Max Frisch. Biographie und Selbstbildnis in "Stiller"


Referat / Aufsatz (Schule), 2001

20 Seiten


Leseprobe


Max Frisch, Biographie, Leseproben und Meinungen

Max Frisch Biographie Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich als Sohn eines Architekten geboren. Auf Drängen seines Vaters hin, begann er 1931 nach dem Abitur in seiner Heimatstadt ein Studium der Germanistik. Aus finanziellen Gründen mußte er zwei Jahre später, nach dem Tod seines Vaters das Studium abbrechen und arbeitete als freier Journalist. Im Rahmen dieser Tätigkeit führten ihn Reisen in die Tschechoslowakei, nach Polen, Frankreich, Bosnien, Griechenland und schließlich bis ans Schwarze Meer und nach Konstantinopel. 1934 entsteht sein erster, von der Balkanreise inspirierter Roman ( Jürg Reinhart- eine sommerliche Schicksalsfahrt/ vorher nur noch ein erfolgloses Drame geschrieben). 1936 beginnt Frisch, nachdem er auf Drängen seiner Verlobten den Journalismus aufgegeben hatte, ein Architekturstudium. Nach anfänglicher Fortsetzung der schriftstellerischen Aktivitäten, unterbleiben bald auch diese. Erst 1939 fängt der nunmehrige Frisch wieder an zu schreiben( Eingezogen 1939-45 Tagebuch aus dem Grenzland). 1942 erhält er das Architektendiplom (Baut u.a. das Letzigraben Schwimmbad). er heiratet nun Constanze von Meyenburg und eröffnet mit ihr zusammen ein Architektenbüro (Erfolg). Fortan arbeitet im Doppelberuf als Architekt und Schriftsteller, den er erst 1952 aufgibt, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Zur gleichen Zeit läßt er sich von der ihn sehr einengenden C. von Meyenberg scheiden (Heiratet noch zweimal). Frisch unternimmt weiter inspirierende Reisen (z.B. Prag, Berlin, später auch USA, Japan), trifft unter anderem Berthold Brecht, der ihn sehr beeinflußte und Peter Suhrkamp ( Verlag eröffnete mit Frischs Werk Tagebuch 1946-1949 ). Den endgültigen Durchbruch gelingt ihm 1954 mit seinem Roman Stiller. Homo Faber und der erste Bühnenerfolg Graf Öderland folgen. Der nun unabhängig gewordene Frisch wechselt häufig den Wohnsitz, z.B. Berlin, New York, Tessin, kommt aber immer wieder zurück nach Zürich. In den 60ern gewinnt Frisch wieder mehr Popularität (nach der Entstehung seiner Bedeutensten Werke), hauptsächlich durch Fernsehauftritte, zahlreichen Literaturpreisen und seinem ersten großen internationalen Bühnenerfolg Andorra. In den 70ern flaut dieser Medienhype wider ab, Frisch engagiert sich nun Politisch, z.B. Redner (Parteitag vor SPD), reist als Begleiter der Delegation des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt nach China, nimmt mit F.Dürrenmatt am Friedenskongress teil. Gegenläufig dazu findet er schriftstellerisch nicht mehr so großen Anklang. Er stirbt im Alter von 80 Jahren am 5.April 1991 in Zürich, wo er auch geboren ist. Frisch erhielt ungewöhnlich viele Preise z.B. Friedenspreis des deutschen Buchhandels, Schiller Preis von Baden Wüttenberg, Preis der jungen Generation für Andorra u.s.w. Meinungen Hartmund Hentig: Max Frisch ist für das 20.Jahrhundert das, was Destojewski für das 19.Jhdt. war: derjenige, der die undeutliche Lebenserkenntnis und Entscheidungsnot der Zeit in deutliche Gestalten und Vorgänge gebannt hat. Leseproben Die Helden in seinen Werken leiden permanent am eigenen Ich. Max Frisch selbst bezeichnete die zentrale Stellung der Identitätsfrage und die damit zusammenhängende rollenhaftigkeit des Daseins, den Ichverlust und die Selbstwahl als sein „Warenzeichen”. So will der Bildhauer Anatol Stiller, die Titelgestalt des ersten der bedeutenden Romane (1956), ein neuer Mensch mit neuer Identität werden und so früherem Versagen als Kämpfer auf der Seite der spanischen Republik, als Ehemann und als Künstler entfliehen. „Ich bin nicht Stiller” lautet die unerhörte Äußerung des Helden mit der Roman einsetzt und versucht in die Tat umzusetzen. Um die Schatten der eigenen Nichtigkeit loszuwerden, unternimmt er den Versuch nach langer Abwesenheit unerkannt und verwandelt in die Heimat zurückzukehren, doch dies schlägt fehl. Später kommt der Symbolgehalt des Namens Stiller zum Ausdruck. Auf einem Landgut fristet Stiller sein Dasein: verstummt, zurückgezogen, allein. Im zweiten der namenhaften Romane, Homo Faber (1957), geht Frisch von entgegengesetzter Position ans Werk. Walter Faber, Techniker und Ingenieur, möchte an seinem technisierten Weltbild, in dem Schicksal und Gefühle keinen Raum finden, festhalten. Aber er verstrickt sich immer mehr in unwahrscheinliche Zufälle und irrationale Liebesempfindungen. Auf der Suche nach Erlebnissen, die ihn in seiner Position stärken könnten (glaubt selbst nicht mehr dran=Rollenhaftigkeit), holt ihn schließlich seine eigene Vergangenheit ein: Auf den Spuren seiner Geliebten und eigenen Tochter, Sabeth, begegnet er der Welt, die er verlachte und kehrt wie Stiller zum Ursprung zurück: auch er ist am Ende ein Mörder, auch er allein. Das, wie bei Stiller bereits auf den ersten Seiten angesprochen wird: Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich weigere mich Angst zu haben.” (Faber spielt die Rolle des Technikers konsequent aus). In „Mein Name sei Gantenbein” (1964) steht die Verwandlung des Lebens in Geschichten im Mittelpunkt. Zu Beginn des Romans montiert der Ich-Erzähler die Figur aus dem Körper eines Mannes aus Paris und dem Kopf eines Amerikaners zusammen, sie erhält den Namen Gantenbein. Mit der immer wiederkehrenden Formal „Ich stelle mir vor” probiert Gantenbein nun unablässig Geschichten wie Kleider aus, wobei immer wieder nur eine vorgestellte Welt zugelassen wird. (Fiktiv) Der Titelfigur bleibt kaum mehr eigene Individualität, deshalb bleibt ihr nur das Spiel mit Existenzen, dem Ausprobieren seiner Selbst. Analyse Frisch orientiert sich dabei dicht an Brecht, von dem er in formaler Sicht viel gelernt hat. Doch entgegen Brecht sind seine Dramen offen, bieten eine Diagnose ohne Therapie und beinhalten nicht Brechts bitteren Sarkasmus. Frischs Bühnenstücke sind ohne Moral werfen Fragen auf, ohne Antworten zu geben, geschaffen den Zuschauer zu verwirren und nicht, ihn mit törichten Versicherungen nach Hause zu schicken. Seine Werke sind deprimierend, da es nur selten einen Ausweg gibt, der die Liebe den Ekel und den Lebensüberdruß zu überwinden vermag. Seine Werke stimmen überein mit der Unsicherheit einer Welt, die sich ständig verwandelt und von der Niemand weis, ob sie uns Katastrophen oder Glückseligkeit bringen wird. Hartmund Hentig: Max Frisch ist für das 20.Jahrhundert das, was Destojewski für das 19.Jhdt. war: derjenige, der die undeutliche Lebenserkenntnis und Entscheidungsnot der Zeit in deutliche Gestalten und Vorgänge gebannt hat. Max Frisch über sich selbst: Er sei ein defensiver, ein reagierender Schriftsteller. Er erfindet nicht Geschichten, um die Welt zu verändern, sondern stellt die Welt dar, wie er sie erfahren hat, ohne den moralischen Anspruch zu erheben, Lösungen und Vorschläge zum Bessermachen aufzuzeigen. Im Grunde sei er ein hilfloser Schriftsteller, der schreibt um zu bestehen, nicht um zu belehren und wäre vielleicht am glücklichsten, würde ihm ein Aufweichen seiner Problemwelt gelingen. Werke Montauk(1979), Als der Krieg zu Ende war(1949) Stücke Andorra, Biedermann und die Brandstifter (1958), Andorra (1961)

Max Frisch

Schriftsteller

15. Mai: Max Frisch wird als Sohn eines Architekten in Zürich/Schweiz geboren.

1930-1932

Studium der Germanistik an der Universität Zürich. Nach dem Tod des Vaters muß Frisch aus finanziellen Gründen das Studium vorzeitig abbrechen. Er beginnt als freier Mitarbeiter für die "Neue Züricher Zeitung" zu arbeiten.

Der erste Roman entsteht unter dem Titel "Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt", darin thematisiert Frisch vor allem seine erste Auslandsreise im Jahr zuvor.

Nach seinen ersten schriftstellerischen Versuchen kommen Frisch Selbstzweifel, er entschließt sich mit dem Schreiben aufzuhören und verbrennt alle bis dahin entstandenen Manuskripte.

1936-1941

Studium der Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, das er als Diplomarchitekt abschließt.

Veröffentlichung von "Blätter aus dem Brotsack. Tagebuch eines Kanoniers" in dem er seine Erfahrungen im Militärdienst während des Kriegsbeginns verarbeitet.

Frisch gewinnt den ersten Preis in einem städtischen Wettbewerb um eine große Freibadanlage in Zürich. Kurz darauf eröffnet er sein eigenes Architekturbüro in Zürich.

Heirat mit Gertrud von Meyenburg. Die Ehe wird 1959 nach längerer Trennung wieder geschieden. Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor.

1946-1951

Frisch verfaßt Dramen, die die aktuelle Nachkriegszeit teils direkt thematisieren,

"Die Kenner, wenn sie etwa eine Zeichnung sehen, gehen von Dürer oder Rembrandt oder von Picasso aus; der Schaffende, gleichviel wo er selber wirkt, weiß um das leere Papier."

Max Frisch (Tagebuch 1946-49 S.638)

Im "Stiller" heißt es: Damit ein Leben ein wirkliches Leben ist, muß einer "mit sich selbst identisch" werden.

Andernfalls ist er nie gewesen! Das meine ich:ein Gewesensein, und wenns noch so miserabel war."2

Das Kernproblem im Werk von Max Frisch findet in beiden

Zitaten seinen prägnanten Ausdruck:das Problem von Bildnis und Identität. Ein wirkliches "Leben" bedeutet bei Frisch: Wahrhaftigkeit. Wenn der Mensch lügt, tötet er damit einen Teil der Welt und damit sich selbst. Die Selbstbelügung ist immer das Gegenteil von "Leben".

Da niemand dagegen gefeit ist, hat Frischs Werk einen immerwährenden Allgemeincharakter. Die Selbstbelügung bedingt die Selbstentfremdung; nur die Selbstannahme bedeutet Wahrhaftigkeit.

Frischs Betrachtung gilt aber auch dem Entwicklungsgang, den der Mensch zu seinem eigenen Ich sucht. Diese Entwicklung bedingt die Erforschung des eigenen Wesens; aus der Selbsterfahrung erwächst die Selbsterkenntnis. Deshalb wirkt das Selbstbildnis in etwa so zerstörerisch wie das Bildnis, das man sich von anderen Menschen macht.

Jeder Mensch besitzt für Max Frisch eine eigene, unverwechselbare Individualität. Diese kann Schwächen und Stärken in sich bergen, sensibel für das Empfangen von Signalen oder abgestumpft sein. Die volle Annahme der Individualität ist aber erst dann erreicht, wenn keine Seite unterdrückt wird und jeder inneren Neigung Raum für Entfaltungsmöglichkeit gegeben wird.

In dieser Seminararbeit werde ich mich diesem zentralen Thema Max Frischs widmen. Über eine ausführlichere Analyse über Bildnis-und Identitätsproblematik im "Homo faber" werde ich anschließend Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Themas an verschiedenen Werken von Max Frisch untersuchen.

Zur Schriftstellerei(378-379)

"Die Sprache ist wie ein Meißel, der alles weghaut..." Mit dieser Metapher umschreibt Frisch das Problem der Bildnismacherei beim Schriftsteller. Literatur entsteht immer in einer "Partnerbeziehung" zwischen Autor und Leser, weshalb der jeweilige Text in jedem Leser neu entstehen soll. Das ist der grundlegene Unterschied zwischen Literatur und Fach-oder Nachrichtentexten. Frisch macht deshalb auf das Problem des Offensichtlichen aufmerksam:"...alles Sagen bedeutet ein Entfernen". Das Offene in der Reproduzierbarkeit beim Konsumieren eines Textes muß gewährleistet bleiben, sonst bleibt die Gefahr, daß man das "Geheimnis zerschlägt". Die schriftstellerische Form sollte deshalb eine "stofflose Oberfläche" bleiben, die es letztlich nur für den Geist geben kann.

Beim Lesen(446-451)

Ein Buch ist für Frisch nur lesenswert, wenn es ausreichend Platz für den Reichtum der eigenen Gedanken läßt. Dieser Gedanke ist verknüpft mit Frischs Abneigung gegen die vollendeten Formen in der Literatur bzw. mit seinem eigenen Weg der Skizzen, Tagebücher, Berichten. In einer skizzenhaften, unvollendeten Form eines lierarischen Textes ist die Gefahr, daß der Autor dem Leser die eigene Reproduktion durch allzu offensichtliche Vollendung vorenthält, und ihm dadurch sein eigenes Bildnis aufzwingt, am geringsten. Die Skizze soll nach Frisch nur die Richtung aufzeigen, nicht aber das Ende. In Frischs Hang zum Fragment zeigt sich die Furcht vor der endgültigen Erkenntnis, was das Ende der "Liebe" bedeutet. Die Enttäuschung "du bist nicht das, wofür ich dich gehalten habe" wird so von vornherein begrenzt, bzw. (der geniale Trick von Max Frisch) muß so auf den Leser selbst zurückfallen! Für Frisch ist das fragmentarische Schreiben ein Gebot der Zeit, denn die Haltung der meisten Zeitgenossen ist "die Frage".

4."Ich bin nicht..."Bildnis und Identität im Roman "Stiller"1

Was im Tagebuch kurz skizziert, und im Hörspiel "Rip van Winkle" angedeutet wurde, baute Frisch nun zu einem Roman aus:"Stiller".

Wieder wird die Abhängigkeit von Bildnis und Identität ein zentrales Thema bilden. Die Hauptfigur, Anatol Stiller, kann dabei als Protagonist gelten, denn er ist Bildhauer; er fertigt also berufsmäßig Bildnisse an.

Der Roman ist in Tagebuchform geschrieben. Verfaßt hat es der Gefangene James Larkin White, gefangengenommen, weil er Anatol Stiller, der der Spionage verdächtig ist, zum verwechseln ähnlich ist. Das Problem der Persönlichkeitsspaltung als der extensivsten Form der Identitätskrise, hat in dem Roman seine besondere Ausgestaltung gefunden, denn das Erzähl-Ich des Tagebuches, um das sich alles dreht, ist James White, der Romanheld ist jedoch Stiller, wobei White vorgibt, Stiller nicht zu kennen. Da ein Gericht White von seiner anderen Identität überzeugen muß, wird White mit der Stiller Vergangenheit konfrontiert, die White in sein Tagebuch mit aufnimmt. Die immer wieder wiederholte Aussage "Ich bin nicht Stiller!" steht der öffentlichen Meinung gegenüber, so daß der ganze Roman letztendlich vom Problem des Erzähl-Ichs White mit dem Roman-Ich Stiller handelt.

Stiller ist ein Egozentriker par exellence. Seine extreme Ichbezogenheit äußert sich aber als Gegenteil von einem Narzißmus, seine Sensibilität bedingt eine Selbstverleugnung:"Er hat das Gefühl, keinen Willen zu besitzen, und besitzt in einem gewissen Sinne viel zuviel, nämlich so wie er ihn einsetzt; er will nicht er selbst sein."(600) Stillers Welt des Bildhauers ist natürlich durchsetzt mit dem Bildnisgedanken. Das Atelier wird White beschrieben, als ein "Gefühl, jederzeit aufzubrechen und ein ganz anderes Leben zu beginnen zu können"(603), seine "Skizzen", gefunden von Sybille, weisen ihn als Meister aus, der er nicht ist. Die Angst, einem Bildnis ausgeliefert zu sein, zeigt sich bei Stiller in dem Satz:"Du darfst nicht vergessen (...) ich war wahnsinnig jung. Eines Tages erwachst du und liest in der Zeitung, was die Welt von dir erwartet"(612), i.G. zu ...und liest in der Zeitung, du bist berühmt.

Stillers fatale Bildnismacherei stammt aus seiner eigenen Gespaltenheit, seiner permanent anhaltenden Identitätskrise, daß er nicht bereit ist, sich so anzunehmen, wie er nun einmal ist. Deshalb ist sein Leben nicht "wirklich", oder um mit seinen eigenen Worten zu sprechen:"Daß ein Leben ein wirkliches Leben gewesen ist, es ist schwer zu sagen, worauf es ankommt. Ich nenne es Wirklichkeit, doch was heißt das! Sie können auch sagen:daß einer mit sich selbst identisch wird"(417).

Wie später im "Homo faber" könnte man vermuten, daß ein Teil der Identität aus einem traumatischen Erlebnis heraus beleuchtet wird. Bei Anatol Stiller ist es das Versagen im Spanischen Bürgerkrieg "...warum ich nicht geschossen habe(...) Ich bin kein Mann. Jahrelang habe ich noch davon geträumt:ich möchte schießen, aber es schießt nicht - ich brauche dir nicht zu sagen, was das heißt, es ist der typische Traum der Impotenz"(617). Sibylle gestattet sich jedoch ihre eigenen Gedanken über das Gehörte:"Du schämst dich, das du so bist wie du bist. Wer verlangt von dir, daß du ein Kämpfer bist (...) Aber vielleicht hast du dich als jemand bewähren wollen, der du gar nicht bist"(617). Das Besondere: Beide Varianten stimmen nicht, sondern sind bildnishaft, d.h. Gestaltungen, formuliert im Hinblick auf das Zielpublikum (in Wirklichkeit wollte sich Stiller in altruistischer Geste erschießen lassen). Beide machen sich etwas vor, spielen eine Rolle, aus unterschiedlichen Gründen ("Es blieb ihr nur noch, die Rolle zu spielen, die Stiller ihr aufzwang...<617>). Das Aufzwingen einer Rolle steht indirekt in Beziehung zu Frisch's Tagebuchthese vom Reisen; wir Reisen, weil wir dann Menschen begegnen können, die uns keine Rolle aufzwingen. Deshalb wollte Sibylle "Stiller nie wiedersehen"(617).

Stiller entwirft neben den echten Bildnissen sein eigenes und richtet es an seine Umwelt (Frau, Freunde, Künstler, Publikum), wie in den Spanienkriegsvarianten. Seine Umgebung beantwortet diese Haltung mit neuen Bildnissen, die so bedrückend auf Stiller lasten, daß er dem entfliehen will, sein "Ziel erreicht er nur durch Resignation"2. Der Staatsanwalt meint zu Stillers Selbstentfremdung:"Zur Selbstüberforderung gehört unweigerlich eine falsche Art von schlechtem Gewissen. Einer nimmt es sich übel, kein Genie zu sein, ein anderer nimmt es sich übel, trotz guter Erziehung kein Heiliger zu sein, und Stiller nahm es sich übel, kein Spanienkämpfer zu sein...Es ist merkwürdig, was sich uns, sobald wir in der Selbstüberforderung und damit in der Selbstentfremdung sind, nicht alles an Gewissen anbieten."(669)

Das Problem der Selbstüberforderung und Selbstentfremdung wird sehr treffend in der allegorischen Geschichte vom fleischfarbenen Kleiderstoff behandelt(551-566). Rolf, der Staatsanwalt, ohne Gepäck nach Genua gekommen, erhält durch Umstände, die mindestens ungewöhnlich genannt werden müssen, ein Paket mit fleischfarbenem Kleiderstoff. Alle Versuche, diesen Stoff wieder verkaufen zu können, scheitern. Schließlich ist ihm das ominöse Paket derart lästig, daß er es verschenken oder verlieren will, auch diese Versuche sind umsonst. aus Verzweiflung wirft er es in eine öffentliche Bahnhofstoilette. Den ganzen Rückweg über hat er Angst, das Paket mit dem fleischfarbenen Kleiderstoff auf irgend eine Art doch noch wiederzubekommen. 100 Seiten später klärt Rolf die Geschichte dem verwunderten Leser auf:"Jeder von uns trägt so ein Paket fleischfarbenen Stoffes mit sich herum. Die weitaus meisten Menschenleben werden durch Selbstüberforderung vernichtet(...) Unser Bewußtsein hat sich im Laufe einiger Jahrhunderte sehr verändert, unser Gefühlsleben sehr viel weniger."(668) Das Paket mit dem hautfarbenen Stoff steht für unser Gefühlsleben. Wir müssen es mit und herumtragen, ob es lästig ist oder nicht. Mit dem Wort "lästig" umschreibt Frisch die Diskrepanz zwischen unserem Intellekt und dem Gefühl. Letzteres hat sich in den letzten Jahrhunderten wenig verändert. Das bedeutet: wir fühlen noch in etwa so, wie wir es in einer Zeit taten, in der die Instinkte des Menschen die dominante Rolle im täglichen Daseinskampf spielten. Der Intellekt hat sich jedoch in eine neue Dimension entwickelt. Jedes Individuum unserer modernen Industriegesellschaft ist von diesem Konflikt, der nicht zuletzt für die Identitätsbildung von großer Bedeutung ist, betroffen. Zwei "Auswege" sieht Rolf aus diesem Dilemma. Die instinkthaften Gefühle werden unterdrückt, was die Gefahr der Abtötung eines wesentlichen Teils unserer ureigensten Individualität bedeuten kann, oder sie werden nach unserem Wunsch umetikettiert. Dies hat die thematisierte Selbstbelügung zur Konsequenz. Die Selbstverleugnung hat aber unweigerlich die Selbstentfremdung zur Folge. Sie ist der Weg "weg von unserem Selbst", so daß die Lücke, die nun unsere Individualität ausfüllt, mit Bildnissen kompensiert wird, die wir von uns anlegen.

"Ich sehe Stiller nicht als Sonderfall"(669), bemerkt der Staatsanwalt Rolf. Stillers Schicksal ist vom Publikum als ein Signal aufzufassen. Ein Signal zu mehr Wahrhaftigkeit (ohne dabei unhöflich zu werden A.D.), nur das ist der Weg zum eigenen Ich; der Weg zu der eigenen Identität.

Die Allgemeingültigkeit Stillers Schicksal zeigt sich auch an den Identitätskrisen anderer Personen im Roman, beispielsweise bei Julika, der Frau Stillers.

Stiller mißverteht in seiner Egozentrik die verletzliche Künstlerseele als ein gegen sich gerichtetes Element. In ihm entsteht das Bildnis eines gefühlsarmen, frigiden, immer etwas kränkelnden, dem prallen Leben abgekerten Menschen. In Davos kommt ihm Julika mit ihrer "Herbstzeitlosenblässe" wie verstorben vor "als läge Julika schon im Sarg"(501). Auch von ihr fertigt Stiller ein "echtes" Bildnis an. Auf dem Titelblatt einer Illustrierten, zum Zeitpunkt der Aufnahme seinem zwanghaftem Bildnis entzogen, lernt der Leser eine andere Julika kennen:"...die schöne Julika(...) die fast an Degas erinnerte mit dem flirrenden Lichtzauber in dem Gazeröcklein der Balletteuse(...) man sah Julika von rückwärts, das linke Bein angeschwungen, ihr Gesicht im lichten Profil; die flüssige und dennoch bestimmte Haltung ihrer Arme, die gleichsam aufknospenden Hände daraus, alles war einwandfrei"(477). Julika ist gefangen in dem von Stiller gefertigten Bildnis. Wir sind das Wesen, wie die anderen uns sehen und umgekehrt, schreibt Frisch im Tagebuch. Julika kann sich von diesem zwanghaften Bildnis nicht mehr lösen. Sie wird nur deshalb krank, weil Stiller in ihr immer das Kränkliche sah. Deshalb kann sie auch nicht mehr Tanzen, denn "Tanzen war für sie (...) wie ein Spiel aus vergangenem Lebensalter, köstlich, doch nicht mehr möglich, von innen heraus, nicht mehr möglich."3(479) Was aber Sibylle nach dem ersten Atelierbesuch bei Stiller erkennt, und konsequenterweise durchsetzt, ahnt Julika viel zu spät:sie ist Stiller gegenüber unfrei, geradezu paralysiert. Dazu kommt ihr eigenes Bild, daß sie sich von sich, von der Beziehung, von Stiller macht. Sie sieht sich als Opfer und bemitleidet sich selber. Sie ist passiv. Ihr Leben ist geschrumpft auf eine Reaktion auf Stiller. Der Jesuit formuliert es so:"Es fällt mir auf:eigentlich alles, was Sie tun oder nicht tun, begründen Sie mit etwas, was beispielsweise Ihr Mann nicht getan oder getan hat. Das ist doch, entschuldigen Sie das Wort, infantil"(483). Stiller bringt mit seinem fertigen Bildnis Julika zur physischen Zerstörung, aber das konnte nur deshalb gelingen, weil Julika nicht in der Lage war, dies zu erkennen, um den Tatsachen entsprechend zu reagieren. So ist Stillers Selbstvorwurf "Ich habe meine Gattin ermordet"(409) nur ein Teil der Wahrheit, denn Julika wollte "nicht erwachsen werden, nicht verantwortlich werden für ihr eigenes Leben"(483).

Stiller. Roman (1954)

- "Ich bin nicht ihr Stiller. Was wollen sie von mir! Ich bin ein unglücklicher, nichtiger, unwesentlicher Mensch, der kein Leben hinter sich hat, überhaupt keines. Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle.Warum lassen sie nicht ab?"

- "Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben -"

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

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Auszeichnungen

Auszeichnungen u.a.: Ehrengabe der Schweizer Schillerstiftung (40),

Dramenpreis der Emil - Welti - Stiftung (45), Wilhelm - Raabe - Preis (54), Georg Büchner - Preis + Literaturpreis der Stadt Zürich (58), Großer Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (74), Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (76), Heinrich Heine - Preis der Stadt Düsseldorf (89)

Mitgliedschaften

Mitgliedschaften u.a.: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Akademie der Künste Berlin, Bayerische Akademie der Schönen Künste, ...

Max Frisch: ,,Stiller"

1. Biografie:

15.05.1911: Frisch wird in Zürich geboren 1924-1930: Realgymnasium Zürich

1930-1933: Studium der Germanistik, Romanistik, Kunstgeschichte und Philosophie

ab 1933: nach dem Tod des Vaters Abbruch des Studiums aus finanziellen Gründen, freier Journalist bei der NZZ

1934: erster Roman ,,Jürg Reinhart" erscheint 1936-1941: Architekturstudium

1936/37: geringe schriftstellerische Erfolge - Verbrennen aller Manuskripte

1942: nach Erhalten des Architektendiploms eröffnet Frisch mit seiner Frau C. von Meyenberg ein Architekturbüro

1952: Scheidung und Aufgabe des Büros

1954: ,,Stiller" erscheint: endgültiger Durchbruch 1957: ,,Homo Faber"

1960-1969: häufige Wohnsitzwechsel (Rom, New York, Berlin) ab 1970: politisches Engagement

05.04.1991: Tod Frischs in Zürich

Preise:

1958: Georg-Büchner-Preis

1974: Großer Schillerpreis der Schweizeroschen Schillerstiftung

1976: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1989: Heinrich-Heine-Preis

weitere Werke:

1950: ,,Tagebuch 1946-1949"

1958: ,,Biedermann und die Brandstifter" 1961: ,,Andorra"

1964: ,,Mein Name sei Gantenbein" 1975: ,,Montauk"

2. Aufbau

- erster Teil: Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis in Form eines Tagebuches, Ich-Erzähler,

7 Teile (Hefte), deutlich länger als zweiter Teil, Ineinandergreifen von Berichten des gegenwärtigen Geschehens und Erinnerungen an Vergangenes

- zweiter Teil: Nachwort des Staatsanwaltes, Ich-Erzähler, ein Teil, Beschreibung Stillers Lebens nach Entlassung aus Gefängnis

- offener Schluss; keine chronologische Handlung

4. Gattung: literarisches Tagebuch

- allgemeine Funktion: Beschäftigung mit dem eigenen Ich, Ausdruck der eigenen Individualität

- in ,,Stiller": Tagebuchform nur in den ungeraden Heften; Sebstbesinnug durch Niederschreiben seines Lebens macht Selbstannahme am Schluss möglich

4. Handlung (chronologisch)

- Stiller kämpft als Freiwilliger im Spanischen Bürgerkrieg - 1. Versagen

- lernt Ballerina Julika kennen, Hochzeit ein Jahr später

- erste Krisen und Missverständnisse in der Ehe - 2. Versagen

- Stiller lernt Sibylle, Frau seines späteren Staatesanwaltes Rolf, kennen; Verhältnis

- Julikas Gesundheitszustand verschlechtert sich, Kur in Davos; Stiller kümmert sich wenig um seine Frau - Entfremdung

- Spannungen in der Beziehung mit Sibylle; Abtreibung des gemeinsamen Kindes ohne Wissen Stillers

- Stiller trennt sich von Sibylle und Julika, die immer noch in Davos ist; flieht nach Amerika und Mexiko und gilt als verschollen

- Sibylle trennt sich von ihrem Mann Rolf und wandert nach New York aus

- Julika wird wieder gesund; eröffnet eine Ballettschule in Paris

- Rolf und Sibylle finden wieder zueinander und leben zusammen in Zürich

- Stiller kehrt nach 6 Jahren als James White in die Schweiz zurück; wird dort unter Spionageverdacht verhaftet

- Stiller bestreitet seine Identität; schreibt aus der Sicht Whites über das gegenwärtige Leben im Gefängnis

- White/Stiller lernt Julika kennen und verliebt sich in sie

- White/Stiller trifft Freunde Stillers von früher (Sturzenegger, Sibylle, Bruder), die ihn alle als den Verschollenen identifizieren; er protokolliert deren Berichte über Stiller, seine Ehe zu Julika, sein Verhältnis zu Sibylle und weiteren Geschehnissen in der Vergangenheit

- White erzählt gleichzeitig abenteuerliche Geschichten aus seinem erfundenen Leben

- freundet sich mit Staatsanwalt Rolf an

- nach einem Ortstermin in Stillers ehemaligen Atelier bekennt er sich zu seiner Identität; Alibi entkräftet Spionageverdacht - Freilassung

- Stiller und Julika ziehen zusammen nach Glion; Besuche von Rolf und Sibylle

- Julika stirbt nach einer Lungenoperation; Stiller lebt allein

- Handlung wird nicht chronologisch erzählt, sondern durch Reflektionen Whites über sein Leben und Protokolle von Berichten über Stillers Leben ergeben sich für den Leser erst nach und nach die Zusammenhänge der einzelnen Ereignisse und dem chronologischen Ablauf der Handlung

Max Frisch

Max Frisch wurde am 15.Mai 1911 in Zürich als Sohn eines Architekten geboren. Von 1924-1930 besuchte er das Realgymnasium in Zürich .

Schon in seinen Jugendjahren schrieb Frisch ein Schauspiel ,eine Ehekomödie ,sowie ein Spiel um die Eroberung des Mondes .

Nach dem Abitur wandte er sich dem Studium der Germanistik an der Universität Zürich zu . Als sein Vater starb ,muss Frisch jedoch sein Studium 1933 abbrechen. Zunächst war er als Journalist tätig. Dieser Beruf lag nahe, da es ihm ermöglichte in der ganzen Welt herumzureisen .

Er unternahm Reisen nach Prag ,Ungarn, Serbien, Bosnien und Dalmatien bis ans Schwarze Meer und durch Griechenland. Ein Ergebnis dieser Reise ist der Roman ,, Jürgen Reinhart". Doch ab den dreißger Jahren wandte sich Frisch von der Literatur ab und beschloß Architektur an der Technischen Schule Zürich zu studieren.

1937 erschien der Roman ,, Antwort aus der Stille".Zwei Jahre später wurde Frisch zum Grenzschutz einberufen.

Im folgenden Jahr veröffentlichte er das Tagebuch seiner Militärzeit ,, Blätter aus dem Brotsack ".

1944 besaß er sogar ein eigenes Architekturbüro,das er aber 11 Jahre später aufgab ,um sich ganz der Literatur zu widmen.

Im Laufe der Zeit erschienen eine Vielfalt von Werken,in nur kurzen Zeitabständen :

,, Bin oder die Reise nach Peking", ,, Santa Cruz","Die Chinesische Mauer","Als der Krieg zu Ende war","Tagebuch 1946-1949","Graf Oederland","Don Juan oder die Liebe zur Geometrie","Stiller"," Homo Faber","Biedermann und die Brandstifter","Andorra", und "Mein Name sei Gantenbein ".

Nach insgesamt 12 Auszeichnungen für seine Werke starb Frisch am 4.April 1991 an einem schmerzhaften Krebsleiden , als Doktor der Philipps - Universität und als freier Schriftsteller in Zürich.

Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in Berzona in Tessin.

Er unternahm viele Reisen ,unter anderem nach Italien , Frankreich und in den späteren Jahren auch nach Mexiko, Kuba ,USA , Japan , Israel und in die arabischen Staaten.

Die Deutsche Literatur seit 1945

Für die Zeit nach 1945 fehlen allgemein anerkannte Epochenbezeichnungen.

Die Zeitdistanz ist zu kurz ,die Hauptentwicklungen sind noch nicht eindeutig.

Eine Möglichkeit eine allgemeine Orientierungshilfe zu bieten , ist die, nach typischen Erscheinungen der Literatur zu gliedern :

Existentialismus , Objektivierung und Dokumentation , Experiment und Pop , Politisierung und neue Subjektivität.

Max Frisch setzte sich mit dem modernen Existentialismus und der Schizophrenie unserer Zeit auseinander : Die Flucht des Menschen vor seiner eigenen Identität und vor der Wirklichkeit.

Häufig verwendet Frisch auch das Motiv der Selbstfindung.

Der Existentialismus ist eine philosophische Richtung , als deren Hauptvertreter Martin Heidegger , Jean-Paul Sartre und Albert Camus gelten .

Der Existentialismus behauptet die Beziehungs-und Bindungslosigkeit der Existenz.

Der Mensch ist ,,ins Nichts geworfen". Er kommt in diese Welt nicht aus eigenem Willen, ist also nicht für sein Sein verantwortlich.

Er ist daher frei in seinen Entschlüssen sowohl angesichts vorhandener Verhaltensregeln wie auch in der Wahl derer, die er sich selbst setzt.

Die Literatur Europas sah sich nach dem 2.Weltkrieg vor existentielle Fragen gestellt ; sie verwendete zum Teil Vokabular und Ansätze der Modephilosophie der Zeit. Bei Max Frisch waren solche Fragen aufgrund der Zeitsituation naheliegend und eher Ausdruck der allgemeinen Bewußtseinslage.( wie auch bei Friedrich Dürrenmatt ) Zwei Komplexe des Existentialismus spiegeln in besonderem Maße zeittypische Problemlagen wider : der von der Absurdität des Seins und der von der Identität des Ich. Die Frage nach der Identität wird häufig verwendet und Max Frisch hat in seinen Werken die verschiedensten Möglichkeiten durchgespielt :den vergeblichen Versuch sich aus der eigenen Biographie herauszustehlen (Stiller), die bewußte Wahl eines Charakters , wie er von der Umwelt erwartet und gewünscht wird (Andorra) ,das freie Spiel der Möglichkeiten bei der Selbstverwirklichung (Mein Name sei Gantenbein) In seinen Dramen verwendet Frisch alle technischen Möglichkeiten, die das moderne Theater Europas ausgebildet hat. Es finden sich Zeit- und Raumdurchdrungene Figurenspaltungen .

Zur Entstehung des Romans :

Der Roman ,, Stiller " entstand 1953 und wurde ein Jahr später veröffentlicht.

Als der Roman 1954 erschien,hatte Max Frisch vor allem als Theaterautor einen Namen. In kurzer Zeit erreichte der Roman als erstes Buch des Suhrkamp-Verlages eine Millionenauflage.

Als Ur-Idee des Stiller wird mancherorts - die im Tagebuch niedergschriebene-Skizze ,, Schinz" betrachtet.

Der Zusammenhang mit dem späteren Stiller scheint deutlich : zumindest ist diese Skizze

wohl als gedanklicher Ausgangspunkt für das im Stiller enthaltene Märchen"Rip van Winkle" und für die Geschichte "Isidors " zu sehen.

Doch auch sonst tauchen Elemente des Romans auf.

In einem Wekstattgespräch mit Horst Bienek sagte Frisch zur Entstehung :

,, Ich war ein Jahr in Amerika,und da ich ein Stipendium hatte,meinte ich fleißig sein zu

müssen . Ich schrieb sechshundert Seiten , die mißlangen . Eines Tages , zuhause , tippte ich wieöfters , wenn ich mich langweilte und mich unterhalten muß, ein paar Seiten. Ziellos , frei von dem beklemmenden Gefühl , einen Einfall zu haben . Nichts geht leichter zugrunde als ein Einfall , der sich selbst erkennt ! Das blieben die ersten Seiten vom Stiller,unverändert;das Material,das ich zum Weitertippen brauchte,stahl ich aus den sechshundert mißlungenen Seiten rücksichtslos , so daßdas Buch nach dreiviertel Jahren fertig war."

Das Buch wurde in etliche Fremdsprachen übersetzt und brachte ihm - zugleich in Anerkennung seiner Bühnenarbeiten-den ,,Wilhelm-Raabe-Preis" der Stadt Braunschweig

1955,den ,,Schiller-Preis" der Schweizer Schillerstiftung1955 sowie den ,,Welti-Preis für das

Drama" der Stadt Bern 1956 ein.

,,Stiller" wird als Durchbruch zu einer neuen Romanform gewertet.

,,So sehr es in seinem Wesen ungezählte Fragen ruft ,so sehr es den Leser oft vor den Kopf stößt - so unbestritten ist,dass ,,Stiller" in der schweizerischen Literatur ein Werk von radikaler Eigenständigkeit darstellt.Es ist ihm nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen.Auch innerhalb der deutschen Gegenwartsepik steht es sehr allein da . Wie mann sich auch zu ihm stellen mag , daran vorbeigehen kann man nicht."

Der Bund ( Bern ) v .24.12.1954

Handlung

Bei der Einreise in die Schweiz wird der vermeintliche Amerikaner Mr.White festgenommen und wegen seines identischen Aussehens verdächtigt ,der vor sieben Jahren verschwundene Anatol Ludwig Stiller ,ein Bildhauer zu sein,der in eine mysteriöse Agentenaffäre verwickelt gewesen war.

Stiller alias White ,soll sich zur Identität seiner Person bekennen.Er leugnet beharrlich , auch , als der Verratsverdacht hinfällt , denn er fühlt sich nicht in der Lage diesen Anschuldungen durch Beweise zu widerlegen ,da ihm seine eigene Herkunft und Vergangenheit seltsamerweise unbekannt sind .

Den Hauptteil des Buches bilden die Gefängnisaufzeichnungen des festgenommen Whites,die er auf Aufforderung seines Rechtsanwaltes schreiben soll .

Diese Aufzeichnungen sollen die objektive Identität Whites oder Stillers klären helfen.

Sie bilden den Hauptteil des Romans und beginnen mit den berühmten Worten : ,, Ich bin nicht Stiller!".

White beziehungsweise Stiller zeichnet in tagebuchartiger Form auf , was er während seiner Untersuchungshaft erlebt ,und schiebt dazwischen Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Amerika ein.Es kommt zu Konfrontationen mit der eigenen Vergangenheit ,dazu Protokolle , die der Häftling nach Berichten von anderen Personen anfertigt,die,um ihn zu erinnern,ihr eigenes Leben vor ihm ausbreiten .

Aus den Aufzeichnungen wird das Charakterbild des verschollenen Stillers immer deutlicher. Der Gefangene wird darauf hin mit der Umwelt , den Freunden , mit der Frau , mit der einstigen Geliebten Stillers ,dem Halbbruder und schließlich seinem Stiefvater konfrontiert, die ihn alle eindeutig als Stiller identifizieren können . Alle erkennen in ihm den Verschwundenen.

Sie sind es auch , die ihm seine Vergangenheit wieder erzählen : zwar hört er sich geduldig diese Geschichten an,beteuert doch wochenlang nicht die gesuchte Person zu sein. Die Ironie des Buches liegt allerdings darin , dass der Leser bald merkt,dass es sich tatsächlich um Stiller handelt , während dieser hartnäckig bei seiner Meinung bleibt, nicht die gesuchte Person zu sein.

Bei zahlreichen Urlaubstagen an denen er das Gefängnis verlassen darf , lernt er Julika Stiller ( die Ehefrau des Verschollenen ) gut kennen und erfährt über sie viel über Stillers Vergangenheit:

Stiller versagte als Bildhauer und als Freiwilliger beim spanischen Bürgerkrieg.So sah er die Ehe mit Julika,einer Ballettänzerin,als Bewährungsprobe an.

Diese Ehe mißglückte ihm aber,da er ihre Verschlossenheit nicht ertrug und beide keine gemeinsame psychische Ebene für ihr Zusammenleben fanden .Julika erkrankte damals an Tuberkulose und musste in ein Sanatorium.

In der Hoffnung auf einen neuen Anfang ,floh Stiller nach Amerika.

Zunächst mißlang auch dieser Versuch , bis er durch einen mißglückten Selbstmordversuch zu seinem neuen Ich fand ,das er unter den Namen White findet.

Stiller hört sich auch diese Geschichten an , ist aber überzeugt , nicht der verschollene Stiller zu sein.

In Untersuchungshaft verliebt sich Stiller sich in freier Entscheidung in seine ( ehemalige ) Frau und wundert sich ,wie der ,,verschollene Stiller " sie mit einem ,, kalten Meertier " vergleichen konnte.

Der Leser erfährt auch,daß die Gattin des Staatsanwaltes , Sybille , lange Zeit Stillers Geliebte gewesen war-daher die Interesse des Staatsanwaltes für Stiller.

Nach und nach wird die Vergangenheit Stillers immer deutlicher .

Der endgültige Beweis dafür,dass es sich tatsächlich um die gesuchte Person handelt -schon vor dem Urteil des Gerichts -ist sein Verhalten in dem ehemaligen Atelier Stillers,wo ihm die Nerven durchgehen.

Zum ersten Mal seit Jahren reagiert er dort ohne Angst,etwas Falsches zu tun,und ist ganz er selbst,also Stiller.

Schließlich zerstört er alle seine früheren Arbeiten .

Vom Gericht überführt,nimmt er endlich sich selbst als der an,der er ist : hier aber enden die Gefängnisaufzeichnungen.

Das Nachwort ist nicht mehr von Stiller geschrieben.

Der beweisführende Staatsanwalt schreibt statt seiner.Dieser zweiter Romanteil unterscheidet sich wesentlich vom ersten:es wird fortlaufend erzählt,es gibt nur noch einen Erzähler und keine Vermischung der Erzählperspektiven mehr.

Aus der Perspektive des Staatsanwaltes wird Stillers weiterer Weg gezeichnet:

Stiller zieht mit Julika in ein Bauernhaus am Genfer See und arbeitet dort als einfacher Töpfer.Alles wiederholt sich nun,was früher privat sein Versagen war. Wieder scheitert der Versuch eine glückliche Ehe mit Julika zu führen. Julika wird abermals krank und stirtb kurze Zeit später an Lungenkrebs. Der letzte Satz des Staatsanwaltes lautet nur : Stiller blieb in Glion und lebte allein.

Interpretation :

,, Ich bin nicht Stiller " -dieser Anfang des Romans führt zugleich in die Mitte seiner

Thematik: Die Frage nach dem eigentlichen Sein , beziehungsweise damit verbunden das Leugnen einer Identität.

White, der zu Beginn des Romans unter den Beschuldigungen der Fälschung seiner

Personalien und des Verdachts auf Agententätigkeit in Untersuchungshaft genommen wird , bestreitet unwiderruflich dieser verschollene Stiller zu sein , Bildhauer und Ehemann. Nach seinen Angaben ist er der Amerikaner Jim White,der einer Täuschung der anderen zum Opfer fällt.

Der Roman gleicht einer Kriminalgeschichte , die ursprüngliche Identität des Häftlings aufzuspüren.

Das Schicksal Stillers ist das eines Menschen,der sich selbst fremd geworden ist und der ein anderer sein möchte,um sich selbst annehmen zu können - ein Motiv,dem wir häufig in Frischs Werken begegnen. ( ,, Andorra " ," Mein Name sei Gantenbein " ) Frisch erklät,dass ,, jedes Ich ,das sich ausspricht,eine Rolle ist." Stiller nimmt eine Rolle an , indem er sich zu Mr.White macht.

Als dieser schreibt er seine Aufzeichnungen nieder;als dieser versucht er Stiller zu ,,töten":

,, Ich frage mich : Kann man schreiben,ohne eine Rolle zu spielen ?Man will sich selbst ein

Fremder sein.Nicht in der Rolle,wohl aber in der unbewußten Entscheidung ,welcher Art von Rolle ich mir zuschreibe , liegt meine Wirklichkeit .."

Stiller selbst fällt es sehr schwer , die volle und ganze Wahrheit über sein Leben niederzuschreiben,da sie seine Ausdrucksmöglichkeiten übersteigt : ,, Ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit " , klagt er zum Beispiel in seinen Notizen.

Jedoch ist dieser Ausspruch auch im übertragenen Sinne zu sehen :

Seine eigene Wirklichkeit ist ihm unaussprechlich ,ist ihm im Grunde nicht bewußt.

So fragt Stiller auch in dem Zusammenhang : ,, Weißich denn selbst , wer ich bin ? " Das Niederschreiben seiner Geschichte wird zu einer Art Selbstentdeckung der wahren Identität.

Stiller empfindet sich als Gefangener seiner Hoffnung und seines Fernwehs. In neuer Position versucht er ,die verlorene Zeit wiederzugewinnen.

Aber während er schreibt,und sich immer wieder neue Beweise für seinen Identitätsverlust liefern will,muß er erkennen,daß er seiner Wirklichkeit nicht entfliehen kann. Er,der sich selbst nicht annehmen will,wird durch die ständige Rückschau gezwungen,sich selbst zu erkennen.

Seine Hoffnung richtet sich auf die Erlösung von sich selbst :

,,Ich hoffe eigentlich nur, dass Gott mich zu einer anderen , nämlich reicheren , tieferen , wertvolleren , bedeutenderen Persönlichkeit machen werde - und genau das ist es vermutlich,was Gott hindert,mir gegenüber wirklich eine Existenz anzutreten,das heißt erfahrbar machen zu werden. Aber Gott widerruft sein Geschöpf nicht. Stillers Flucht nach Amerika und vor sich selbst erweist sich als vergebens. Am Ende des Buches nimmt Stiller sich selbst wieder an , und das von ihm verlassene und verschmähte Vaterland-die Schweiz.

Hier klingt dann das Goethe Wort : ,, So mußt du sein,dir kannst du nicht entfliehen " an. Stillers Flucht aus seinem ganze Lebensbereich kann eigentlich nur als Schritt eines Verzweifelten gelten ,der als Revolutionär und Künstler,als Ehemann und Liebhaber versagt hat und von Selbstüberforderung zugrunde ging.

Seine Flucht erscheint weniger als Protest seiner Existenz,als vielmehr ein Zusammenbruch einer von Minderwertigkeitsgefühlen gequälten Persönlichkeit.

Während White ursprünglich glaubt,er werde,wenn er zugibt,Stiller zu sein,eine Rolle spielen müssen , begreift er,daß es umgekehrt ist :

Indem er sich weigert,sich zu sich selbst zu bekennen,spielt er eine Rolle,denn er flüchtet in eine Vorstellung.

Er erkennt schlußendlich,dass man sich selbst nicht entgehen und sich von seiner Vergangenheit nicht lossagen kann,dass auch die Verwandlung eines Individuums unmöglich ist: Der Mensch muss sich also zu sich selbst bekennen und sein einmaliges Leben annehmen.

,,Stiller , die Hauptperson , vergißt man nicht wieder , er ist keine Romanfigur , sondern ein Individuum , ein in jedem Zug erlebter undüberzeugender Charakter."

Hermann Hesse

,,Dieser Bericht vom armseligen Stiller,dem ,,Helden wider Willen ",der vor seiner eigenen Unzulänglichkeit ins Nichts zu fliehen sucht , ist im gebrochenen Facettenlicht schillerndes Spiegelbild unseres Selbst,weil wir alle ein Stück von Stiller in uns tragen."

Münchner Merkur v.8.2.1955

Bei der Einreise in die Schweiz wird der vermeintliche Amerikaner Mr.White festgenommen und wegen seines identischen Aussehens verdächtigt , der vor sieben Jahren verschwundene Anatol Ludwig Stiller - ein Bildhauer- zu sein , der angeblich in eine mysteriöse Agentenaffäre verwickelt gewesen war.

Stiller, alias White soll sich zu der Identität seiner Person bekennen .

Den Hauptteil des Romans bilden die Gefängnisaufzeichnungen des festgenommen White , die er auf Aufforderung seines Rechtanwaltes schreiben soll.

Der Gefangene wird daraufhin mit den Freunden, mit der Ehefrau Julika ,mit der einstigen Geliebten ( = Frau des Staatsanwaltes ), dem Halbbruder und schließlich dem Stiefvater konfrontiert ,die ihn alle eindeutig als den vermissten Stiller indentifizieren können . Sie sind es auch, die ihm seine Vergangenheit erzählen - Stiller jedoch glaubt ihnen kein einziges Wort und ist fest der Meinung nicht die gesuchte Person zu sein. Am Ende des Romans nimmt Stiller sich selber wieder an.

Das Nachwort ist nicht mehr von Stiller geschrieben,sondern aus der Perspektive seines Rechtsanwaltes, der Stillers weiteren Lebensweg beschreibt : Stiller zieht mit seiner Frau Julia an den Genfer See,doch der Versuch ein zqeites Mal eine glückliche Ehe zu führen , scheitert auch bei diesem Versuch .

Julika erkrankt kurze Zeit später und stirbt schließlich an Lungenkrebs.

,, Ich bin nicht Stiller"2 - Dieser Anfang führt eigentlich zugleich in die Mitte der Thematik: Die Frage nach dem eigentlich Sein , beziehungsweise damit verbunden das Leugnen einer Identität.

White, der zu Beginn des Romans ,,Stiller " unter den Beschuldigungen der Fälschung seiner Personalien und des Verdachts auf Agententätigkeit in Untersuchungshaft genommen wird , bestreitet unwiderruflich dieser verschollene Stiller zu sein, Bildhauer und Ehemann. Nach seinen Angaben ist er der Amerikaner Jim White, der einer Täuschung der anderen zum Opfer fällt.

Das Schicksal Stillers ist das eines Menschen ,der sich selbst fremd geworden ist und der ein anderer sein möchte , um sich selber annehmen zu können.

Frisch erklärt,dass ,, jedes Ich ,das sich ausspricht,eine Rolle ist." Stiller nimmt eine Rolle an,in dem er sich zu Mr.White macht.

Als dieser schreibt er auch seine Aufzeichnungen auf und versucht somit seine wahre Identität im gewissen Sinn zu ,,töten" : ,,Ich frage mich: Kann man schreiben , ohne eine Rolle zu spielen ? Man will sich selbst ein Fremder sein .Nicht in der Rolle,wohl aber in der unbewußten Entscheidung , welche Art von Rolle ich mir zuschreibe, liegt meine Wirklichkeit." 3

Stiller, der sein ganzes Leben lang ,,versagt" hatte, hofft neu beginnen zu können , indem er nach Amerika flieht .

- "Es gibt keine Flucht. Ich weiß es und sage es mir täglich. Es gibt keine Flucht. Ich bin geflohen, um nicht zu morden, und habe erfahren, daß gerade mein Versuch, zu fliehen, der Mord ist. Es gibt nur noch eins: dieses Wissen auf mich zu nehmen, auch wenn dieses Wissen, daß ich ein Leben gemordet habe, niemand mit mir teilt."

- "Meine Angst: die Wiederholung -!"

- "Jedes Bildnis ist eine Sünde. Es ist genau das Gegenteil von Liebe, siehst du, was du jetzt machst mit solchen Reden."

- "Das ist es: ich habe keine Sprache für die Wirklichkeit."

- "Herr Sturzenegger schüttelt sich schon vor Lachen. Dann erscheint er wie ein Hampelmann an den unsichtbaren Fäden der Gewöhnung, kein Mensch."

- "Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen?"

- "Stiller blieb in Glion und lebte allein."

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Max Frisch. Biographie und Selbstbildnis in "Stiller"
Autor
Jahr
2001
Seiten
20
Katalognummer
V103399
ISBN (eBook)
9783640017775
Dateigröße
404 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frisch
Arbeit zitieren
Thomas Leuner (Autor:in), 2001, Max Frisch. Biographie und Selbstbildnis in "Stiller", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103399

Kommentare

  • Gast am 17.4.2002

    Zu Max frish und Stiller.

    Die Seminararbeit hier hat mir echt geholfen, danke:-), ich muss nämlich ein Referat über die Identitätskrise halten. Aber ich wollt nur sagen, abundzu stehen Absätze oder Textstücke doppelt drin! Also da wiederholt sich öfter was! Ciao Anja

Blick ins Buch
Titel: Max Frisch. Biographie und Selbstbildnis in "Stiller"



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