größer, da nicht genügend Zeit bleibt, die Kinder ausreichend zu beobachten.

- Team:

Auch regelmäßige Teamgespräche, deren Inhalt sich nicht nur auf die Erstellung von Wochen- und Monatsplänen beschränkt, sind hier nötig. Im Team sollte immer genügend Zeit sein, um einzelne Kinder und Beobachtungen zu besprechen und zu reflektieren. Denn dadurch kann verhindert werden, daß sich Meinungen und Bilder über Kinder festfahren. Der regelmäßige Austausch verhindert hier die Etikettierung von Kindern oder kann dazu beitragen, daß dies wieder gelöst wird.

- Supervision:

Um eingefahrene Meinungen und Bilder zu ändern, die bereits schon im ganzen Team herrschen, ist regelmäßige Supervision sehr wichtig. Die Zeit für Team und Supervisionssitzungen sollte vom Träger in die Arbeitszeit des Personals miteinkalkuliert sein. Natürlich auch die Bezahlung eines Supervisors.

- Anleitung:

Auch für die Anleitung von Praktikanten sollte immer Zeit eingeplant sein. Denn gerade in Anleitungsge- sprächen kann verhindert werden, daß Etikettierungen entstehen, oder schon bestehende aufgelöst wer- den können.

- Zusammenarbeit/Austausch des Gesamtteams:

Die Zusammenarbeit von Pädagogen, Therapeuten und Eltern ist, wie bereits erwähnt, von großer Relevanz für die erfolgreiche Behandlung „hyperaktiver“ Kinder und die Vermeidung von Stigmatisierungen. Deshalb sollte hier der Träger ebenfalls die Arbeitszeit für regelmäßige Gespräche mit Eltern und Therapeuten zur Verfügung stellen.

- Fortbildungen/Schulungen:

Entsprechende regelmäßige Fortbildungen zeigen ErzieherInnen vielfältige Umgangsmöglichkeiten mit verhaltensauffälligen Kindern auf oder informieren diese über die Entstehung und die Gefahr der Stigmatisierung. Diese Fortbildungen sollten vom Träger gefördert und bezahlt werden und außerdem sollte die Arbeitszeit dafür zur Verfügung gestellt werden.

6 Perspektiven

Im privaten Kindergarten wäre hier vielleicht auf institutioneller Eben eine Veränderung angebracht, da bis jetzt dort keine Supervisionen stattgefunden haben. Diese sind gerade im Zusammenhang mit Stigmatisierungen sehr wichtig.

In den Teamgesprächen kommt meiner Meinung nach der Austausch über Beobachtungen zu kurz.

Auch würde eine Veränderung einiges bewirken um evtl. festgefahrene Bilder und Etiketten aufzulösen oder diese gar nicht entstehen zu lassen.

Für mich ist sehr wichtig geworden in der päd. Arbeit immer wieder meine Bilder über Kinder und meine Motive für die gewählten Umgangsformen zu überprüfen. Mit der Ausbildung bin ich sozusagen nie fertig, da ich immer wieder an mir selbst arbeiten und mich weiterbilden muß, um gute pädagogische Arbeit leisten zu können.

7 Persönliches Schlußwort

Ich habe durch die Facharbeit vor allem sehr viele Sichtweisen über Kinder kennengelernt. Mir wurde die Unterschiedlichkeit dieser Sichtweisen bewußt; teilweise haben mich manche Aussagen auch sehr wütend gemacht. Außerdem habe ich mit Erschrecken festgestellt, wieviel schlechte und pädagogisch nicht vertretbare Literatur es zu diesem Thema gibt. Leider sind darunter sehr viele „Elternratgeber. An guter Büchern und Broschüren in denen ein humanes Menschenbild vermittelt wird, herrscht leider gerade im Bereich Elternliteratur großer Mangel.

Abschließend möchte ich noch mein Resümee, das ich aus der vielfältigen Beschäftigung mit dem Thema Hyperaktivität gezogen habe formulieren:

„Hyperaktivität“ oder „hyperkinetisch“ sind Etiketten mit denen Kinder versehen werden. Alle Etiketten sind Konstruktionen, die den Zugang zu den eigentlichen, individuellen Signalen einer gestörten Lebenswelt des Kindes versperren. Dabei geht es häufig um die Anpassung des Kindes an eine, von Erwachsenen definierte „Normalität“. Die „Hyperaktivität“ ist eine Konstruktion von Erwachsenen, die oftmals dem einzelnen Kind mehr schadet, als hilft.

Wie das Kind sein soll

Die Kinder in der Schule klein, die sollen wie die Blumen sein, wie Blumen gut, wie Blumen zart, von sittiger und stiller Art.

Wie du nicht sein sollst:

Wie das Kätzchen tückisch, voll Trug und voll Schein.

Wie das Kätzchen so hintertückisch, sollst du nicht sein.

Wie du sein sollst.

Wie das Täubchen zierlich, verträglich und fein,

liebevoll und manierlich, so sollst du sein.

Wie du nicht sein sollst:

Wie das Wölflein gefräßig, dem Schwächeren zur Pein, wie das Wölflein unmäßig, sollst du nicht sein.

Wie du sein sollst:

Wie das Lämmchen geduldig, genügsam und rein,

wie das Lämmchen unschuldig, so sollst du sein.

(aus: Ein Bilderbuch für kleine Kinder; 1856)

LITERATURVERZEICHNIS

Calatin, Anne. Das hyperaktive Kind. Ursachen, Erscheinungsformen und Behandlung. München: Heyne, 1992 (2.Auflage).

Czerwenka, Kurt (Hrsg.). Das hyperaktive Kind. Ursachenforschung - Pädagogische Ansätze- Didakt. Konzepte. Weinheim / Basel: Beltz, 1994.

Doering, Waltraud und Winfried (Hrsg.). Sensorische Integration. Dortmund: Borgmann, 1993 (2., verbesserte Auflage).

Hensle, Ulrich. Einführung in die Arbeit mit Behinderten. Heidelberg / Wiesbaden: UTB, 1994. (5., ergänzte Auflage).

Hohmeier, J. „Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß“. m: Stigmatisierung. Hrsg. von M. Brusten und J. Hohmeier. Bd. 1. Neuwied, 1975. S. 5-24.

Internationale Frostig Gesellschaft. Bewegungerziehung nach Marianne Frostig. Jahrestagung 1989 und 1990. Dortmund: Borgmann, 1991

Michel, Christian und Felix Novak. Kleines Psychologisches Wörterbuch. Freiburg: Herder, 1991. (Neuausgabe)

Pauli, Sabine und Andrea Kisch. Was ist los mit meinem Kind? Bewegungsauffälligkeiten bei Kindern. Ravensburg: Maier, 1992.

Rosival, Vera. Hyperaktivität natürlich behandeln. München: Gräfe und Unzer, 1992 (2. Auflage).

Schmutzler, Hans-Joachim. Heilpädagogisches Grundwissen. Freiburg: Herder, 1994.

Schweizer, Christel und Irina Prekop. Was unsere Kinder unruhig macht. Stuttgart: Trias, 1991

Strodzki, K. Das hyperaktive Kind. Skript 31.3.1993.

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Wahrig Deutsches Wörterbuch. Gütersloh / Berlin: Lexikon Verlag, 1977.

Wender, Paul. H. Das Hyperaktive Kind. Ravensburg: Maier, 1991. (Neuauflage).

Weitere Quellen:

Pädagogik-Unterlagen aus der 4. Klasse zum Thema „Stigmatisierung“; Staudt-Kraatz, Hans-Dieter

Heilpädagogik-Unterlagen aus der 4. Klasse zum Thema „Verhaltensauffälligkeiten“; Stubenvoll, Almut

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Hyperaktivität - Gefahr von Stigmatisierung "verhaltensauffälliger" Kinder
Autor
Jahr
2001
Seiten
35
Katalognummer
V103946
ISBN (eBook)
9783640023226
Dateigröße
422 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hyperaktivität, Gefahr, Stigmatisierung, Kinder
Arbeit zitieren
Christine Schneider (Autor:in), 2001, Hyperaktivität - Gefahr von Stigmatisierung "verhaltensauffälliger" Kinder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103946

Kommentare

  • Gast am 24.1.2003

    hyperaktivität.

    Ich habe Ihren Artikel gelesen und möchte dazu feststellen, dass es meiner Erfahrung nach sehr wohl ein Zusammenhang zwischen Nahrungsmitteln und Verhaltensauffälligketen geben kann.Wissenschaftlich kann ich es nicht untermauern, doch stellte ich bei meinem älteren Sohn fest, dass wenn er bestimmte Nahrungsmittel oder Stoffe zu sich nimmt,extreme hyperaktive Verhaltensauffälligkeiten auftreten.Diese sind dann mit einem Entsäuerungsmittel wieder zum Abklingen zu bringen. Ich hoffe, dass Sie an meinen Erfahrungen Interesse haben.

    MfG

    Ingrid Dostal

Blick ins Buch
Titel: Hyperaktivität - Gefahr von Stigmatisierung "verhaltensauffälliger" Kinder



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