Kritische Lebensereignisse


Ausarbeitung, 2000

16 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Kritische Lebensereignisse (A. Müller)
1.2. Forschungsperspektiven innerhalb der Psychologie (A. Müller)
1.3. Darstellung eines heuristischen Modells zur Erforschung kritischer Lebensereignisse nach Sigrun - Heide Filipp (A. Müller)

2. Hauptteil
2.1. Die Rolle der Personen in Konfrontationen und Auseinandersetzungen mit kritischen Lebensereignissen (K. Wilding)
2.2. Rolle des Situationskontextes bei der Konfrontation und Auseinandersetzung mit Lebensereignissen (K. Wilding)
2.3. Die konzeptuelle Präzisierung kritischer Lebensereignisse und ihrer Merkmale (K. Wilding)
2.4. Formen der Auseinandersetzung mit und Bewältigung von kritischen Lebensereignissen (M. Grabo)
2.5. Effekte der Auseinandersetzung mit und Bewältigung von kritischen Lebensereignissen (M. Grabo)

3. Schlussteil
3.1. Abschließende Anwendungsimplikationen (M. Grabo)

1. Einleitung

1.1. Kritische Lebensereignisse

Das Thema dieses Referates sind kritische Lebensereignisse, die Grundprobleme ihrer Erforschung und ihre Effekte.

Die zentrale Frage ist, welche Bedeutung kritische Lebensereignisse für unser Leben haben und welche Veränderungen im Verhalten und Erleben auf die betroffenen Menschen zukommen.

Bei der Erforschung dieser Frage kommt es zu einigen konzeptuellen und methodischen Problemen. Daher möchten wir in der Einleitung dieses Referates zunächst einige Forschungsperspektiven innerhalb der Psychologie vorstellen und dann das von Sigrun - Heide Filipp entworfene Modell zur Analyse von kritischen Lebensereignissen vorstellen.

"Das Schicksal mischt die Karten, und wir spielen" (A. Schopenhauer)1

Wir alle wissen, daß unser Leben nicht "gradlinig" verläuft, sondern es treten immer wieder unvorhergesehene Ereignisse auf, die in unseren Alltag eingreifen und die uns vielleicht zum Umorientieren im Handeln und Denken bewegen (Arbeitslosigkeit, Tod, Krankheit, Kriege...) Mit solchen "Schicksalsschlägen" setzt sich auch die Psychologie auseinander. Sie fragt, ob und in welchem Maße sich Lebensereignisse eignen, um menschliches Verhalten und Erleben erklären und vorhersagen zu können.

Die Psychologie kann aber solche komplexe Ausschnitte der Realität immer nur verkürzt abbilden und aus ihrer eigenen Perspektive betrachten.

Viele Lebensereignisse sind nur aus dem historisch - epochalen Kontext erklärbar innerhalb dessen sie auftreten, worauf später im Hauptteil noch eingegangen wird. Das gilt für historische Ereignisse (Kriege, Mauerfall...) oder für individuelle Lebensereignisse (Verlust der Arbeit, ungewollte Schwangerschaft...). Auch viele anderen Disziplinen, wie Soziologen, Historiker, Wirtschaftswissenschaftler oder Politologen fragen danach welche epochal spezifischen Merkmale eines sozialen, ökonomischen und politischen Systems dazu führen, daß seine Mitglieder mit Lebensereignissen einer bestimmten Qualität konfrontiert werden.

Ein Musterbeispiel dafür, daß ihr Anwendungs- und Betätigungsfeld letztlich durch kritische Lebensereignisse konstruiert ist, ist die Medizin.

Operationen und Krankheiten sind in der Regel die dramatischsten Lebensereignisse und als letzte sogenannte „Lebenskrise“ das Problem des Sterbens.

Das Phänomen der „Krise“ ist auch Gegenstand der Philosophie, besonders der Existenzphilosophie.

Aus der Existenzphilosophie stammt der von Karl Jaspers geprägte Begriff Grenzsituation.2

Neu an dem Phänomen der Grenzsituation ist, dass Jaspers sie als solche bewusst macht und zum Gegenstand äußersten Nachdenkens erhebt.

Grenzsituationen sind also solche Situationen, in denen der Mensch etwas Unabänderliches erfährt: in denen er „an die Grenze seines Daseins geführt wird“3.

„ Auf Grenzsituationen aber reagieren wir entweder durch Verschleierung, oder wenn wir sie wirklich erfassen, durch Verzweiflung und durch Wiederherstellung: wir werden wir selbst in einer Verwandlung unseres Selbstbewusstseins “ . 4

Es ist zu sehen, dass das Konzept der kritischen Lebensereignisse in viele anderen Disziplinen ausgreift.

1.2. Forschungsperspektiven innerhalb der Psychologie

Kritische Lebensereignisse werden in der Psychologie als potentiell Stresserzeugend betrachtet bzw. auch durch den Begriff „stressreiche Lebensereignisse“ ersetzt. Daher ist die Stressforschung ein wichtiger Forschungsbereich!

Kritische Lebensereignisse stellen dann nichts anderes als molar konzipierte „Stressoren“ dar, die „von außen“ an die Person einwirken und mit denen sich die Person auseinandersetzen muss, worauf im Hauptteil noch näher eingegangen wird.

Ebenso gibt es Erklärungsansätze aus der sogenannten Situationismus- und Interaktionismusdebatte. Die Frage ist hier nicht ob „stressreich“ oder „kritisch“, sondern nach der Plastizität, also die Formbarkeit des Verhalten einer Person über unterschiedliche Situationen hinweg.

Der Begriff „Situation“ wird um die dynamische Komponente erweitert, in dem die Abfolge von Ergebnissen über die Zeit hinweg betrachtet wird.

Ein weiterer Aspekt ist, dass eine Notwendigkeit zur Neuanpassung des Verhaltens gesehen wird. Sozialisationstheoretische, öko- und persönlichkeitspsychologische Ansätze tragen zur Erklärung und Vorhersage „gelungener“ oder „misslungener“ Anpassung bei.

Hierbei sind die entwicklungspsychologische Perspektive und die klinisch- psychologische und epidemiologische Forschungsperspektive zu nennen, die hier kurz vorgestellt werden sollen.

In der klinisch- psychologischen und epidemiologischen Perspektive werden seit den sechziger Jahren Beziehungen zwischen Lebensereignissen und Erkrankungen nachgegangen.

Die Ausgangshypothese ist, dass die Konfrontation mit einer Vielzahl von kritischen Lebensereignissen innerhalb eines bestimmten Zeitraums Krankheiten verursacht. Ein Mensch kann nur begrenzt die „Belastungen“ verarbeiten. Auch kann es zum Zusammenbruch des Organismus führen.

Das Konzept dieser Anschauung ist, dass mit jedem Ereignis eine Neuorganisation des Verhaltenssystems erforderlich ist.

Die entwicklungspsychologische Forschungsperspektive ist zum einen jünger (seit den Achtzigern) und beinhaltet zum anderen eine andere Ausgangshypothese.

Nach ihr sind kritische Lebensereignisse ein Erklärungsprinzip für einen ontogenetischen Wandel über die Lebensspanne hinweg.

Diese Perspektive verfolgt Veränderungs- und Anpassungsprozesse die mit kritischen Lebensereignissen einhergehen über eine längeren Zeitraum und betrachtet die Person im Zusammenhang mit ihrer Umwelt.

Filipp zeigt an einem Beispiel, dass es Tatsache ist, dass der Verlust der Mutter im Kleinkindalter ganz unterschiedliche Konsequenzen für die Entwicklung des Kindes besitzt. Je nachdem, ob das Kind sechs oder zwölf Monate ist, oder schon drei Jahre. Es ist auch ein Unterschied darin zu sehen, ob man mit zwanzig oder dreißig Jahren Arbeitslos wird. Es wird also der bio- und soziokulturelle Kontext berücksichtigt.

Die Entwicklungspsychologie und die dort diskutierten Meta-Modelle menschlicher Entwicklung liefern einen brauchbaren heuristischen Rahmen für die Erforschung kritischer Lebensereignisse.

Auch das von Filipp vorgeschlagene Modell ist im engeren Sinne entwicklungspsychologischer Orientierung.

1.3. Darstellung eines heuristischen Modells zur Erforschung kritischer Lebensereignisse nach Sigrun - Heide Filipp

Sigrun - Heide Filipp schlägt zur Erforschung kritischer Lebensereignisse und ihrer Bedeutung in der jeweiligen individuellen Biographie ein heuristisches Modell vor.

Das Modell ist als ein Schaubild dargestellt und soll im Folgenden von uns erläutert und dargestellt werden.

Filipp geht davon aus, dass jegliche Analyse kritischer Lebensereignisse die die aktive Person nicht in die Betrachtung einschließt, uns keine hinreichenden Erkenntnisse über die Bedeutung kritischer Lebensereignisse für die persönliche Veränderung liefert.

Bei dem von ihr entwickelten Modell ist es daher von großer Bedeutung auch den Systemcharakter der Person- Umwelt - Beziehung zu berücksichtigen.

Der „Effekt“ (vgl. Filipp, S.9) kritischer Lebensereignisse liegt darin, dass die Person selbst ihre soziale Umwelt neu arrangieren, also ein neues Gleichgewicht herstellen muss!

„Lebensereignisse“ und „Person“ werden als aktive Kr ä fte in diesem Austausch- und Passungsgefüge betrachtet.

Die aktive Rolle der Person muss, laut Filipp, auch darin gesehen werden, dass sie selbst (mit)bestimmen kann, mit welchen kritischen Lebensereignissen, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Ereignisabfolge sie konfrontiert sein wird.

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass eine Vielzahl von Lebensereignissen der Entscheidungskontrolle der Person unterliegt.

Eine Unterscheidung von „normativen“ und „non- normativen“ Lebensereignissen ist ebenso von zentraler Bedeutung. Die genauere Erläuterung dazu findet sich im Hauptteil dieses Referats.

An dieser Stelle möchten wir die Modellkomponenten und Analyseeinheiten im Überblick darstellen, um später detaillierter auf sie einzugehen.

Das Modell soll verdeutlichen, dass die Analyse von kritischen Lebensereignissen auf einer zeitlichen Achse projiziert werden muss, damit der Prozesscharakter darstellbar ist. Es handelt sich hier um subjektive Zeiträume (psychologische Zeit).

Aber auch die „historische Zeitachse“ lässt sich zum Konkretisieren heranziehen (z.B. technologischer Wandel, Verschlechterung der Volkswirtschaftlichen Lage etc.)

Es ist von entscheidender Bedeutung zu welchem Zeitpunkt und über welche Zeitstrecke hinweg die Analyse vorgenommen wird.

Die übliche Forschungsstrategie ist die „ retrospektive Methode “. Sie besteht darin, dass die zum Zeitpunkt t3 beobachtet Varianz bei den jeweiligen Personenmerkmalen erklärt werden soll durch die zeitlich vorauslaufenden Prozesse der Auseinandersetzung mit Lebensereignissen.

Häufig werden gegen diese Methode auch Einwände vorgebracht.

Es wird ihr vorgeworfen, dass Person und Kontext vor dem kritischen Lebensereignis außer acht bleiben.

Auch Verzerrungen in der rückblickenden Einschätzung von Ereignissen bleiben unberücksichtigt.

Retrospektive Berichte von kritischen Lebensereignissen sind konfundiert mit den Konsequenzen des Ereignisses sowie mit der aktuellen Befindlichkeit der Person. Es handelt sich eher um subjektive Rekonstruktionen. (vgl. Filipp, S.12)

Letztendlich ist bei Rückblickenden Einschätzungen nicht zu entscheiden, ob sie sich auf das Ergebnis oder die entstandenen Konsequenzen beziehen.

Daraus ergibt sich, dass die Analyse von kritischen Lebensereignisse und ihre Effekte besser im Sinne von Zeitreihen- bzw. Verlaufsanalysen entlang der Zeitachse von t1 nach t3 vorgenommen werde müsste.

So könnte man auch das soziale Umfeld einer Person einfließen lassen im Sinne Filipps.

Wie sähe also eine vollständige Analyse aus? Welche Kriterien müssen berücksichtigt werden?

Sigrun- Heide Filipp nennt in diesem Zusammenhang sechs Kriterien, die hier aufgelistet werden sollen, um dann im Hauptteil näher auf sie einzugehen.

I. Vorauslaufende Bedingungen (Antezendenzmerkmale)
II. Konkurrente Bedingungen in der Person (Personenmerkmale)
III. Konkurrente Bedingungen in der Situation (Kontextmerkmale)
IV. Merkmale von kritischen Lebensereignissen (Ereignismerkmale)
V. Formen der Auseinandersetzung (Prozessmerkmale)
VI. Effekte der Auseinandersetzung (Konsequenzmerkmale)

2. Hauptteil

2.1. Die Rolle der Pe rsonen in Konfrontationen und Auseinandersetzungen mit kritischen Lebensereignissen:

Wie bereits schon erwähnt ist bei der Erforschung kritischer Lebensereignisse und ihrer Effekte wichtig, um zu sicheren Aussagen zu gelangen, die jeweilige Berücksichtigung der zu dem Zeitpunkt vorfindbaren physischen und psychischen Ausstattung der jeweiligen Person. Das „Personenmerkmal“ ist ein besonders wichtiger und interessanter Teil der Untersuchung.

Sie gestatten vorherzusagen, wie der Eintritt eines Ereignisses und die spezifischen Ereignisqualitäten durch die Person selbst wahrgenommen und bewertet werden.

Dieser Zugang zu Ereignissen hat sich innerhalb der letzten Jahre als besonders wertvoll erwiesen, weil sehr gut festgehalten ist, dass erst über die individuellen Prozesse der Wahrnehmung und Bewertung eine Situation die Qualität eines „Stressors“ erhält. Fast ausschließlich durch die Formen der subjektiven Ereigniswahrnehmung erhalten die Lebensereignisse ihre spezifische Qualität und damit ihren Wirkungsgrad für nachfolgende Veränderungen in der Person.

Hier ist bereits deutlich zu erkennen, wie stark die Beziehung zwischen Person und Lebensereignis ist, und welchen hohen Anteil die Person an der „Gestaltung“ und „Formung“ des Lebensereignissen hat.

Personenmerkmale müssen auch deshalb berücksichtigt werden, weil sie die Vorhersage gestatten sollten, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Person mit Ereignissen einer spezifischen Qualität konfrontiert sein wird.

Dieser Aspekt lässt sich mit dem Begriff „Risikopersönlichkeit“ gut umschreiben, obwohl er in der Erforschung kritischer Lebensereignisse bisher eher vernachlässigt wurde.

Unerlässlich ist im Zusammenhang mit Personenmerkmalen die Frage nach physischen und psychischen Ressourcen, die einer Person für eine effiziente Auseinandersetzung mit Lebensereignissen zur Verfügung stehen.

Dabei wird angenommen, dass beispielsweise das Verfügbare Verhaltensrepertoire, Temperamentsmerkmale, Kontrollüberzeugungen und andere Merkmale mittelbar oder unmittelbar die Bewältigungsprozesse mitbestimmen.

Bisher liegen allerdings nur wenige theoretische Ansätze vor, aus denen sich ableiten lässt, welche Personenmerkmale bedeutsam für die Wahrnehmung, Herbeiführung und Bewältigung von kritischen Lebensereignissen sind.

Im Schaubild sind exemplarisch solche Personenmerkmale berücksichtigt, die aufgrund ihrer Konzeptualisierung und/oder vorliegender empirischer Evidenz in Beziehung zu der Auseinandersetzung mit Lebensereignissen gesetzt werden können.

Geschlechtsunterschiede zeigen sich nach Befunden darin, dass Frauen häufiger mit kritischen Lebensereignissen konfrontiert werden als Männer, wobei Männer mit Ereignissen aus den Bereichen Beruf und gesetzliche Schwierigkeiten, hingegen Frauen eher zwischenmenschliche Bereiche angeben.

Frauen scheinen auch stärker mit Lebensereignissen konfrontiert zu werden, in deren Zentrum signifikante Bezugspersonen und nicht sie selbst stehen.

Berücksichtigt man die Beziehung zum kalendarische Alter zu Anzahl und Art der eintretenden Lebensereignisse wird deutlich, dass jüngere Menschen einer größeren Anzahl von Lebensereignissen ausgesetzt sind als Ältere.

Im höheren Alter treten mehr Verlustereignisse auf, als es in früheren Altersabschnitten der Fall ist. Zur genauen Beantwortung solcher Fragen, bedarf es ein differenziertes System zur Klassifikation von Lebensereignissen. Ein Versuch in der Unterscheidung von Lebensereignissen liegt in der sozialen und/oder biologischen Normierung an bestimmte Lebensalter (altersnormierte Ereignisse) von „non-normativen“ Ereignissen, deren Eintritt weitgehend unabhängig vom kalendarischen Alter ist zu differenzieren.

„Selbstwertgefühl“ ist nach Ansicht vieler Autoren die sich mit diesem Thema beschäftigt haben ein Begriff der in den Bereich psychische Ressourcen einzuordnen ist, und den Bewältigungsprozess erleichtern und unterstützen kann. Die aktuelle biophysische und psychische Ausstattung der zu untersuchenden Person wird allgemein unter Personenmerkmale zusammengefasst. In diesem Zusammenhang gilt zu prüfen, in welchem Maße und unter welchen Bedingungen Merkmale der Person und/oder des Umweltkontextes mit Merkmalen von kritischen Lebensereignissen interagierend bestimmte Folgen für die Person oder ihre Lebenssituation produzieren.

Hier sollte nicht das „Konzept der Widerstandsfähigkeit“ vergessen werden, welches durch drei Personenmerkmale markiert ist.

1. Hohe internale Kontrollüberzeugung
2. Hohes Maß der Akzeptanz eigener Lebenspläne, Einstellungen und Handlungsweisen

Bereitschaft, Veränderungen als Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung aufzufassen.

Das Konzept führt dazu, die Neuartigkeit, Mehrdeutigkeit, Unvorhersehbarkeit von Lebensereignissen nicht als prinzipiell bedrohlich, sondern als „Herausforderung“ an eigene Kompetenzen zu erleben.

2.2. Rolle des Situationskontextes bei der Konfrontation und Auseinandersetzung mit Lebensereignissen

Die Einbeziehung von Merkmalen des sozialen und ökologischen Kontextes ist unerlässlich, wenn wir über die Konfrontation und Auseinandersetzung von kritischen Lebensereignissen sprechen.

Die Merkmale des sozioökologischen Kontextes sind entscheidend was die Einschätzung und Wahrnehmung von Lebensereignissen (mit)-bedingen.

Nicht ausreichend erforscht, aber doch zu erwähnen wäre, inwieweit sozioökonomische Faktoren Einfluss auf den Eintritt von kritischen Lebensereignissen haben.

Die Wahrscheinlichkeit Opfer eines Raubüberfalls zu werden ist in der Großstadt vermutlich höher als auf dem Lande oder in einem strukturschwachen Gebiet keinen Arbeitsplatz zu finden höher ist als in einem industriellen Ballungsgebiet.

Beachtenswert ist das Merkmal der sozialen Schichtzugehörigkeit, wonach Angehörige unterer sozialer Schichten stärker durch kritische Lebensereignisse belastet sein sollen als die der höheren sozialen Schichten.

Nach einer Analyse von Wheaton (1980) ist die soziale Schichtzugehörigkeit weniger für den Ereigniseintritt per se, sondern für die Art des Umgangs mit Ereignissen bedeutsam. Angehörige unterer sozialer Schichten zeigen in höherem Maße fatalistische Tendenzen, die eine angemessene Ereignisbewältigung erschweren oder gar verhindern.

Neben allen möglichen Kontextmerkmalen die die Auseinandersetzung mit Lebensereignissen moderieren und wesentliche Ressourcen für ihre Bewältigung darstellen, scheint das soziale Beziehungsgefüge und damit verbunden das Ausmaß an sozialer Unterstützung das wichtigste zu sein. Zahlreiche Überprüfungen und Studien lassen sich in entsprechender Literatur nachlesen. Die Qualität der Partnerbeziehung ist ein wichtiger Aspekt der über die „Verwundbarkeit“ einer Person in Bezug zu kritischen Lebensereignissen beobachtet werden kann. Ferner sind die sozialen Stützsysteme ebenfalls ein wichtiger zu untersuchender Bereich. Freunde etc. sind hilfreich dadurch, das die eigenen Überzeugungen, Interpretationen und Gefühle durch Zustimmung anderer verifiziert werden oder die soziale Unterstützung die Wertschätzung die man durch andere erfährt impliziert. Zum Abschluss sei zu erwähnen, dass die Berücksichtigung von Kontextmerkmalen (einschließlich ihrer Interaktion mit Personenmerkmalen) bessere Vorhersagen darüber gestatten, mit welcher Wahrscheinlichkeit Ereignisse eintreten werden, welcher Art die jeweiligen Bewältigungsstrategien sein werden und welche Effekte Ereignisse jeweils besitzen.

2.3. Die konzeptuelle Präzisierung kritischer Lebensereignisse und ihrer Merkmale

„ Wann spricht man überhaupt von „kritischen Lebensereignissen?“ Welche Kriterien heißt es zu erfüllen? Gibt es eine Richtlinie wie die betroffene Person sich verhalten muss?

Die Unterschiedlichkeit ist sehr groß, was folgende Beispiele veranschaulichen sollen- Tod eines geliebten Menschen, Veränderung der Eßgewohnheiten bis hin zur Versetzung in den Ruhestand.

Eine weitgehende Übereinstimmung besteht darin, dass kritische Lebensereignisse als solche im Leben einer Person auftretende Ereignisse verstanden werden, die durch Veränderungen der (sozialen)Lebenssituation der Person gekennzeichnet sind und die mit entsprechenden Anpassungsleistungen durch die Person beantwortet werden müssen.

Da eine Unterbrechung der normalen Handlungsabläufe stattfindet, wird es als prinzipiell „streßreich“ angesehen, in vielen Fällen unabhängig davon, ob es sich um ein positives (Heirat) oder negatives (Verlust des Arbeitsplatzes) Lebensveränderndes Ereignis handelt. Sigrun Heide-Fillip zieht zur Kennzeichnung kritischer Lebensereignisse folgende Parameter heran:

1. Objektive und Objektivierte Ereignismerkmale
2. zeitliche Erstreckung und Sequentierung
3. Lokalisierung im Lebensraum und Wirkungsbreite
4. Kontrollierbarkeit und Vorhersagbarkeit

Im Bereich des objektivierten Ereignismerkmal sollte der Grad der Universalität eines Ereignissen berücksichtigt werden. Die Frage lautet, wie groß der Anteil der von dem Ereignis zu einem gegebenen Zeitpunkt betroffenen Personen innerhalb einer Population ist. Mit dieser Entscheidung kann man die Differenzierung in epochal-normierte, altersnormierte oder non-normative Ereignisse kennzeichnen.

Neuerdings wird zunehmend das Ausmaß in dem ein Lebensereignis durch die Person kontrolliert werden kann Bedeutung für die Kennzeichnung und Klassifikation von Lebensereignissen zugeschrieben. Konzipiert man dieses als objektiviertes Ereignismerkmal, besagt dies, dass man unabhängig von den individualspezifischen Tendenzen einer Person, Ereignisse danach klassifizieren will, wie stark sie tatsächlich der Einflussnahme einer Person unterliegen. In vielen Fällen natürlich ist diese Hypothese sehr gefährlich, denn die gegebene Kontrollierbarkeit oder Nichtkontrollierbarkeit von Ereignissen lässt sich nur schwer eindeutig festlegen, wie etwa bei Naturkatastrophen es der Fall ist.

Schon bei schweren Erkrankungen ist es schwierig zu entscheiden, ob die Person nicht selbst Bedingungen für den Eintritt dieser Erkrankungen geschaffen und somit den Eintritt des Ereignissen „kontrolliert“ hat. Umgekehrt gibt es Ereignisse, die als eindeutig kontrollierbar betrachtet werden (Umzug), doch auch solche Beispiele zeigen die relative Willkürlichkeit der Lokalisierung von Lebensereignissen auf der Dimension ihrer Kontrollierbarkeit. Im Zuge der Kontrollierbarkeit von Ereignissen wird häufig die Frage der Vorhersehbarkeit von Ereignissen diskutiert. Sicherlich lassen sich viele Ereignisse relativ eindeutig auf dieser Dimension ansiedeln, gerade im Falle der normativen Lebensereignisse.

Sozial normierte Ereignisse (z.B. Eintritt in den Ruhestand) wie auch durch biologische Faktoren ausgelöste Ereignisse ( z.B. Menopause) sind jeweils in hohem Maße vorauszusehen.

Es ist natürlich schwierig, eindeutig und überindividuell gültige Festlegungen zu treffen. Mit der Analyse subjektiver Ereignisse sind einige Probleme verbunden.

Versucht man die Wahrnehmung und Bewertung von Lebensereignissen im Rahmen retrospektiver Berichte zu erheben, dann ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob sich diese Bewertungen auf das Ereignis selbst, auf seine (tatsächlichen oder vermeintlichen) Konsequenzen und/oder auf seine Vorgeschichte beziehen.

Der Tod einer nahestehenden Person mag im Falle einer unheilbaren Krankheit als positives Ereignis erlebt werden, in einem anderen Falle mag die Tatsache des Verlustes dominieren und ihn zu einem sehr negativen Ereignis machen. Aber nicht nur die Unsicherheit, welche Aspekte in der Ereigniswahrnehmung jeweils fokussiert werden, sondern auch die in ihren Ausmaß nicht bekannte Variabilität der Ereigniswahrnehmung über die Zeit macht die Verwendung subjektiver Ereignisparameter schwierig.

In der rückblickenden Einschätzung von Lebensereignissen spiegelt sich eher die aktuelle Befindlichkeit der Person wider.

Obwohl die Verwendung subjektiver Ereignisparameter zur Kennzeichnung und Klassifikation von kritischen Lebensereignissen viele ungelöste Probleme aufwirft, bleibt es unerlässlich für die Erklärung und Prognose von Verhaltensänderungen die Prozesse der subjektiven Ereigniswahrnehmung mit in die Betrachtung einzuschließen.

Die Dimension der „Erwünschtheit“ eines Ereignissen wurde oft überprüft. Man muss berücksichtigen, welches Handlungsziel die jeweilige Person verfolgt. Unter diesem Aspekt betrachtet, sind Lebensereignisse in der Stärke erwünscht, wie sie die Erreichung von Handlungszielen unterschiedlicher zeitlicher Erstreckung der Person fördern und in dem Maße unerwünscht, wie sie die eigenen Ziele behindern.

In diesem Zusammenhang wird einem Ereignis eine gewisse „Bedeutung“ zugeschrieben, die als Dimension der subjektiven Ereigniswahrnehmung zuzurechnen ist.

Wichtig ist das Bestimmte Ereignisse in Qualität und Intensität sich über die Lebensspanne hinweg ändern und Lebensereignisse zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Lebensspanne dann auch unterschiedliche „Bedeutung“ haben.

Wichtig ist die Fähigkeit, in einem Lebensereignis „einen Sinn“ zu sehen (selbst bei äußerst negativen Ereignissen), da die Auseinandersetzung und Bewältigung von kritischen Lebensereignissen dadurch enorm erleichtert wird.

In diesem Zusammenhang steht auch die Kontrollierbarkeit und Vorhersagbarkeit von Ereignissen. Trotz einer Fülle von laborexperiementeller Befunde zur Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit von Handlungsausgängen und Ereignissen ist im Zusammenhang mit der Analyse kritischer Lebensereignissen dieser Aspekt noch zu wenig erforscht, um weitgehende Annahmen zu treffen.

Der Grad der erlebten Herausforderung bleibt noch kurz zu erwähnen. Hier spricht man davon, wie eine Person kritische Lebensereignisse als Chancen für die Erprobung von Problemlöse-und Bewältigungsverhalten anwendet.

Die Wahrscheinlichkeit kritische Lebensereignissen als Herausforderung wahrzunehmen, dürfte in erster Linie von der Bewältigungskompetenz abhängen und von der Art und Weise mit der die Person Ähnlichkeiten oder Äquivalenzen zu früheren erfolgreich bewältigten Ereignissen konstruiert.

Der Vielzahl von kritischen Lebensereignissen kann man nur dadurch begegnen, indem man unter dem Aspekt der Differenzierung und Klassifikation auf ein vielseitiges Beschreibungssystem zurückgreift. Man ist heute noch weit entfernt davon, etwas über die Anzahl und die Qualität der Dimensionen die Lebensereignisse verlässlich und umfassend charakterisieren zu wissen.

2.4. Formen der Auseinandersetzung mit und Bewältigung von kritischen Lebensereignissen

Hier taucht der Begriff „coping“ auf, der eigentlich konkret mit Bewältigung übersetzt wird.

Dieser stammt aus der sogenannten Stressforschung mit Anleihen aus der Psychoanalyse. Das erkennt man an der starken Betonung der Ich-Funktion, worauf wir an späterer Stelle zurückkommen werden. Das Verständnis von Coping ist je nach dem psychologischen Ansatz verschieden. Aus der Fülle der Definitionen greifen wir hier zwei wesentliche heraus. Das erste Konzept stammt von Lazarus & Launier und sieht Coping als die Summe aller problemlösenden Anstrengungen in einer die Anpassungskapazität überfordernden Lage. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht also die Situation, die als eine die Anpassungskapazität überfordernde Lage charakterisiert wird. Das Verhalten muss sich nur auf diese Situation beziehen, um als Coping zu gelten. Das Kriterium der Angemessenheit bzw. Unangemessenheit wird dabei ausgeblendet.

Ein anderer Ansatz setzt den Focus in der Art und Weide des Verhaltens bzw. der Angemessenheit. Coping ist dabei nur eine denkbare Form des Verhaltens unter anderen in bezug auf das Lebensereignis. Rodin spricht hier von Coping als schützendes, schadenvermeidendes Verhalten, in dem das Gelingen impliziert ist. Demgegenüber stehen die nicht erfolgreichen Bewältigungsformen der Abwehr oder „Defending“ und der Fragmentierung*1. Bei der Abwehr kann man eigentlich gar nicht von wirklicher Auseinandersetzung sprechen, weil das Problem verdrängt wird, was natürlich keine Lösung zur Folge hat, weshalb man dies als unangemessen bezeichnen kann. Es kann aber durchaus in bestimmten Lebenssituationen seine Funktion haben, wenn man z.B. definitiv nicht die psychische Energie aufbringt, sich mit einem Problem Auseinanderzusetzen, um daran nicht zu scheitern. Vielleicht kann man zu einem späteren Zeitpunkt besser damit umgehen. Die zweite Variante unangemessenen Verhaltens ist die Fragmentierung, also eine unvollständige Auseinadersetzung, die zum Scheitern führt. In der Ich-Psychologie ist hier vom Versagen der Ich-Funktion die Rede. Es wird davon ausgegangen, dass das Ich jedes Menschen eine bestimmte Stärke besitzt, sich an neue bzw. belastende Situationen anzupassen. Wird diese individuelle Kapazität überschritten, so führt das zum Scheitern. Der Blick bewegt sich hier etwas weg vom Verhaltensaspekt hin zur individuellen psychischen Verfassung. Diese Bereiche sind jedoch so stark miteinander verwoben, dass man sie kaum voneinander trennen kann.

Wichtige Merkmale von Auseinandersetzung und Bewältigung sind, dass diese auf allen Ebenen stattfinden. Zum einen spielen sich diese Prozesse auf der Verhaltensebene ab, die man wieder unterteilen kann in nach innen oder nach außen gerichtetes Verhalten. Nach innen gerichtetes Verhalten ist möglicherweise die Inanspruchnahme einer Therapie, während die körperliche Selbstverteidigung als Reaktion auf einen Überfall klar nach außen gerichtet ist. Eine weitere Verhaltensebene ist die der Kognitionen, die differenziert werden nach der Ausrichtung auf das Ereignis oder auf die eigene Person. Auf das Ereignis gerichtete Kognitionen können sich beispielsweise mit der Sinnfrage beschäftigen, ob es als sinnlos oder möglicherweise als göttliche Prüfung im Falle eines religiösen Menschen gesehen wird. Verbreitet ist auch die Sichtweise von Krisen als Chance zur Veränderung. Bezogen auf die eigene Person können Kognitionen z.B. die eigene Motivation beeinflussen. Es kommt hier stark auf das eigene Selbstbild an.

Als dritte Verhaltensebene gibt es noch die Aktivitätshemmung/-verweigerung, welche im großen und ganzen dem entspricht, was wir schon unter Abwehr aufgeführt haben. All diese Verhaltensebenen sind eng miteinander verbunden und nicht voneinander zu trennen, weshalb diese Aufgliederung eine künstliche ist.

Die zeitliche Ausdehnung dieser Prozesse ist stark unterschiedlich und schwer zu definieren. Wie lange Bewältigungsprozesse andauern, ist zum einen abhängig vom jeweiligen Ereignis, von der Situation, in welcher jenes Ereignis auftritt und natürlich von der Person selbst mit seiner Verfassung und seinen Vorerfahrungen.

An dieser Stelle wollen wir auf die Bedeutung von Phasenmodellen des Bewältigungsverhaltens eingehen. Nach Ansicht der Autorin Fillipp, die sich auf Silver & Wortman bezieht, sind diese kritisch zu sehen wegen der extremen individuellen Variabilität von Menschen in den Reaktionen auf solche Ereignisse. Unserer Ansicht nach ist dies eine verkürzte Darstellung, weil sie die wichtige Funktion der Hilfestellung zur Veranschaulichung und Verständnis von menschlichem Verhalten aus dem Blick verliert. Vielmehr kommt es auf diese Aspekte an, statt auf genaueste Übertragung bestimmter Verhaltensmerkmale auf jeden einzelnen Betroffenen. Als Beispiel haben wir an dieser Stelle ein Modell von K ü bler-Ross herausgegriffen, welches sich auf die Auseinandersetzung mit unheilbaren Krankheiten bezieht, die letztendlich zum Tode führen.

Es besteht aus 6 Phasen. Die Phase 1 tritt ein, wenn der Patient erfährt, eine heimtückische Krankheit zu haben. Es ist die Phase des Schocks, des „Nein, nicht ich!“. Die Menschen reagieren verschieden: Für den einen bricht eine Welt zusammen, sein realitätsgerechtes Verhalten gerät außer Kontrolle. Es kommt ein Gefühl des Grauens auf, panischer Schrecken verleitet unter Umständen zu Selbstmordgedanken oder Verzweiflungstaten. Bei anderen herrscht ein Nicht-wahrhabens-wollen vor. Das äußert sich z.B. in erstarrter Gefasstheit und „tapferer“ Beherrschung. Der Schreck ist so groß, dass die Realität noch nicht voll erfasst werden kann. Die gewohnte Lebensweise übernimmt noch eine Weile die Führung des Verhaltens und bildet einen Schutz vor Panik. Die meisten Betroffenen schwanken aber in Stimmungen zwischen Panik und Gefasstheit, oft sogar innerhalb von Stunden oder Minuten. Die Phase 2 ist die des „Warum ich?“. Es bricht ein Sturm von Gefühlen los. Der Betroffene kann dadurch eine seelisch-geistige Läuterung durch Abreagieren von Spannungen erleben. Dieses Abreagieren zeigt sich in Selbstvorwürfen, Beschuldigungen, Aufbegehren, Weinen, Schluchzen, Heulen, Schimpfen usw.. Der Gefühlssturm kann sich aber auch in Formen von Depression äußern: durch sichtbare Niedergeschlagenheit, Grübeln, sich verkriechen, wie gelähmt, versteinert sein, schwarz sehen, ohne Appetit sein, nicht weinen können usw. Depressionen sind ein Zustand ungeäußerter Auflehnung und ungeweinter Tränen. Die Phase 3 ist die des Verhandelns, des „Vielleicht ja doch nicht“. Wenn der Wettlauf mit der Krankheit bereits begonnen hat oder schon voll im Gange ist, treten auch ab und an Tage hoffnungsvoller Zuversicht auf. Der Kranke arbeitet mit, setzt sich Ziele, macht Therapievorschläge, kämpft gegen Krankheitssymptome an und will als anderer Mensch leben, wenn er die Krankheit überwindet. Er sucht geradezu nach jedem Beweis für die vermeintliche Genesung oder den Stillstand der Krankheit. Auf der anderen Seite kann er auch starke Bankrottgefühle zeigen, eine Art „Ausverkauf“.

Die Phase 4 ist die des Erkennens, des „Was bedeutet das für mich?“. Erst jetzt hat der Kranke die Realität seiner Krankheit angenommen, kann sich mit dieser Realität auseinandersetzen, z.B.: Das Testament aufstellen, den Nachlass ordnen, die berufliche Nachfolge regeln, familiäre Angelegenheiten ordnen usw.. Jetzt ist er auch zu neuen Denkund Verhaltensweisen fähig. So können Paare zu neuen Formen der Zärtlichkeit finden. Derselbe Patient kann zeitweise in Trübsinn, Verdüsterung oder Verzweiflung fallen, in der er zu Realitäts- und Trauerarbeit unfähig ist.

Die Phase 5 ist die der Verbindlichkeit, des „Wenn es sein muss, - dann ja!“. Der Kranke betrachte Krankheit und Abschiednehmen als verbindliches Schicksal und nimmt es, wenn auch angstvoll, an. Einerseits kann es sein, dass er aufgibt, resigniert, langsam stirbt. Andererseits ist möglich, dass er sein Leben bis zum Ende mitgestaltet, z.B. seinem hinfälligen Körper große Beachtung schenkt, viele Extras verlangt, Rat und Beistand erbittet, jede medizinische Handreichung dankbar akzeptiert.

Die Phase 6 ist die der offenen Annahme, des „ich will“. In der Phase der offenen Annahme nimmt der Kranke bewusst sein Sterben an. Dies ist für den Begleiter sehr eindrucksvoll. Der Patient strahlt dann menschliche Wärme und Gelassenheit und einen unsagbaren Frieden aus, was sich in dem widerspiegelt, was man als „Heimgehen“ bezeichnet. K ü bler-Ro ß betont zudem, dass die Phasen nicht immer in dieser speziellen Chronologie verlaufen müssen, dass diese eher fließend ineinander übergehen, ein Rückfallen in eine frühere Phase möglich ist, und dass nicht jeder Patient zwangsläufig jede dieser Phasen durchläuft.

Diese recht umfassende Darstellung eines Phasenmodells zeigt die mögliche Vielfalt und Ausdifferenzierung menschlichen Verhaltens in der Auseinandersetzung mit kritischen Lebensereignissen. Es ist kein Zufall, dass gerade dieses Modell u.a. in Lehrbüchern für Altenpfleger auftaucht. Wie schon oben erwähnt, fungiert es zur Hilfestellung für die Praxis von Menschen, die in solchen Zusammenhängen arbeiten, um Einfühlungsvermögen zu erleichtern.

Kommen wir zurück zur Auseinandersetzung mit kritischen Lebensereignissen an sich, dann stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Angemessenheit des Verhaltens. Dies zu bestimmen, erweist sich jedoch häufig als sehr schwierig. Angemessenheit ist nichts faktisch vorgegebenes. Was wir als angemessen betrachten, ist immer auch von unseren eigenen normativen Setzungen abhängig. Diese hängen wiederum mit unseren persönlichen Erfahrungen zusammen, die nicht lückenlos oder gar nicht auf andere übertragbar sind. So mag es für verschiedene Menschen unterschiedlich angemessen erscheinen, ob beispielsweise eine Witwe ihr restliches Leben in Schwarz verbringt oder ein 1 Jahr nach dem Tod ihres Mannes wieder heiratet. Auch Altersnormen spielen hier mit hinein. So spielt es eine Rolle, ob die Witwe 30 oder 60 Jahre alt ist, wie lange sie verheiratet, wie innig die Beziehung war usw.. Man sieht, dass die Angemessenheit von Verhalten jeweils vom konkreten Fall abhängt und vom Betrachter ein gewisses Maß an „Begreifen der Lebenslage“ erfordert.

Es gibt jedoch auch Fälle von objektiv eindeutig unangemessenen Verhalten. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Patient seine Krankheit leugnet und deshalb lebensnotwendige Medikamente nicht einnimmt.

2.5. Effekte der Auseinandersetzung mit und Bewältigung von kritischen Lebensereignissen

Dieser Teil der Ausarbeitung befasst sich mit den Auswirkungen der Auseinandersetzung bzw. Bewältigung allgemein und speziell. Filipp lokalisiert in ihrem Schaubild 3 Ebenen von Effektmerkmalen*1, die jedoch eng miteinander verwoben sind. Sie beziehen sich auf Person, Interaktion und Kontext. Es sind jeweils darunter noch Beispiele von Effekten aufgeführt, auf die wir aber nicht weiter eingehen wollen. Die Autorin bezeichnet sie selbst als willkürlich herausgegriffen, weil der Bereich zu wenig erforscht sei. Die Frage stellt sich, ob solche zutiefst menschlichen Probleme allgemeingültig erforschbar sind und wenn, dann wie? An dieser Stelle gibt es mehrere Ansätze zur Untersuchung im allgemeinen und im speziellen. Man unterscheidet primär ereigniszentrierte und effektzentrierte Zugänge.

Im Falle einer ereigniszentrierten Hervorgehensweise greift man ein bestimmtes Ereignis auf und prüft anschließend, welche Effekte in welchen Bereichen auftreten. Wichtig ist hierbei die Einschränkung der Merkmale von Person, Interaktion und Kontext wegen der Unendlichkeit der grundsätzlichen Möglichkeiten. Man ist also dazu angehalten, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Diese Hervorgehensweise wäre sozusagen eine qualitative Untersuchung von konkreten Einzelfällen und nicht ohne weiteres auf andere übertragbar. Für ein tieferes Begreifen solcher Probleme wäre es jedoch sehr geeignet.

Ein solcher Fall wäre beispielsweise das Ereignis einer durch Unfall erworbenen Behinderung, die sich unmittelbar auswirkt durch Bewegungsbeeinträchtigung durch Lähmung, Verständigungsprobleme aufgrund einer Sprachbehinderung und einer sexuellen Dysfunktion. Nun greift man sich Effektmerkmale heraus, von denen man denkt, dass sie wesentlich von der Behinderung und der Form der Auseinandersetzung mit ihr beeinflusst werden. Dies könnten z.B. sein - die soziale Initiative, die Lebenszufriedenheit und das Selbstwertgefühl. Jetzt untersucht man, wie sich diese im Laufe der Auseinandersetzung mit der Behinderung entwickeln, wozu man diese selbst in den Blick nehmen muss.

Vernachlässigt sich die Person nach dem Ereignis beispielsweise und gibt sich auf, wird man höchstwahrscheinlich eine ungünstige Entwicklung der Effektmerkmale registrieren - die soziale Initiative nimmt ab und die Person isoliert sich zunehmend, die Lebenszufriedenheit hat einen Tiefpunkt erreicht und der Mensch wird sich selbst nicht als wertvoll empfinden, der in seinem Dasein keinen Sinn sieht. Diese negative Entwicklung der Effektmerkmale kann man also in gewisser Weise auf die Art der Auseinandersetzung zurückführen. Umgekehrt kann die Entwicklung in einem anderen Fall auch positiv verlaufen, wenn die Person z.B. Behindertensport betreibt, ärztliche Hilfestellungen annimmt und einen Logopäden aufsucht. Dies sind nach außen gerichtete Verhaltensweisen, zu denen aber auch eine innere Motivation gehört. Man darf diese Auseinandersetzung jedoch nicht als etwas statisches, nicht wandlungsfähiges ansehen. So ist es möglich, dass je nach Erfolg die Motivation, etwas zu tun, zunimmt oder auch abnimmt, dass die Person nach einem Stadium der Aktivität in Resignation verfällt. Auf der anderen Seite kann eine motivationslose, inaktive Person durch ein positives Beispiel dazu ermuntert werden, selbst wieder tätig zu werden.

Eine effektzentrierte Zugangsweise greift ein spezielles Effektmerkmal heraus, z.B. Sterblichkeit. Als nächstes wird dieses in Zusammenhängen untersucht, in denen zwischen dem Ereignis und dem Effektmerkmal eine bestimmte Beziehung vermutet wird. Hierbei handelt es sich meist um relativ normative Ereignisse, wie die Einweisung in ein Altersheim, die bei der derzeitigen demographischen Entwicklung für eine steigende Zahl von Menschen immer wahrscheinlicher wird. Auch die Auswirkungen von Katastrophen oder anderen zeitgeschichtlichen Ereignissen können auf diese Art und Weise untersucht werden. Da es sich hierbei nicht um Einzelfälle, sonder ganze Kohorten handelt, sind die Ergebnisse aus wissenschaftlicher Sicht allgemeingültiger, was vielleicht dem zuvor konstatierten Wissensdefizit Abhilfe leisten könnte. Eine tiefergehende, differenzierte Betrachtung der Problematik ist jedoch auf diese Art und Weise nicht möglich.

Der Zeitaspekt spielt auch eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Untersuchung von Folgen der Auseinandersetzung, was wir weiter oben am individuellen Fall bereits ausgeführt haben. Auch bei effektzentrierten Ansätzen kann eine verkürzte Betrachtungsdauer das Ergebnis u.U. verfälschen. Deshalb sind Längsschnittuntersuchungen auch hier angebrachter. Filipp beklagt wiederholt das Theoriedefizit: Es liegen keine gesicherten Erkenntnisse über die Bewältigung von Ereignissen vor, die über allgemeine und inhaltslose Formen hinausgehen. So bleibt die Notwendigkeit eigener normativer Festlegung der Kriterien von Bewältigung. „So verwendet Rodin(1980) als Kriterium gelungener Intervention im Altenheim die Aktivitätszunahme und legt damit implizit fest, dass ein hohes Aktivationsniveau im Alter als positiver Effekt zu betrachten sei“*1.

3. Schlussteil

3.1. Abschließende Anwendungsimplikationen

Die zwei primären Praxisfelder, in denen eben diese Problematik am stärksten zur Geltung kommt, sind die der Krisenprävention und Krisenintervention, welche oft untrennbar miteinander verbunden sind.

Ein breites Anwendungsgebiet besteht u.a. in der Psychotherapie. Hier wird die Bedeutung von Krisen als Vorläufer psychischer, physischer und psychosomatischer Störungen gesehen, also einen Pathologisierenden Charakter von Krisen annimmt. Ob eine pathologische Neigung schon vor der Krise bestanden hat und diese womöglich erst ausgelöst hat, ist eine schwierige Frage. Ein anderes Anwendungsgebiet ist die Sozialarbeit auf der Straße. Die Streetworker haben es hier vorwiegend mit Menschen zu tun, die ständig in Krisen stecken. Hier gewinnt neben der Intervention die Krisenprävention stark an Bedeutung, weil die Betroffenen durch ihr erlerntes Verhalten oft von einer Krise in die nächste stürzen. Gleichzeitig muss interveniert werden, um beispielsweise Suizidversuche zu verhindern. In beiden Bereichen wirkt sich das starke Wissensdefizit negativ auf die Anwendung aus. Andere, rational schlecht fassbare Fähigkeiten, wie Erfahrung und Einfühlungsvermögen werden hier wichtig. Prävention ist jedoch auch für sich in bezug auf normative Lebenskrisen möglich. Dies betrifft z.B. den Gang in Rente oder Pension, die Einweisung in ein Altenheim etc.. Leute aus dem jeweiligen Bereich, die über viel Erfahrung und Einfühlungsvermögen verfügen, sind dazu notwendig.

Unsere Ausarbeitung hat die Komplexität aufgezeigt, in der sich die Thematik kritischer Lebensereignisse darstellt. Durch eine gewisse Strukturierung erscheint das Problem überschaubarer, jedoch mit Hilfe starker Vereinfachung. Eine weitere Verfolgung der Thematik sollte sich vielleicht mit der Untersuchung konkreter Fallbeispiele beschäftigen, um dabei mehr in die Tiefe zu gehen. Mit diesem Schlusswort wollen wir unsere Ausführungen schließen.

[...]


1 A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit

2 Heinz Jansohn, Johannes Nosbüsch: Der Mensch in Grenzsituationen. Verlag Martin Lurz GmbH, München 1973

3 Otto Friedrich Bollnow: Existenzphilosophie, Stuttgart 1969, S.62

4 Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie, München 1953, S.21

*1 Haan (1977)

*1 Sigrun-Heide Filipp „Kritische Lebensereignisse“ S. 10f.

*1 Sigrun-Heide Filipp, Kritische Lebensereignisse, S. 43

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Kritische Lebensereignisse
Veranstaltung
Seminar
Autor
Jahr
2000
Seiten
16
Katalognummer
V103373
ISBN (eBook)
9783640017515
Dateigröße
371 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kritische, Lebensereignisse, Seminar
Arbeit zitieren
Anke Müller (Autor:in), 2000, Kritische Lebensereignisse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103373

Kommentare

  • Gast am 20.9.2001

    Endlich.

    Hallo Ihr drei. Das trifft sich ja nun wunderbar das ich eure Arbeit gefunden habe. Zumal ich sie sich sehr gut liest und ich manchmal drin wiederfinde.Ich hoffe nämlich das wir uns ein wenig ergänzen können. Da ich nämlich eine ähnliche Arbeit vorhabe. Denn ich bin behinderter Student, der sich genau diese "krtische Lebensereignis" zum Thema macht.So ein wenig ehibitionismus im Studium kann ja von Vorteil sein. Bei mir war es eine ziemlich krasse O.P. vor drei Jahren die mein ganzes Leben total verändert hat. Und zwar völlig. Ich hoffe doch das ich euch ein wenig neugierig machen konnte und ihr meldet euch. bis denn euer David(Hochschule Bremen)

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Titel: Kritische Lebensereignisse



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