Müller, Herta - Reisende auf einem Bein


Referat / Aufsatz (Schule), 2001

2 Seiten


Leseprobe


Herta Müller:

Reisende auf einem Bein

Irene sitzt im Warteraum des Flughafens, schaut sich die Menschen an und wartet, wartet auf Franz, den sie schon lange nicht gesehen hat. Neben dem Ausgang steht ein Mann, der ein Schild vor die Brust hält. Auf dem Schild steht „Irene“. Sie möchte warten, bis diese Frau auf den Mann zugeht, sehen wie die beiden sich begrüßen, wissen, wie diese andere Irene aussieht. Sie schaut aus dem Fenster und beobachtet zwei Männer, die aufeinander zugehen. Dann kommt der Mann mit dem Schild zu ihr. Der Warteraum ist leer. Der Mann heißt Stefan, er soll sie vom Flughafen abholen. Statt Franz. Franz konnte nicht kommen. Die Beschreibung, die Stefan bekommen hat, paßt nicht.

In diesem Augenblick beginnt das neue „Leben“ der dreißigjährigen Irene. Irene, das ist eine Frau, die aus dem anderen Land kommt und endlich die Ausreise in den Westen Deutschlands bewilligt bekommen hat. Der Diktator aus dem anderen Land ist nun fern, verbirgt sich aber in ihrem Herzen und reißt hier und da ihre Gedanken an sich. Sich selber hat Irene vor langer Zeit im anderen Land verloren. Wenn sie in den Spiegel sieht, dann sieht sie nicht sich selber, sondern eine andere Irene, die fremde Irene, die Irene, die so ganz anderes ist als die Irene tief drinnen. Auch Franz, den sie als betrunkenen Touristen im anderen Land kennen gelernt und mit dem sie damals geschlafen hatte, ist weit weg. Auch er schafft es, Irenes Gedanken an sich zu reißen, ist aber eigentlich nur ein Gedanken unter vielen in Irenes Kopf - wenn auch ein wichtiger. Franz ist Student, einige Jahre jünger als Irene und lebt in Marburg. Die beiden führen eine Art Beziehung, finden aber nie wirklich zu einander, sind nicht fähig ihr Inneres zu ergründen, sich zu verstehen und sich alles zu geben. Diese Erfüllung findet Irene in Thomas, einem schwulen, arbeitslosen und geschiedenen Familienvater, der zwischendurch in seinem Schwulsein Ausnahmen macht. Für einen Moment wird auch Irene eine dieser Ausnahmen - körperlich, nicht geistig. Irene und Thomas, das sind zwei Menschen die in der Lage sind tiefgründige Gedanken und Gefühle miteinander auszutauschen und sich wirklich zu verstehen. Stefan, der sie im neuen Land empfangen hatte, spielt dagegen „nur“ die Rolle eines Kumpels und die des Verbindungsstückes zwischen Irene und den anderen. Er ist ein Freund von Franz‘ Schwester und ebenfalls einer von Thomas.

Eine tatsächliche Handlung findet in dem Roman allerdings kaum statt: Irene lernt Franz im anderen Land kennen, reist bald darauf nach Westberlin aus. Dort freundet sie sich erst mit Stefan und dann mit Thomas an. Franz und sie besuchen sich zwischendurch gegenseitig und verstehen sich eigentlich nie wirklich. In dem Roman „Reisende auf einem Bein“ dreht es sich viel mehr um die Gedanken und Gefühle einer Frau, die vor einem Diktator aus dem anderem Land geflüchtet ist und eigentlich gerettet sein müßte. Die Wirklichkeit sieht allerdings ein wenig anders aus: Mit einem Bein ist Irene zwar gerettet, sicher in Deutschland, in ihrem neuem Leben. Mit dem anderen Bein ist sie verloren, noch dort, wo sie her kam, nicht mehr sie selbst, anscheinend identitätslos. Sie macht sich über alles und jeden Gedanken und zeigt die Dinge von ihrer ganz persönlichen, von Melancholie geprägten Seite. Ihre Gefühle spiegeln sich durch ihre Gedanken wieder, wirken nicht nur melancholisch, sondern auch abgestumpft und in sich gekehrt - sie ist weder tot noch lebendig. Teilweise versucht sie ihre Lebendigkeit wieder zu entdecken, hatte zum Beispiel im anderen Land ein Ritual mit einem Mann, der sie allabendlich als Masturbationsvorlage am Strand benutzte. Irene genoß diese Prozedur auf eine Weise, wird traurig als der Mann sich nach zweitägigem Ausbleiben ihrerseits eine neue „Vorlage“ gesucht hat. Sie hatte sich gesehen und „gebraucht“ gefühlt.

Die neunzehn Kapitel des Buches sind alle recht kurzgehalten (ca. 9 Seiten lang) und lediglich mit Nummern überschrieben. Die Sprache stellt ihren Anspruch nicht an das Allgemeinwissen des Lesers und dessen Umgang mit komplizierten Begriffen, sondern vielmehr an seinen Verstand und seine Auffassungsgabe. Der Text ist aus einfachen einzeln leicht zu verstehenden Worten zusammengesetzt, muß aber als Ganzes stetig hinterfragt und analysiert werden, um ein richtiges Verständnis der wirren Gedanken in Irenes Kopf zu sicherzustellen. Dialoge wurden nicht gesondert gekennzeichnet und bilden somit mit dem Text eine Einheit. Die Intention der Autorin ist anscheinend eine Generalisierung der Situation. Nicht wer spricht ist wichtig, nicht wie „der Diktator“ oder „das andere Land“ heißen, sondern der Inhalt, die Situation. Dies erklärt auch die Numerierung der einzelnen Kapitel. Es wird nicht über eine bestimmte Person berichtet, die dieses Schicksal erlitten hat, sondern über tausende, denen gleiches widerfahren ist und immer noch widerfährt. Irene ist stellvertretende Sprecherin dieser Personen und spiegelt ihre Gedanken, Ängste und Gefühle wieder. Eine dieser Personen, die sich in Irene wiederfinden läßt, ist die Autorin Herta Müller. Geboren als Teil einer deutschsprachigen Minderheit in Rumänien, erlebte sie nahezu das gleiche Schicksal wie die Protagonistin in ihrem Buch. In Herta Müllers Lebensgeschichte trägt der Diktator den Namen Caeusescu. Nach ihrem Studium der Germanistik und Romanistik arbeitete sie zunächst als Lehrerin, wurde aber aufgrund einer Zusammenarbeitsverweigerung mit der Rumänischen Geheimpolizei aus dem Schuldienst entlassen. Seit 1984 ist sie freie Schriftstellerin, konnte ihre Leidenschaft aber unter dem für sie in Rumänien verhängtem Arbeits- und Publikationsverbot nicht ausleben. Im März 1987 reist sie, wie Irene, nach West-Berlin aus, fühlt sich dort bis zum Tode Caeusecus im Jahre 1989 (er wurde gestürzt und gemeinsam mit seiner Frau hingerichtet) nie wirklich zuhause - Deutschland war Exilland. Nicht mehr und nicht weniger. Aus Angst vor der Macht des Diktators bricht sie jeglichen Kontakt zu ihren Freunden ab, um diesen nicht zu schaden. Ein Gutes hat die Ausreise nach West- Berlin allerdings doch: Sie kann ungehindert schreiben und ihren Gedanken freien Lauf lassen. Noch vor dem Sturz des Diktators beginnt sie gegen das Vergessen der Verbrechen unter seinem Regime zu schreiben und thematisiert in ihren Büchern die existentielle Bedrohung des Menschen durch totalitäre Systeme. Ihr erstes Buch „Reisende auf einem Bein“ spiegelt ihre persönlichen Erlebnisse wieder. Weitere Bücher folgen in kurzem Abstand (1992: „Der Fuchs war damals schon der Jäger“, 1993: „Der Wächter nimmt seinen Kamm, Vom Weggehen und Ausscheren“, 1993: „Niederungen“, 1994: „Herztier“, 1995: „Hunger und Seide. Essays“, 1995: „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“, 1995: „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“, 2000: „Im Haarknoten wohnt eine Dame“). Einige der Titel lassen auf eine Themenverwandtschaft zu ihrem ersten Buch „Reisende auf einem Bein“ schließen. Die Thematik ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft und verlangt nach immer wieder neuen Büchern. Wie auch die Bücher über die NS-Zeit scheinen diese Bücher die Leser zu faszinieren und in ihnen den Wunsch nach mehr Informationen und Schicksalserzählungen zu wecken. So ist es kaum verwunderlich, daß Herta Müller nicht nur viele Bücher geschrieben, sondern auch viele Preise für ihre Werke erhalten hat (1987: „Ricarda-Huch-Preis der Stadt Darmstadt“, 1989: Marieluise- Fleisser-Preis der Stadt Ingolstadt“, 1990: „Roswitha-Gedenkmedallie der Stadt Bad Gandersheim“, 1991: „Kranichstreiner Literaturpreis“, 1992: „Kritikerpreis (Sparte Literatur) des SWF, Baden-Baden“, 1994: „Kleist-Preis“, 1995: „Europäischer Literaturpreis Aristeion, Stadtschreiberin von Bergen- Enkheim, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“, 1998: „Impac Dublin Award für den Roman „Herztier““, 1998: „Ida-Dehmel-Literaturpreis des Verbandes der Künstlerinnen und Kunstfreunde (Gedok) in Hamburg“).

Herta Müllers „Reisende auf einem Bein“ ist ein Buch, das Gedanken vermittelt und zu eigenen Gedanken anregt. Es ist ein Buch für Leute, die ihren Anspruchsschwerpunkt nicht auf eine einfache, leicht zu lesende Handlung legen, sondern gewillt sind hinter das Geschriebene zu blicken und es zu verstehen. An Handlung hat der Roman zwar äußerst wenig zu bieten, aber dafür liegt ein unheimlich breites Spektrum an Gedankengängen und Auseinandersetzungen mit dem Alltag und Nichtalltäglichem vor. Menschen, die sich eine leichte und angenehme Bettlektüre wünschen, sollten deshalb lieber auf ein anderes Buch zurückgreifen. Obwohl sich das Buch nicht einfach so herunterlesen läßt, sondern eventuell mehrmals gelesen werden muß, ist es trotzdem sehr angenehm zu lesen. Irenes Gedanken sind nicht besonders ausgefallenen und beschäftigen sich mit ihrem Alltag. Auch wenn Irene eine Person ist, die unter der Herrschaft eines Diktators zu leiden hatte und eine Vorgeschichte hat, die für uns keinesfalls alltäglich ist, so findet sich doch jeder Mensch ein Stück weit in ihr und ihren Gedanken wieder. Auch finde ich es wichtig, daß die Menschen wissen, was um sie herum, in anderen Ländern, früher wie heute, vorgeht und was für Konsequenzen diese Vorgänge haben. Egal, ob es sich hierbei um die NS -Zeit, oder die Herrschaft des Diktators Ceausescu in Rumänien handelt. Das Lesen hilft uns die Vorgänge, die Menschen und letztendlich uns selbst besser zu verstehen und regt zum Nachdenken an. Und dieses kommt in einer Zeit voll mit Massen anspruchsloser „Literatur“ und Medienkonsum oft zu kurz.

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Details

Titel
Müller, Herta - Reisende auf einem Bein
Autor
Jahr
2001
Seiten
2
Katalognummer
V103160
ISBN (eBook)
9783640015399
Dateigröße
328 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Müller, Herta, Reisende, Bein
Arbeit zitieren
Christine Schroder (Autor:in), 2001, Müller, Herta - Reisende auf einem Bein, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103160

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