Die vergebliche Suche nach liebender Intersubjektivität und ihre zerstörerischen Folgen in P.B. Shelleys Alastor


Hausarbeit, 2000

18 Seiten


Leseprobe


INHALT

1. The Romantic Movement
1.1. Geschichte
1.2. Grundlagen
1.3. Zentrale Begriffe

2. P.B. Shelley und Alastor in der englischen Romantik
2.1. P.B. Shelley
2.2. Die romantische Tradition des Alastor

3. Alastor
3.1. Vorgeschichte
3.2. Vorwort
3.3. Inhalt
3.3.1. Allgemeines
3.3.2. Hoffnung
3.3.3. Gewissheit

4. Resümee

5. Quellen

1. “The Romantic Movement”

1.1 Geschichte

Ich werde zunächst etwas weiter ausholen, um den Hintergrund deutlich zu machen, vor dem Shelleys Blankversdichtung Alastor geschrieben wurde.

Der literaturhistorische Begriff des romantic movement wird im “Shorter Oxford English Dictionary (SOECD)” definiert als “die Bewegung in der Literatur (und der Kunst), die aus einer Auflehnung gegen die Formalitäten und Konventionen des Klassizismus entstand und im 19. Jahrhundert durch bewußte Beschäftigung mit den subjektiven und imaginativen Aspekten der Natur und des Lebens charakterisiert war”.1

Wenn man den Beginn und das Ende der romantischen Periode in England politisch definieren will, muß das Jahr 1789 als Start dieser Epoche angesehen werden, da in Frankreich eine Revolution stattfand, welche die Ideale der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit schuf, die sich die englischen Romantiker danach auf ihre Fahne schrieben, um durch sie eine bessere Gesellschaft in der politischen Form einer demokratischen Republik zu erschaffen, die wie in Frankreich die konstitutionelle Monarchie ablösen sollte.

Es gibt jedoch auch andere wissenschaftliche Stimmen, welche die Meinung vertreten, schon das Jahr 1776 mit der amerikanischen declaration of independence, politischen Unruhen in England und den Kolonialkriegen sei der Auslöser für die Literatur der Romantiker gewesen. Mit der großen englischen Wahlrechtsreform von 1832, die eine neue bürgerlich-demokratische Ära einleitete, ging diese grosse lyrische Epoche zu Ende, die “in Wucht und Wirkung [mit] der großen Zeit des [elisabethanischen] Dramas”2 vergleichbar ist.

Betrachtet man die Zeitspanne unter Berücksichtigung der literarischen Veröffentlichungen der Vertreter dieser Epoche, so startet die englische Romantik ebenfalls im Jahre 1789 mit William Blakes Veröffentlichung der Songs of Innocence, endet jedoch bereits 1824 mit Percy Bhysshe Shelleys Posthumous Poems.

Diese 40 fruchtbaren Jahre der englischen Literatur der Romantik können wiederum in zwei Epochen unterteilt werden, in denen unterschiedliche Dichter ihre Blütezeit hatten. Der ersten Generation der englischen Romantikdichter gehörten vor allem William Blake, Samuel Taylor Coleridge und William Wordsworth an, die vor der Schlacht von Waterloo im Jahre 1815 den Höhepunkt ihres literarischen Schaffens hatten. Vertreter der zweiten Generation, die um 1815 an Bedeutung gewinnt, waren vor allem Percy Bysshe Shelley und John Keats, während Lord Byrons Werke beiden Phasen zugerechnet werden können.

1.2. Grundlagen

Die Grundlagen, welche die englischen Romantiker zu Vertretern einer eigenen literaturhistorischen Epoche werden ließen, sind mannigfaltig und entstanden vor vielen verschiedenen, sowohl politischen als auch individuellen, Hintergründen.

So gibt es drei gesellschaftspolitische Ereignisse, die wohl als Eckpfeiler der englischen Romantik gelten müssen:

1. Die industrielle Revolution, von deren Folgen (Entstehen einer neuen, verarmten gesellschaftlichen Klasse, deren Mitglieder zusammengepfercht in den Slums der schnell wachsenden Großstädte leben müssen und die sich aus von ihrem Land vertriebenen Bauern rekrutiert (enclosure)) sich die Romantiker durch die Betonung der Unnatürlichkeit der sozialen Bedingungen abgrenzen, indem sie die Wichtigkeit des Individuums und nicht der Gesellschaft betonen (Individualität)
2. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (declaration of independence) von 1776
3. Die französische Revolution von 1789, welche die englischen Romantiker insofern beeinflußte, als sie, wie bereits weiter oben erwähnt, das Modell der ersten französischen Republik auf ihr eigenes Land übertragen wollten, wobei sie jedoch nicht nur das System der Monarchie kritisierten, sondern vor allem auch die Tatsache der von den absoluten Herrschern proklamierten göttlichen Legitimation ihrer Herrschaft

Die gemeinsame individuelle Grundlage der Schriftsteller der Romantik ist die philosophische Theorie des Pantheismus (bei Shelley gekoppelt mit massivem Misstrauen gegenüber der christlichen Kirche), die besagt, daß Gott der Schöpfer von Naturgesetzen und spirituell in allen Dingen der Natur zu finden ist, also auch in den Menschen, die dadurch1 selbst zum Schöpfer werden können, beispielsweise, indem sie Gedichte oder Bilder erschaffen. Diese Theorie stellt sowohl eine Kritik an den neuen Errungenschaften und Erfindungen der Industrialisierung, da diese den Naturgesetzen zuwider handeln, als auch an der Monarchie dar, weil die Naturgesetze für die Menschen ebenso gelten wie für die anderen Bestandteile der Natur, so daß es keine Unterschiede zwischen Menschen geben kann, was in der Monarchie jedoch der Fall ist.

Mit ihrer Geisteshaltung stellen die Romantiker einen Gegenpol zum Gedankenbild der Aufklärung dar, das den Menschen als Maschine ohne Gefühle begreift und die Vernunft als höchstes Gut preist. Sie orientieren sich hierbei an den Gedanken des französischen Philosophen Jean-Jaques Rousseau, der bereits Mitte des 18. Jahrhunderts Kritik am vernunftorientierten Menschenbild der Aufklärung übte, und entwickeln diese zum Teil radikal weiter.

1.3. Zentrale Begriffe

Der erste zentrale Begriff der romantischen Dichtung, der sich immer wieder finden läßt, ist der Begriff der Imagination, der das Denken in Ganzheiten für sich in Anspruch nimmt, um unter der sichtbaren Oberfläche aller Dinge das göttlich Wunderbare freilegen und damit erkennen zu können. Die Imagination ist also der Begriff für die Betrachtungsweise der Welt durch die englischen Romantiker, ihre Theorie der Poesie.

“ If we wish to distinguish a single characteristic which differentiates the English Romantics from the poets of the eighteenth century, it is to be found in the importance which they attached to the imagination and in the special view which they held of it. ” 3

Ein zweiter wichtiger Begriff ist der Begriff der Solitude , der das Zurückziehen des Individuums aus der Gesellschaft in die Natur bezeichnet, da nur dort die eigene Lebens- und Geisteseinstellung vertreten wird. Die englischen Romantiker fühlten sich also von der Natur eher verstanden als von anderen Menschen der oberflächlichen Gesellschaft. Ein möglicher Grund für diese Einstellung liegt wohl auch in der politischen Isolation, in der sie sich in England als Befürworter der französischen Revolution befanden, da dort aus Angst vor einer vergleichbaren Revolution jegliche politische Opposition unterdrückt wurde. Nach dem Scheitern der romantischen Utopie der perfekten Gesellschaft in Frankreich mit dem Einsetzen der Schreckensherrschaft der Jakobiner unter Robespierre war das eben noch gelobte Land als Zufluchtsort der eigenen Ideale gestorben, so daß den kritischen englischen Denkern nichts weiter übrig blieb, als sich in die Natur zurückzuziehen oder wie Shelley ein Dasein im ausländischen Exil zu fristen.

Der dritte und letzte Begriff ist der Begriff des Sublime, des Erhabenen in der Welt, welcher sich besonders gut am Beispiel des Mont Blanc, dem höchsten Berg Europas, als dem Begriff des Erhabenen unter den Romantikern erklären läßt. In seiner unvorstellbaren Größe hat er etwas Erhabenes, Göttliches, das sich weder mit der Vernunft noch mit den Gefühlen erklären läßt und in Projektionen sogar dann auftaucht, wenn von anderen Bergen oder Gebirgszügen die Rede ist. So schreibt er in Prometheus Unbound zwar vom Kaukasus, hat aber die erhabene Grösse des Mont Blanc vor Augen.4 Die Faszination dieses Berges und dessen elementarer Naturgewalt auf ihn kommt in zwei Hymnen von 1816 jedoch noch stärker zum Ausdruck: Mont Blanc und Hymn to Intellectual Beauty.

2. Percy Bysshe Shelley und Alastorin der englischen Romantik

2.1. P.B. Shelley

Percy Bysshe Shelley, geboren am 4. August 1792, ertrank am 8. Juli 1822 unter mysteriösen Umständen bei einer Bootsfahrt im Golf von Livorno in seinem selbstgewählten italienischen Exil. Er gehört der bereits oben erwähnten zweiten Generation der englischen Romantikdichter an. Diese unterscheiden sich in ihrer politischen Radikalität erheblich von den älter gewordenen Vertretern der ersten Generation, die sich der Unmöglichkeit ihrer politischen Ziele bewusst geworden waren, waren jedoch literarisch von ihnen beeinflusst, worauf ich in 2.2. näher eingehen werde.

Diese politische Radikalität spiegelt sich bei Shelley sowohl in seinem Leben als auch in seinen Dichtungen wider, in denen sein lebenslanger Kampf gegen die Repressionen eines aristokratischen Gesellschaftssystems zum Ausdruck kommt. So entführt und heiratet er 1811 die erst sechzehnjährige Harriet Westbrook, ohne auf gesellschaftliche Konventionen Rücksicht zu nehmen, hat mit ihr zwei Kinder, bevor er sie 1813 für die ebenfalls sechzehnjährige Mary Wollstonecraft verlässt, woraufhin Westbrook Selbstmord begeht.

Wollstonecraft war die Tochter von Mary Wollstonecraft und William Godwin, dessen radikaldemokratisches Buch An Inquiry Concerning Political Justice zusammen mit eigenen negativen Erfahrungen mit dem bestehenden politischen System (z.B. Erzwungene Exmatrikulation in Oxford nach einem halben Jahr aufgrund eines atheistischen Pamphlets) die Grundlage für Shelleys politische Überzeugungen darstellt.

Dieses Buch aus dem Jahre 1793, das die These aufstellt, dass durch allgemeine Vernunftanwendung die Vervollkommnung der Menschheit möglich sei, gekoppelt mit einem “idealistischen, doch keineswegs optimistischen Utopismus, dessen Wurzeln in der Fortschrittsideologie des 18. Jahrhunderts”5 liegen, führen Shelley zu seinem manchmal naiven Glauben an die Möglichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe unter den Menschen in einer real existierenden Gesellschaft verwirklichen zu können.

Vor dem Hintergrund dieser Grundlagen versuchte Shelley, den ausser seiner lyrischen ausserdem noch eine philosophisch-naturwissenschaftliche Begabung auszeichnete, “durch seine Dichtung eine ideale Welt zu präformieren”6, um so die Menschen im Sinne seiner Überzeugungen didaktisch zu beeinflussen, was auch anhand des Vorworts zu Alastor deutlich wird.

Sprachlich geschieht dies durch die Shelley eigene Imagination, indem er Naturphänomene wie Wolken und Berge zu geistigen Wesenheiten verdinglicht, “die [er als] Ideen im Übergang zu Gestalten”7 darstellt. Er benutzt also Naturbeschreibungen zur Charakterisierung von Sachverhalten, und nicht Beschreibungen des komplex strukturierten Menschen8, und bettet diese in seine Theorie des immerfort fliessenden Gedankenstroms ein.

2.2. Die romantische Tradition des Alastor

Alastor entstand im Spätherbst des Jahres 1815, nachdem Shelley von Ärzten dazu aufgefordert worden war, seinen egozentrischen Lebensstil, der zumeist innerhalb der eigenen vier Wände und ohne den Kontakt mit anderen Menschen stattfand, zu ändern9. Vor diesem und nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund seiner Trennung von Harriet Westbrook, ihrem anschließenden Selbstmord und dem Zusammenleben mit Mary Wollstonecraft in einem gemeinsamen Haus in Bishopsgate nahe Windsor Park an der Themse, muß der Inhalt der Blankversdichtung Alastor gesehen werden10.

Sie steht in der Wahl des Themas in der Tradition eigentlich aller Romantiker. So schrieb bereits Samuel Taylor Coleridge in seiner Dejection Ode über die vorprogrammierte Enttäuschung bei der Suche nach Traumwünschen in der realen Welt, und auch Wordsworth hatte sich in The Excursion und The Prelude bereits teilweise des Themas der Suche nach einer übergeordneten Liebe angenommen, mit dessen Ausgang Shelley aber nicht zufrieden war, da bei Wordsworth diese perfekte Liebe nur in der tieferen Einheit mit der Natur gefunden werden kann. Weitere Einflüsse waren die narzisstischen Träume, die sich in Rousseaus Confessions und Reveries finden lassen11.

Das vorherrschende Motiv dieses Themas ist meist die Entscheidung des Dichters zwischen zwei verschiedenen Arten des Wissens, der physical knowledge auf der einen und der mystic bzw. intuitive knowledge auf der anderen Seite. Dieses Schema läßt sich auch auf Alastor anwenden, da der Dichter in der ersten Hälfte des Gedichts lediglich auf der Suche nach physical knowledge ist, wohingegen er in der zweiten Hälfte mystic knowledge erfährt.

Stilistisch schwebte Shelley eine Versform vor, die es mit dem Stil Wordsworths aufnehmen konnte, ohne jedoch dessen Ideologie der Betonung der Natur zu adaptieren. Die Gemeinsamkeiten werden deutlich, wenn man Alastor mit The Excursion vergleicht, denn in beiden Dichtungen gibt es einen übergeordneten Autor, der von einem Wanderer erzählt, der wiederum von der Einsamkeit berichtet12. Ein weiterer Beweis für die Vorbildfunktion Wordsworths sind die Worte, die Shelleys Einleitung zu seinem Gedicht abschließen: „ The good die first, And those whose hearts are dry as summer dust, Burn to the socket! 13 Es sind Wordsworths Worte aus The Excursion.

3. Alastor

3.1. Vorgeschichte

Solitude is most horrible14 schreibt Shelley bereits am 8. Mai 1811 in einem Brief an seinen Freund James Hogg, und so war er stets auf der Suche nach einem weiblichen Gegenpart, der ihn komplett machen würde. Bevor er ihn jedoch in Mary Wollstonecraft fand, hatte er bereits mehrere vergebliche Versuche hinter sich, dieses perfekte Gegenbild zu finden, wovon der erwähnenswerteste sicherlich seine oben bereits erwähnte zweijährige Ehe mit Harriet Westbrook war.

In den vier Jahren, die bis zur Entstehung des Alastor noch vergehen sollten, konnte Shelley das Phänomen dieser Suche eines außergewöhnlichen Geistes nach einem komplementären weiblichen Geist an seinem Freund Hogg und nicht zuletzt auch an sich selbst beobachten und studieren, so daß er schließlich zu der Auffassung gelangte, daß das Vorenthalten dieses weiblichen Gegenspielers selbst den intelligentesten Menschen in den Ruin bzw. Tod treiben würde. Vor dem Hintergrund dieser Auffassung entstand das Thema des Alastor.

Näheres hierzu findet sich in Shelleys Essay on Love:

„ We are born into the world, and there is something within us which, from the instant that we live, more and more thirsts after its likeness [...] a mirror whose surface reflects only the forms of purity and brightness; a soul within our soul “ 15

Und genau dieses Thema, die Suche nach dieser Liebe, ohne die alles Wissen dieser Welt wertlos ist, steht im Mittelpunkt des Alastor. Obwohl Shelley wie alle anderen Romantiker den Geist über die Materie stellt, so weiß er doch, daß der „Geist allein nichts hervorzubringen vermag [..., da] die Idee des Schönen und Guten [...] nur in stofflicher Substanz erscheinen [kann].“16

3.2. Vorwort

Alastor beginnt mit einem Vorwort des Dichters, in dessen erstem Teil die Geschichte des Helden des Gedichts vorweggenommen wird, im zweiten aber auch versucht wird, Erklärungen in der Form zu geben, daß sich eine didaktische Moral für den Leser ableiten läßt (siehe 2.1.). So kritisiert er in diesem Teil die Gesellschaft, indem er die Menschen, die ohne Mitgefühl und Liebe für andere leben, für moralisch tot erklärt („ They are morally dead “ 17 ). Jedoch wird der Unterschied zwischen den finalen Schicksalen des edlen Feingeists auf der einen und der stumpfen Masse auf der anderen Seite nicht restlos deutlich, da beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, sterben18.

Im ersten Teil läßt sich der Satz „ He seeks in vain for a prototype of his conception. “ 19 finden, der bereits das ganze Dilemma seines Lebens deutlich macht. Denn er macht einen entscheidenen Fehler. Er versucht nicht den Prototyp, der ihm im Traum erschienen ist, in einer äußeren realen Form zu finden, sondern möchte ihn in seiner Ganzheit, wie er ihm im Traum erschienen ist, finden, so daß seine gesamte Suche psychologisch wird und ihn schließlich aufgrund der Unlösbarkeit dieser selbst gestellten Aufgabe zerstört20. Das Vorwort endet mit den weiter oben erwähnten Worten Wordsworths.

3.3. Inhalt

3.3.1. Allgemeines

Bevor das eigentliche Gedicht mit dem von seinem Freund Peacock vorgeschlagenen Titel Alastor, der den bösen Geist der Einsamkeit bezeichnet21, beginnt, wird der heilige Augustinus zitiert: „ Nondum amabam, et amare amabam, quaerebam quid amarem, amans amare. “ 22 Dieses Zitat macht deutlich, worum es Shelley im wesentlichen geht, nämlich die Suche nach Liebe. Alastor kann in zwei Teile untergliedert werden, wobei ich mich weitestgehend auf den zweiten Teil beziehen werde, der auf Seite 224 beginnt, nachdem der Held eine arabische Jungfrau zurückgewiesen hat, und er weiter durch Arabien und Persien wandert, bis er schließlich in einem Tal in Kaschmir, das in verschiedenen Interpretationen des Gedichts als Wiege aller Zivilisation bezeichnet wird23, des Nachts in seinem Schlaf die Vision einer verschleierten Frau hat, die als Muse interpretiert werden könnte24.

Von diesem Moment an ändert sich sein Leben schlagartig. Befand er sich zuvor auf einer einsamen Suche nach nüchternem Wissen, das er sich auf seinen Reisen durch Südeuropa und den Mittleren Osten angeeignet hatte, so steht von nun an die Suche nach eben dieser Traumerscheinung im Mittelpunkt seines Lebens, da ihm diese deutlich gemacht hat, daß das Wissen allein nichts wert ist, wenn man keine gleichberechtigte Partnerin hat, um dieses Wissen zwischen sich zu teilen. Von nun an hat er nicht mehr länger das Ziel der Anhäufung von physical knowledge, sondern diese wandelt sich in ein Verlangen nach mystical knowledge.

Es ändert sich jedoch in diesem zweiten Teil nicht nur die Richtung der Reise des jungen Mannes, sondern ebenso die Sprache, in der Shelley dessen Reise beschreibt. War die Natur im ersten Teil in keinster Weise transparent, was auf Seite 220 deutlich wird, wo von „ bitumen lakes [...] black bare pointed islets [and...] secret caves rugged and dark “ 25 die Rede ist, so wird sie später von Shelley mit einer völlig anderen Sprache bedacht, die dem symbolischen Charakter der Reise gerecht wird, eine neue Transparenz aufweist26, und sich beispielsweise auf Seite 228 finden läßt: „ ocean ´ s moon looks on the moon in heaven. “ 27

3.3.2. Hoffnung

Als Wendepunkt des Gedichts muß die Traumerscheinung der verschleierten Jungfrau verstanden werden, weswegen es meiner Meinung nach wichtig ist, sich diese Textstelle näher anzusehen.

In dem Traum spricht die besagte Frau mit leiser Stimme zu ihm, und er meint, die Stimme seiner eigenen Seele wiederzuerkennen.

„ He dreamed a veiled maid sate near him, talking in low solemn tones. Her voice was like the voice of his own soul “ 28

Hier wird deutlich, daß der Reisende die Seele in seiner Seele29 gefunden hat, eine narzisstische Spiegelung seiner tiefsten Wünsche, die jedoch aufgrund des Schleiers in seinem Traum nur undeutlich erscheint. Nachdem er sich der Erscheinung richtig bewußt geworden ist, wandelt sich sein Verlangen ins Sexuelle, was Shelley folgendermaßen beschreibt:

„ Her glowing limbs beneath the sinuou veil of woven wind, her outspread arms now bare, her dark locks floating in the breath of night, her beamy bending eyes, her parted lips outstreched, and pale, and quivering eagerly. “ 30

Wenn man nun aber davon ausgeht, daß die Erscheinung nur ein Produkt seiner eigenen Phantasie ist, wird die Entwicklung des Traumes logisch. Da der Wanderer diesen Traum zum ersten Mal hat, erregt er sich im positiven Sinne. Diese Aufregung überträgt sich auf die Jungfrau, da diese ja lediglich ein Spiegelbild seiner eigenen Seele darstellt, wovon er jedoch nichts weiß, so daß er denkt, daß sie es ist, die sich bei seinem Anblick ekstatisch verhält. Nach dieser Steigerung, die das Verlangen des Poeten nach Einheit mit der Jungfrau größer und größer werden läßt, wird sie jedoch auf dessen Höhepunkt wieder von der Nacht verschluckt und läßt ihn unbefriedigt zurück31.

Der Rest des Gedichts beschäftigt sich von nun an mit der Selbstentdeckung des Poeten und seiner Reise durch die eigene Psyche. Am Morgen nach seiner Erscheinung fragt er sich zunächst, ob die Erscheinung real war oder nicht.

„ Were limbs, and breath, and being intertwined thus treacherously? “ 32

Die Begegnung läßt ihn in völliger Verwirrung zurück, da er nicht weiß, wie er die Erscheinung in der Realität wiederfinden soll, so daß er über die Option des Todes als tieferer Region des Schlafes nachdenkt, in der er sein Verlangen stillen könnte, was auch an der Tatsache deutlich wird, daß ihm von jetzt an die Nacht lieber ist als der Tag, da er glaubt, nur zur gleichen Zeit seinem Ebenbild erneut begegnen zu können.

„ Does the dark gate of death conduct to thy mysterious paradise, o sleep? “ 33

Dieser Zweikampf zwischen Tag und Nacht symbolisiert ebenso wie das Bild des Adlers in der Umarmung der Schlange,34 die in unterschiedliche Richtungen wollen, den Zwiespalt der Suche nach Wahrheit in äußeren Formen, wie sie laut Shelley geschehen sollte, und der Suche nach der Wahrheit in der eigenen Seele, wobei die Entscheidung des Poeten für die Nacht deutlich macht, daß er sich für den falschen Weg, nämlich die Suche in der eigenen Seele entschieden hat, der nur in den Untergang führen kann.35

3.3.3. Gewißheit

Die Aussichtslosigkeit seiner Suche wird ihm schließlich selbst bewußt, da er erkennt, daß die Vision nur in seiner eigenen Seele existiert, so daß er sich der Möglichkeit des Todes nicht mehr verschließt. Er weiß, daß der Schlaf ihm sein „ precious charge “ 36 nicht noch einmal offenbaren wird, also bleibt als Steigerung des Schlafes vielleicht nur der Tod.

Dies ist jedoch nicht besonders eindeutig. Klar ist jedoch daß der „ fair fiend “ 37, der Dämon seiner Seele38, nur in ihr selbst existiert, wobei hier ausserdem auch die Interpretationsmöglichkeit existiert, daß mit fair fiend der Tod gemeint sein könnte39.

„ Startled by his own thoughts he looked around. There was no fair fiend near him, not a sight or sound of awe but in his own deep mind. “ 40

Nach dieser Erkenntnis besteigt er ein Boot, das er am Ufer des Meeres findet. Mit diesem Boot beginnt er die Reise zum Ursprung seines Denkens, was an der Tatsache deutlich wird, daß er diese Reise flußaufwärts unternimmt. Wenn man weiß, daß Shelley annahm, daß der Akt des Denkens mit Hilfe eines fließenden Stromes visualisiert werden kann, wird der Sinn deutlich, der sich hinter der Metapher des Flußaufwärtsschwimmens versteckt41.

Auf seiner Reise durch die Berghöhle im Kaukasus, in der er schließlich landet, einer symbolischen Höhle, in der all sein Denken entspringt, wie der Fluß deutlich macht, auf dem er sie durchfährt, baut Shelley Ablenkungen der externen Welt jenseits seiner eigenen Gedanken ein wie die Blumen, mit denen sich der Poet das Haar bedecken möchte. Doch allein bei dem Gedanken daran entscheidet er sich dagegen, da er auf die Vision in seinem Geist fixiert ist.

„ But on his heart its solitude returned, and he forbore. “ 42

Die Reise ist in dieser Höhle jedoch noch nicht vorbei, da er noch immer kein Zeichen seiner Partnerin im Geiste sieht.

Schließlich aber denkt er, daß er ein Ziel erreicht hat, als er einen Platz entdeckt, in dem alle Elemente der Natur friedlich vereint zu sein scheinen. Dort spürt er einen Geist neben sich, den er für die verloren geglaubte Erscheinung seines Traumes hält, diesmal jedoch klar und ohne Schleier.

„ A spirit seemed to stand beside him - clothed in no bright robes of shadowy silver or enshrining light [...] as if he and it were all there was, - only ... when his regard was raised by intense pensiveness, ... two eyes, two starry eyes [...] seemed [...] to beckon him. “ 43

An dieser Textstelle wird der weiter oben erwähnte Unterschied zu Wordsworths Philosophie deutlich, denn der Wanderer hält zunächst die Einheit mit der Natur, die er hier erfährt, für seine gesuchte Vision, bevor zwei Augen ihm den Irrtum deutlich machen und ihm zeigen, daß er noch immer nicht am Ziel seiner Reise angekommen ist, und ihm helfen, sich wieder auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren. Der Wanderer hält also für einen kurzen Moment den Glauben Wordsworths für Shelleys Seele in der Seele44.

Der Rest seiner Reise flußaufwärts symbolisiert durch die Veränderung der Landschaft ins Unwirtliche zum Ende seiner Reise den nahenden Tod, wobei der endgültige Platz seines Todes im Kontrast hierzu wieder freundlicher geschildert wird. Jedoch stirbt er, bevor seine Vision und er eine Einheit bilden können, was daran deutlich wird, daß er im Moment des Sterbens die beiden Augen, die ihn zuvor zum Weitergehen ermuntert hatten, als kleine Lichtpunkte entschwinden sieht, so daß er selbst im Tod allein bleibt.

„ And when two lessening points of light alone gleamed through the darkness, the alternate gasp of his faint respiration scarce did stir the stagnate night. “ 45

Der Tod allerdings war nicht vergebens, auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, da das Leben des Dichters in Shelleys Dichtung auf seine Mitmenschen ausstrahlt und diese zu besseren Menschen umwandeln kann. Dieser didaktische Aspekt wird an den letzten Zeilen des Gedichts deutlich, in denen der Erzähler vom Anfang, der den Rahmen um die eigentliche Dichtung bildet, den Tod des Poeten beklagt und feststellt, daß Dinge nicht mehr so sind, wie sie vor dem Leben und Tod des Poeten waren.

It is a woe too „ deep for tears “ 46, when all

Is reft at once, when surpassing Spirit,

Whose light adorned the world around it, leaves

Those who remain behind, not sobs or groans,

The passionate tumult of a clinging hope;

But pale despair and cold tranquility, Nature´s vast frame, the web of human beings,

Birth and the grave that are not as they were.

5. Resümee

Die Dichtung Alastor wurde von seiner Frau Mary als Shelleys charakteristischstes Gedicht bezeichnet47, das von ihm in einem dem Tode nahen Gesundheitszustand komponiert wurde. Das behandelte Thema beschäftigt sich mit dem am Anfang des 18. Jahrhunderts sehr aktuellen Thema der Seele des Dichters, seiner poetischen Vision und ihrer Realisierung.

Neben dieser Aktualität reflektiert es ausserdem das generelle Problem der Romantiker und somit von Shelley selbst, nämlich das Wechselspiel zwischen dem Rückzug aus der Gesellschaft und der Notwendigkeit des Wiedereintauchens in diese, dem Rückzug aus der Einsamkeit, den der Poet im Alastor versäumt, indem er alle Menschen, die ihm wohlgesonnen sind, zurückweist48, um schliesslich an seiner mehr oder weniger selbst gewählten Einsamkeit zugrunde zu gehen. Die Wichtigkeit des oben erwähnten Rückzugs aus der Einsamkeit, aus dem Reich des Alastor, wird an der Tatsache deutlich, dass der Poet in seiner Einsamkeit unzufrieden ist, da er einem Traumgebilde nachjagt, das ihm Gesellschaft leisten soll, um ihn komplett zu machen.

Darüber hinaus wird im Alastor Shelleys bereits erwähnte Konzeption der Natur in seiner Dichtung deutlich. Anders als bei Wordsworth, der die Natur als gleichberechtigten Partner des Menschen ansieht, wird hier aufgrund der verwendeten Sprache seine Ehrfurcht vor der Natur deutlich49, die in seinen Werken dazu fuehrt, dass er psychische Vorstellungen in die Natur projiziert, wobei seine Affinität zu sich bewegenden Dingen deutlich wird, die mit seiner ebenfalls bereits erwähnten Vorstellung des Denkprozesses als fliessender Strom korrespondiert.

Der wichtigste Punkt jedoch ist der didaktische Wert der Dichtung, den diese dadurch erhält, dass in ihr zwei falsche Wege des menschlichen Daseins aufgezeigt werden, die bereits im Vorwort erwähnt werden, und aus deren Falschheit sich der einzig richtige Weg ergibt:

Der erste ist der verwerflichere der beiden und wird von den abgestumpten Menschen gewählt, welche die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Diese haben weder Liebe noch Mitgefühl für ihre Mitmenschen, und sind deswegen verantwortlich für “das dauernde Elend und die Verlassenheit der Welt”50.

Der zweite ist der bessere und wird im Alastor genauer beschrieben, da er der ist, der vom Protagonisten gegangen wird. Er ist aber immer noch nicht richtig, da der Poet die guten Ansätze durch seine Ichbezogenheit zerstört, die ihn in eine Isolation führt, aus der er nicht mehr herauskommt, so dass der Tod die einzige Konsequenz sein kann. Ohne diese Ichbezogenheit wäre jedoch sein Weg der Unterordnung unter eine übergeordnete Macht, die nur die “Reinen und Weichherzigen”51 wahrnehmen können, der richtige.

5. Quellen

- Höhne, Horst (Hrsg.): Percy Bysshe Shelley. Ausgewählte Werke. Dichtung und Prosa. Leipzig, 1985.
- Salama, Adel: Shelley´s Major Poems. A Re-Interpretation. Salzburg, 1973.
- Sperry, Stuart M.: Shelley´s Major Verse. London, 1988.
- Hogle, Jerry E.: Shelley´s Process. New York, Oxford, 1988.
- Clark, Timothy: Embodying Revolution. Oxford, 1989.
- Helmut Viebrock u. a.: Die europäische Romantik. Frankfurt, 1972.
- C. M. Bowra: The Romantic Imagination. Oxford, 1969.

[...]


1 Helmut Viebrock: “Die englische Romantik”(=ER) in “Die europaeische Romantik”, Athenaeum, Frankfurt 1972. S.333

2 ER, S.333

3 Bowra, C. M.: The Romantic Imagination. Oxford, 1969. S.1

4 vgl. ER, S.383

5 ER, S.380

6 ER, S.380

7 ER, S.386

8 vgl. ER, S.386

9 vgl. Hogle, Jerrold E.: Shelley´s Process (=SP). New York, Oxford, 1988. S.45

10 vgl. Sperry, Stuart M.: Shelley´s Major Verse (=SMV). London, 1988. S.21

11 vgl. SP, S.45

12 vgl. SP, S.45

13 SMV, S.26

14 Salama, Adel: Shelley´s Major Poems. A Re-Interpretation (=SMP). Salzburg, 1973. S.49

15 SMP, S.51

16 Höhne, Horst (Hrsg.): Percy Bysshe Shelley. Ausgewählte Werke (=PBS). Leipzig, 1985. S.27

17 PBS, S.212

18 vgl. SMP, S.52 f. und Clark, Timothy: Embodying Revolution. Oxford, 1989. S.97

19 PBS, S.212

20 vgl. SMP, S.52

21 vgl. PBS, S.682

22 PBS, S.216 (Noch liebte ich nicht, aber es draengte mich zur Liebe; ich suchte nach dem, was ich lieben koennte; das Lieben liebte ich.)

23 vgl. SMV, S.28

24 vgl. SMP, S.55

25 PBS, S.220

26 vgl. SMP, S.55f

27 PBS, S.228

28 PBS, S.224

29 vgl. SMP, S.57

30 PBS, S.226

31 vgl. SMP, S.57f

32 PBS, S.228

33 PBS, S.228

34 PBS, S.228ff „As an eagle grasped in folds of the green serpent“

35 vgl. SMP, S.60

36 PBS, S.232

37 PBS, S.234

38 vgl. auch den Titel des Gedichts

39 vgl. SMP, S.60

40 PBS, S.234

41 vgl. SMP, S.61

42 PBS, S.240

43 PBS, S.244ff

44 vgl. SMP, S.62f

45 PBS, S.256

46 Zitat aus Wordsworths Ode: Intimations of Immortality, die erneut den stilistischen Vorbildcharakter Wordsworths betont, auch wenn inhaltliche Unterschiede bestehen.

47 Vgl. SMP, S.65

48 vgl. PBS, S.230ff

49 vgl. PBS, S.220

50 PBS, S.215

51 PBS, S.213

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die vergebliche Suche nach liebender Intersubjektivität und ihre zerstörerischen Folgen in P.B. Shelleys Alastor
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Veranstaltung
Literaturwissenschaftshauptseminar P.B. Shelley
Autor
Jahr
2000
Seiten
18
Katalognummer
V103540
ISBN (eBook)
9783640019182
Dateigröße
373 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Suche, Intersubjektivität, Folgen, Shelleys, Alastor, Literaturwissenschaftshauptseminar, Shelley
Arbeit zitieren
Oliver Buchholz (Autor:in), 2000, Die vergebliche Suche nach liebender Intersubjektivität und ihre zerstörerischen Folgen in P.B. Shelleys Alastor, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103540

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