Spätlegasthenie und Analphabetismus


Examensarbeit, 2002

148 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zur Zitierweised

0. Einleitung

1. Spätlegasthenie und Analphabetismus in der Bundesrepublik Deutschland
1.1. Definitionen
1.1.1. Analphabetismus
1.1.2. Spätlegasthenie
1.2. Größenordnungen des Analphabetismus
1.3. Zu den Ursachen von Lese- und Rechtschreib- schwierigkeiten im Jugendlichen- und Erwachsenen- alter
1.3.1. Medizinisch-pathologische Sichtweisen zur Verursachung von Lese- und Schreibschwierigkeiten – Kognitive Lern- voraussetzungen, Teilleistungsschwächen und konstitutionelle Bedingungen
1.3.2. Ungünstige Sozialisationsbedingungen als Ursachen für Lese- und Schreibschwierigkeiten – Biografische Ursachenforschung
1.4. Zur Bedeutung und den Folgen des funktionalen Analphabetismus für die Betroffenen

2. Schriftspracherwerb – Voraussetzungen und Entwicklung
2.1. Voraussetzungen zum Schriftspracherwerb
2.1.1. Metalinguistische Bewusstheit
2.1.2. Verbo-sensomotorische Voraussetzungen
2.2. Entwicklungsmodelle des Schriftspracherwerbs
2.2.1. Stufenmodelle zur Entwicklung des Schriftspracherwerbs
2.2.2. Das Mehrebenenmodell des Schriftspracherwerbs

3. Konzepte zur Alphabetisierung – Methoden zum Erwerb und zur Förderung von Schrift- sprachkompetenzen
3.1. Die analytisch-synthetische Lese-Schreib-Lehr- und Lernmethode
3.2. Ganzheitlich analytische und synthetische Lese- Schreib-Lehr- und Lernmethoden
3.3. „Lesen durch Schreiben“ – Die Umkehrmethode von Jürgen Reichen
3.4. Die Morphemmethode
3.5. Der Spracherfahrungsansatz
3.6. Der Fähigkeitenansatz
3.7. Die Computer-unterstützte Rechtschreibförderung

4. Lese-Rechtschreibförderung in der forensischen Psychiatrie – Zur Entstehung, Planung und Durchführung einer Alpha- betisierungsmaßnahme
4.1. Die Entstehungsphase
4.2. Umfeldanalyse
4.3. Diagnostische Maßnahmen zur Ermittlung der Lernvoraussetzungen und des Lernstandes
4.3.1. Auswahl der Diagnostika zur Ermittlung der Lernvoraussetzungen und des Lernstandes
4.3.2. Kriterien zur Analyse der Schriftsprach- Kompetenzen
4.3.3. Darstellung der Untersuchungsergebnisse
4.4. Zur Kursgestaltung.
4.4.1. Exkurs: Die „Lautgetreue Rechtschreibförderung“ von Reuter Liehr
4.4.2. Durchführung einer Kurssequenz zum Fehlerschwerpunkt Konsonantendopplung
4.4.3. Lernen mit der Rechtschreibkartei
4.4.4. Übungen zur Sicherung der Lernvoraussetzungen
4.5. Zwischenbilanz
4.6. Ausblick

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang

Untersuchung von SCHENK-DANZINGER

Eidesstattliche Erklärung

Zur Zitierweise

Damit der Lesefluss nicht unnötig gestört wird, habe ich mich für die Fußnoten- kennzeichnung entschieden. Die Zählung beginnt zum Anfang jedes Kapitels mit der Ziffer 1, damit die Zahlen nicht unüberschaubare Ausmaße annehmen. In der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit sind die Fußnoten nur auf der jeweiligen Seite von Bedeutung, auf der sich der Leser gerade befindet. In gleicher Weise wird mit den Nummerierungen aller Abbildungen und Tabellen verfahren.

Die Kurzbelege, derer ich mich bei der Ausweisung der Quellen bediene, beinhal- ten die notwendigen Informationen, um die ausgewiesenen Autoren im Literatur- verzeichnis rasch auffinden zu können. In letzterem ist die Literatur voll belegt und alphabetisch nach den Nachnamen der Autoren geordnet. Die Literatur ein und desselben Autors ist nach dem Erscheinungsjahr sortiert.

Da es keine Namenszwillinge unter den zu Rate gezogenen Autoren gibt, habe ich im Kurzbeleg völlig auf die Vornamen verzichtet (z.B. Kretschmann: 1990, S. 45). Entsprechend dem zuvor in Klammern aufgeführten Beispiel werden sämtliche Zitate auf ihren Urheber zurückgeführt. Den Kurzbelegen zu sinngemäß über- nommenen Inhalten wird die Abkürzung „vgl.“ (vergleiche) vorangestellt. Folgen Zitate und/oder sinngemäße Inhaltsübernahmen ein und desselben Autors unmit- telbar aufeinander, wird nur im ersten Kurzbeleg der Name und das Erscheinungs- jahr aufgeführt. Diese werden in den folgenden durch „ebd.“ (ebenda) ersetzt. Der erste Kurzbeleg auf einer neuen Seite beinhaltet aber immer den Autorennamen und das Erscheinungsjahr. Weitere verwendete Abkürzungen sind der Übersicht auf der nächsten Seite zu entnehmen.

Mehrfachbelege werden durch ein Simikokolon (;) voneinander getrennt. Ebenso wird mit Randbemerkungen verfahren, die sich auf ein Zitat oder eine sinngemäße Wiedergabe beziehen. Sonstige Randbemerkungen und Zusatzinformationen werden unter einer eigenen Fußnote angeführt. Ich habe kein Abbildungs- bzw. Tabellenverzeichnis erstellt, da die jeweiligen Quellen vor Ort in Kurzbelegform nachgewiesen werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Übersicht 1: Zitierabkürzungen

1. Einleitung

Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten wurden lange Zeit nur im Zusammenhang mit dem schulischen Schriftspracherwerb betrachtet. Entsprechend umfangreich ist die Literatur, die sich mit den Ursachen und Fördermöglichkeiten bei Schulkin- dern auseinandersetzt.

Erst in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurden sich die euro- päischen Industriestaaten der Tatsache bewusst, dass die Fähigkeiten Lesen und Schreiben auch in der jugendlichen und erwachsenen Bevölkerung keine Selbst- verständlichkeit sind, dass das Problem Analphabetismus nicht mehr nur kenn- zeichnend ist für die Länder aus der sogenannten dritten Welt. Die erste Konse- quenz aus dieser Erkenntnis war die Erforschung der Ursachen für den „neuen“ Analphabetismus. Vor allem ging es zunächst darum, wie es dazu kommen konnte und wer oder was daran schuld ist, dass es Jugendliche und Erwachsene mit un- zureichenden Schriftsprachfertigkeiten gibt.

Praktische Konsquenzen hatte die neue Situation im Rahmen der Bildungarbeit an bundesdeutschen Volkshochschulen. Die gestiegene Nachfrage an Rechtschreib- kursen machte es erforderlich, sich über die Organisation und die Gestaltung ent- sprechender Maßnahmen völlig neue Gedanken zu machen. Den Volkshochschu- len und ihren Mitarbeitern kommt im Rahmen der Konzeption und Durchführung von Alphabetisierungsmaßnahmen eine Pionierrolle zu. Im Gegensatz dazu scheint der Analphabetismus in der Erziehungswissenschaft auch heute noch kein verbreitetes Forschungsthema zu sein.

Zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Komplex der Lese- und Recht- schreibschwierigkeiten im Jugendlichen- und Erwachsenenalter wurde ich durch die mir gegebene Möglichkeit zur Gestaltung einer Alphabetisierungsmaßnahme angeregt. In diesem Zusammenhang stellten sich mir verschiedene Fragen, deren Beantwortung Gegenstand der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit ist.

Im Mittelpunkt des ersten Kapitels steht die Beantwortung grundlegender Fragen zur Problematik Analphabetismus und Spätlegasthenie in der Bundesrepublik Deutschland. Die wissenschaftliche Literatur zur Thematik zeichnet sich durch die Vielfalt der in ihr verwendeten Fachtermini aus. Es muss zunächst geklärt werden, was die Autoren z.B. unter den Begriffen „Analphabetismus“, „funktionaler Anal- phabetismus“, „sekundärer Analphabetismus“ usw. verstehen. Die Ansichten dazu sind so vielfältig, wie die Definition, mit deren Hilfe versucht wird, Jugendliche und Erwachsene mit Schriftsprachschwierigkeiten zu kategorisieren.

Die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Alphabetisierung sowie deren Umfang lässt sich nur ermessen, wenn man eine Vorstellung über die Größenordnung von Jugendlichen- und Erwachsenen mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten hat. Da es in diesem Zusammenhang keine repräsentativen Untersuchungsergebnisse gibt, werden Zahlenangaben aus den unterschiedlichsten Quellen herangezogen und miteinander verglichen, damit es zumindest möglich ist, sich einen grundle- genden Eindruck über das Ausmaß der Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten im Jugendlichen- und Erwachsenenalter zu verschaffen.

Die Frage nach den Ursachen für Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten stellen sich Forscher und Autoren nicht erst seit der „Wiederentdeckung“ des Analphabe- tismus. Es wird sich seit den Anfangsjahren der Legasthenieforschung im frühen zwanzigsten Jahrhundert bis heute darüber gestritten, wer bzw. was schuld daran ist, dass Schüler Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb haben und warum Ju- gendliche und Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben können, obwohl sie eine Schule besucht haben. Die Auseinandersetzung mit den Bedingungen, die ursächlich an der Entstehung von Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb betei- ligt sind, bildet die Grundlage für eine erfolgversprechende Alphabetisierungsar- beit. Vor allem im Bereich der Prävention von Analphabetismus sind entsprechen- de Kenntnisse notwendig.

Warum muss man eigentlich lesen und schreiben können? Die Frage kann sehr unterschiedlich beantwortet werden, je nach dem, aus welcher Perspektive das Problem Analphabetismus betrachtet wird, aus der des Staates oder aus der der Betroffenen. Tatsache ist, dass der Staat erst auf Probleme, wie den Analphabe- tismus, aufmerksam wird, wenn „das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist“. Er klagt über den niedrigen Bildungsstandard seiner Bevölkerung, den er für den aus- bleibenden wirtschaftlichen Aufschwung verantwortlich macht. Personen, die sich

sich für einen Alphabetisierungskurs anmelden, wissen sehr genau, was es be- deutet, nicht richtig lesen und schreiben zu können. Sie haben vielfach erfahren müssen, dass sie aufgrund ihrer Schriftsprachschwierigkeiten benachteiligt oder ausgegrenzt werden, dass sie sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr durchsetzen können und in der Folge ihre Existenz bedroht ist.

Im zweiten Kapitel werden zunächst die Voraussetzungen näher betrachtet, die für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb notwendig sind. Es wird dabei speziell auf die individuellen Voraussetzungen der Lerner eingegangen. Diese stehen in einem direkten Zusammenhang mit den Ursachen für Lese- und Rechtschreibschwierig- keiten, sowohl im Kindes- als auch im Jugendlichen- und Erwachsenenalter.

Weiter werden Entwicklungsmodelle vorgestellt, die den Prozess des Schrift- spracherwerbs beschreiben. Dabei muss zwischen Modellen unterschieden wer- den, die den primären Schriftspracherwerbsprozess widerspiegeln und denen, die dem Lernprozess Jugendlicher und Erwachsener eher gerecht werden.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage nach Konzepten und Methoden, die für das Vorgehen im Rahmen von Alphabetisierungsmaßnahmen geeignet sind. Es werden unterschiedliche Vorgehensweisen vorgestellt und im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit bei der Gestaltung des Schriftspracherwerbsprozesses Ju- gendlicher und Erwachsener mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten überprüft.

Das vierte Kapitel ist dem zentralen Gegenstand dieser Arbeit gewidmet, der Pla- nung und Durchführung eines Alphabetisierungskurses mit Patienten der Forensi- chen Psychiatrie des Klinikums „St. Georg“ in Leipzig. Zunächst werde ich auf die Entstehungsphase des Projektes eingehen. Es ist im Rahmen einer Umfeldanaly- se notwendig, die Einrichtung näher vorzustellen, da es sich bei ihr um eine juristi- sche Verwahrungseinrichtung handelt und sich daraus einige Besonderheiten im Zusammenhang mit der Durchführung eines Alphabetisierungskurses ergeben. Unter dem nächsten Punkt wird auf die diagnostischen Maßnahmen eingegangen, die im Vorfeld des Kurses mit den potentiellen Teilnehmern zur Erhebung der Vor- aussetzungen für den Schriftspracherwerb und des Lernstandes durchgeführt worden sind. In diesem Zusammenhang begründe ich die Auswahl der Diagnosti- ka und gehe auf die Analysekriterien ein, die der Auswertung des Diagnostikmate- rials zugrunde gelegt wurden. Am Beispiel eines Kursteilnehmers werde ich die Ergebnisse der Untersuchung darstellen. Anschließend soll anhand einer ausge- wählten Kurssequenz das methodische Vorgehen bei der Durchführung des Kur- ses beschrieben werden. Weiter werden verschiedene Materialien vorgestellt, die im Verlauf der Maßnahme zum Einsatz gekommen sind.

2. Spätlegasthenie und Analphabetismus in der Bundes- republik Deutschland

2.1. Definitionen

2.1.1. Analphabetismus

Der Analphabetismus, im weitestgehenden Sinne die Unkenntnis von Buchstaben, ist weit zurückverfolgbar. In früheren Jahrhunderten hatten nur sehr wenige Men- schen die Möglichkeit, das Alphabet und damit das Lesen und Schreiben zu erler- nen. Diese Fähigkeiten und anderes Wissen waren lange Zeit einer Elite vorbe- halten, die sich nicht zuletzt dadurch ihren Stand über dem einfachen Volk be- wahrte.

Es gibt Überlieferungen aus dem Hochmittelalter (13. Jahrhundert), dass sogar dem höheren Stand angehörige nicht der Schriftsprache mächtig waren. So konn- ten wahrscheinlich auch Könige, wie z.B. Karl der Große, weder lesen noch schreiben. An einer Stelle heißt es: „Die Ritter, überhaupt die Männer der höfi-

schen Gesellschaft, können in aller Regel nicht lesen ... ; die adligen Damen der höfischen Gesellschaft können meist lesen.“[1]

Erst ab dem 17. Jahrhundert breitete sich die Schrift langsam aus: „In Sachsen- Gotha wurde 1642, in Würtemberg 1649, in Brandenburg 1662, in Preußen 1717 und 1736 die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Jedoch bestand damit weder die Absicht, sie wirklich auf alle auszudehnen, auch wenn sie nicht nur für Städte,

sondern auch für Flecken und Dörfer vorgeschrieben wurde, noch wurde der an- gekündigte Zweck tatsächlich durchgesetzt und erreicht.“[2] Schätzungen besagen,

„dass im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland 25 Prozent der Kinder zur Schule gingen und noch nicht einmal 10 Prozent lesen und schreiben lernten ...“[3]. Zumin- dest in bestimmten gesellschaftlichen Positionen nahm die Alphabetisierung all-

mählich zu: „Das Analphabetentum war unter den Inhabern öffentlicher Ämter im

17. Jahrhundert noch weiter verbreitet, als es in Anbetracht des Aufkommens ei- ner deutschsprachigen merkantilistischen Literatur im zentralisierten Verwaltungs- staat erwünscht und tragbar war. ... In Lübeck beschwerten sich 1668 die Amts- brüder, dass keiner der fünf Älterleute lesen und schreiben könne, ‚welches doch in ihrem Ambt nothwendig wäre’.“[4]

Im einfachen Volk war es noch lange Zeit üblich, mit den bekannten drei Kreuzen

(XXX) zu unterschreiben. Nur wenige Leute konnten ihren Namen schreiben, wel- che bis ins 19. Jahrhundert hinein mit dieser Fähigkeit bereits als alphabetisiert galten.

Erst Angaben über die Größenordnung des Analphabetismus im Preußen des späten 19. Jahrhunderts zeugen vom Sieg der Schrift: „Der Anteil der Analphabe- ten bei Rekruten ging von 6,1% im Jahre 1863 auf 0,8% im Jahre 1890 zurück und 1871 konnten in Preußen 10% der eheschließenden Männer und 15% der e- heschließenden Frauen nicht mit ihrem Namen unterschreiben. 1899 war dieser Anteil auf jeweils 1% zurückgegangen. ... Offiziell gilt das Analphabetentum in Deutschland seit spätestens 1912 als beseitigt. In diesem Jahr wurde die letzte Erhebung durchgeführt. Sie ergab einen Anteil von 0,01% bis 0,02% Analphabe- ten.“[5]

Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ging man davon aus, den Anal- phabetismus ausgerottet zu haben. Erst in dieser Zeit wurde man wieder auf das

„alte“ Problem aufmerksam: „Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts meldeten sich vermehrt Erwachsene für Rechtschreibkurse der Volkshochschulen an, Erwachsene, die über äußerst geringe Kenntnisse im Lesen und Schreiben verfügten. ... Ging man zunächst von wenigen Einzelfällen aus, stellte sich alsbald heraus, dass für diese Personengruppe ein gesondertes Bildungsangebot ge- schaffen werden musste: Alphabetisierungskurse.“[6]

Zwischen dem „neuen“ Analphabetismus und dem der vorangegangenen Jahr- hunderte besteht ein entscheidender Unterschied. Die Analphabeten des Mittelal- ters konnten aufgrund des fehlenden Schulbesuchs nicht lesen und schreiben. Dieser „natürliche Analphabetismus“ sollte in unserer Gesellschaft, in der Schul- pflicht besteht, die Ausnahme bestätigen. Tatsächlich ist der Anteil sogenannter

„totaler Analphabeten“ in Deutschland sehr gering. Fast jeder Mensch wird heute zumindest dazu in der Lage sein, sich z.B. einen Burger bei „McDonalds“ oder

„Burger King“ zu bestellen oder sich eine „Coca Cola“ aus dem Supermarktregal zu nehmen. Signalwörter sind in unserem multimedialen und von Werbung ausge- füllten Umfeld allgegenwärtig. Auch wird jeder, der wenigstens im Erstlese- und Schreibunterricht einige Male anwesend war oder auf andere Weise grundlegende schriftsprachliche Erfahrungen sammeln konnte, ein paar Buchstaben des deut- schen Alphabets kennengelernt haben.

Für Menschen, die trotz Schulbesuchs oder anderweitig erlernter Schriftsprachfer- tigkeiten große Schwierigkeiten mit dem Lesen und/oder dem Schreiben haben, hat sich der Begriff des „funktionalen Analphabetismus“ etabliert.

GRISSEMANN[7] unterscheidet fünf Varianten/Perspektiven zur Definition von funk- tionalem Analphabetismus:

- linguistische Definitionen, welche hinsichtlich vorhandener schriftsprachli- cher Fähigkeiten unterscheiden,
- gesellschaftlich-kommunikationstheoretische Definitionen, die sich auf die Möglichkeit zur aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beziehen,
- anthropologisch-psychologische Definitionen, welche Bezug nehmen auf die Behinderung des Selbstseins und der Selbstäußerung,
- sozialpsychologische Prozessdefinitionen, deren Inhalt Stigmatisierungs- und Etikettierungsprozesse sind,
- curriculare Definitionen, welche die schriftsprachlichen Leistungen einer Schuljahresstufe als Kriterium für das Vorhandensein eines funktionalen Analphabetismus heranziehen.

Er selbst definiert den funktionalen Analphabetismus als einen „Zustand Schulent- lassener, der gekennzeichnet ist durch einen grundlegenden Mangel an verbal- kognitiven Fähigkeiten, um durch Lesen und Schreiben sich in der Umwelt effektiv verhalten zu können.“[8] Damit wird er seiner Ansicht gerecht, dass linguistische und gesellschaftlich-kommunikationstheoretische Definitionen zueinander in Be- ziehung stehen und nur in der gesellschaftsbezogenen Relativität des funktionalen Analphabetismus verstanden werden dürfen[9].

In diese Kategorie gehört auch die 1979 von der UNESCO festgelegte Definition, nach welcher diejenige Person als funktionaler Analphabet bezeichnet wird, „die sich nicht beteiligen kann an all den zielgerichteten Aktivitäten ihrer Gruppe und Gemeinschaft, bei denen Lesen, Schreiben und Rechnen erforderlich ist und an der weiteren Nutzung dieser Kulturtechniken für ihre weitere Entwicklung und die

ihrer Gemeinschaft“[10].

Die Erwähnung des Rechnens in der Definition rührt daher, dass im englischspra- chigen Raum Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen unter dem Beg- riff „iliteracy“ zusammengefasst werden. Eingedeutscht, „Iliteralität“, wird dieser Begriff auch im deutschsprachigen Raum alternativ zum Begriff Analphabetismus verwendet.

DRECOLL[11] stellte im Rahmen seiner Arbeit mit funktionalen Analphabeten fest: Es „meldet sich bei Maßnahmen, die ausdrücklich für Erwachsene angeboten werden, die ‚nicht lesen und schreiben können’ bzw. das ‚Lesen und Schreiben von Anfang an’ lernen wollen,

- neben einem völlig Lese – Schreibunkundigen, der aller Erfahrungen nach ein paar Buchstaben und Signalwörter erkennt und Name und Adresse ‚schreiben’ kann,
- mindestens ein weiterer, der das Prinzip des Lesens durchaus erkannt hat, dem es aber bei sprachlich nicht mehr ganz einfachem, aber durchaus übli- chem Material, wie Zeitungen u.ä. bereits an Sinnverständnis und Fertigkeit mangelt,
- und es meldet sich schließlich ein dritter, der seine Lesefähigkeit anwenden kann, aber das Schreiben sowohl formal als auch im freien Entwurf so we- nig beherrscht, dass er sich praktisch seiner nicht bedienen kann.“

Seiner Definition zufolge bedeutet „Funktionaler Analphabetismus [...] die Unter- schreitung der gesellschaftlichen Mindestanforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache, deren Erfüllung Voraussetzung ist zur sozial streng kontrollierten

Teilnahme an schriftlicher Kommunikation in allen Arbeits- und Lebensberei- chen“[12].

Gerade die Festlegung der von DRECOLL erwähnten Mindestanforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache ist ein zentrales Problem in der Diskussion um die Frage, wer denn nun als funktionaler Analphabet zu gelten habe:

„Als Bestimmungsgröße für jene Minimalschwelle treffen sich zum einen die tech- nisch-ökonomische Entwicklung als objektive Grundlage für gesellschaftliche Kommunikationsprozesse, zum anderen aber auch ideelle Bewertungsprozesse, mittels derer sich ein je historisch konkreter Konsens darüber einpendelt, was als

‚bürgerliche Mündigkeit bzw. Unmündigkeit’ zu gelten habe.“[13]

Entsprechend hält HUBERTUS den funktionalen Analphabetismus für einen relati- ven Begriff, „der erst bei Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Anforderungen innerhalb einer Gruppe und Gemeinschaft an Schärfe gewinnt“ [14]. Wenn die „indi- viduellen Kenntnisse und Fähigkeiten niedriger sind als die erforderlichen und als selbstverständlich vorausgesetzten, liegt funktionaler Analphabetismus vor.“[15] Dem definitorischen Problem bei der Eingrenzung der Mindestanforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache begegnet GIESE[16] dadurch, dass er diejeni- gen Analphabeten nennt, welche Lese- und Schreibanforderungen nicht erfüllen können, wie sie für den Hauptschulabschluss vorgesehen sind. Damit liefert er eine linguistisch - curriculare Definition. GIESE[17] unterscheidet fünf Gruppen von Analphabeten:

„Gruppe 1: völlige Analphabeten, die allenfalls ihren Namen schreiben und einzel- ne Buchstaben identifizieren können.

Gruppe 2: Analphabeten, die über rudimentäre Grundkenntnisse verfügen. Sie kennen eine Reihe von Buchstaben, sie wissen, dass Buchstaben Lautwerte rep- räsentieren, sie können Einzelwörter lesen.

Gruppe 3: Analphabeten, die über rudimentäre Lesefähigkeiten verfügen, aber nicht schreiben können. In dieser Gruppe ist das Prinzip der Laut-Schrift- Zuordnung verstanden worden, kann aber nur für eine stockende Lesetechnik he- rangezogen werden; einige Wörter können aus dem Gedächtnis heraus geschrie- ben werden.

Gruppe 4: Lese-Schreib-Fähige mit gravierenden Schwierigkeiten. Die dieser Gruppe Zuzuordnenden können mit geringen Schwierigkeiten lesen, aber kaum schreiben. Wichtige Phänomene der deutschen Schrift-Laut-Zuordnung (Dehnung, Schärfung, Auslautverhärtung u.s.w.) werden nicht beherrscht. Es bestehen große Schwierigkeiten in der kognitiven Konstruktion von niederzuschreibenden Texten. Gruppe 5: Lese-Schreib-Fähige mit spezifischen Schwierigkeiten in der Orthogra- phie, der Interpunktion und der Textkonstruktion.“

Die Beschreibung der in Gruppe 5 eingeordneten Personen halte ich für kritisch, da keine Aussage über die Ausprägung der spezifischen Schwierigkeiten gemacht wird, nach denen jemand als Analphabet zu gelten habe. Ist man bereits Analpha- bet aufgrund einer Unsicherheit bei der Kommasetzung? Wenn dem so wäre, be- stünde fast die gesamte Bevölkerung aus Analphabeten.

Linguistische und anthropologisch-psychologische Betrachtungsweisen vereint DÖBERT-NAUERT in ihrer Definition: „Als funktionale Analphabeten werden [...] diejenigen bezeichnet, die aufgrund unzureichender Beherrschung der Schrift- sprache und/oder aufgrund der Vermeidung schriftsprachlicher Eigenaktivitäten nicht in der Lage sind, Schriftsprache für sich im Alltag zu nutzen.“[18] Demnach verhalten sich auch Personen, die trotz vorhandener Schriftsprachkompetenz An- forderungssituationen vermeiden, in denen ihre schriftsprachlichen Fertigkeiten benötigt werden, wie funktionale Analphabeten.

Ein anderer, alternativ zum funktionalen Analphabetismus verwendeter Begriff ist der des „sekundären Analphabetismus“, „obwohl damit verschiedene Inhalte ver- bunden sind. Sekundärer Analphabetismus liegt vor, wenn nach mehr oder weni- ger erfolgreichem Erwerb der Schriftsprache während der Schulzeit in späteren Jahren ein Prozess des Verlernens einsetzt und Kenntnisse und Fähigkeiten ver- loren gehen, wodurch ein Unterschreiten des gesellschaftlich bestimmten Min- deststandards eintritt. Damit ist der sekundäre Analphabetismus ein Sonderfall des funktionalen Analphabetismus“[19].

2.1.2. Spätlegasthenie

Den Begriff „Spätlegasthenie“, wie er im Titel dieser Examensarbeit benutzt wird, habe ich trotz umfänglicher Recherche nur in einer Literaturquelle explizit wieder- gefunden. Man könnte aus dieser Tatsache schlussfolgern, dass der Begriff von geringer Relevanz im Rahmen der Beschreibung von Lese- und Rechtschreib- schwierigkeiten im Jugendlichen und Erwachsenenalter sei. Das dem nicht so ist, möchte ich im folgenden beweisen.

Dem Wortlaut entsprechend beschreibt das Phänomen eine „späte Legasthenie“. Dies mag seltsam erscheinen, da es sich bei der Legasthenie um eine bereits bei Schulkindern im Rahmen des Schriftspracherwerbs der Primarstufe diagnostizierte Lese-Rechtschreibschwäche mit dem Charakter einer Teilleistungsstörung, also bei sonst durchschnittlichen Schulleistungen und im durchschnittlichen Bereich liegender Intelligenz handelt. Demnach kann es sich bei der Spätlegasthenie nicht um eine erst im Jugendlichen- oder Erwachsenenalter aufgetretene Legasthenie handeln. Es muss also einen Zusammenhang zwischen Legasthenie in der Schule und Analphabetismus nach der Schule geben.

KAMPER[20] und TYMISTER[21] haben unter Bezugnahme auf das Teilleistungskon- zept einer Legasthenie bei Teilnehmern von verschiedenen Alphabetisierungskur- sen das Fehlen elementarer Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb festge- stellt. Solche Voraussetzungen sind z.B. Differenzierungsleistungen auf der opti- schen, akustischen und artikulatorischen Ebene[22]. Die Spätlegasthenie beschreibt also eher den Umstand einer (zu) spät als Legasthenie erkannten Lese- Rechtschreibschwäche. Jugendliche und Erwachsene, die aus dieser Tatsache heraus oder aufgrund inadäquater oder nicht erfolgter Förderung auch nach ihrer Schulzeit grundlegende Schwierigkeiten im Lesen und/oder Schreiben haben und infolge dessen nicht an gesellschaftlich-kommunikativen Prozessen partizipieren können, fallen meiner Meinung nach ebenfalls in die Kategorie der funktionalen

Analphabeten[23]. Nicht nur aus diesem Grund werde ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit die Begriffe „funktionaler Analphabetismus“ und „Lese- Rechtschreibschwierigkeiten“ bevorzugen.

Ausgehend von der gesellschaftlich-kommunikationstheoretischen Dimension des funktionalen Analphabetismus kann dieser als ein „Extremfall der Lese- Rechtschreib-Schwäche und der Legasthenie“[24] angesehen werden. Ich teile nicht die Ansicht, dass der funktionale Analphabetismus eine Variante der Spätlegast- henie ist[25]. Wenn dem so wäre, müssten alle funktionalen Analphabeten Legast- heniker sein. Genau dieses kann nur eine Vermutung sein, da in der Regel nicht mehr feststellbar ist, ob allgemeine Lernschwierigkeiten, wie sie oft einen funktio- nalen Analphabetismus begleiten, primär auf eine Legasthenie zurückzuführen sind. Zur Unterscheidung der Begriffe „Analphabetismus“ und „Spätlegasthenie“ möchte ich folgendes Zitat anführen: „Sowohl Analphabetismus als auch Legast- henie (im linguistischen Sinn) bezeichnet die Unfähigkeit, schriftsprachlich zu kommunizieren. Der Terminus Analphabetismus wird in der Regel nur auf erwach- sene bzw. nicht mehr schulpflichtige Personen angewendet, bezeichnet also ein Resultat, während der Begriff Legasthenie bei Kindern verwendet wird, die am Beginn des (schulischen) Schriftspracherwerbs stehen. Man muss heute da- von ausgehen, dass ein großer Teil der Analphabeten erwachsene Legastheni- ker sind“[26].

1.2. Größenordnungen des Analphabetismus

Tatsache ist, dass es in einer hochindustrialisierten Gesellschaft wie der Bundes- republik Deutschland eine nicht unbeträchtliche Zahl an funktionalen Analphabe- ten gibt. Da es bis jetzt an repräsentativen Erhebungen zum Ausmaß des funktio- nalen Analphabetismus mangelt, ist es nicht möglich, genaue Zahlenangaben zur Problematik zu machen.

Tageszeitungen und andere der breiten Masse der Bevölkerung zugängliche In- formationsmedien berichten von Analphabetenzahlen, die bei einer Höhe von z.B. 600.000, 4.000.000 oder sogar 11.000.000 liegen[27].

Die veröffentlichten Zahlen basieren in der Regel auf Schätzungen, Hochrechnun- gen und Vermutungen verschiedener Institutionen, die ein sehr unterschiedlich ausgeprägtes Interesse an der Erforschung des Problems Analphabetismus ha- ben. Die quantitative Darstellung des funktionalen Analphabetismus wird zum ei- nen dadurch verfälscht, dass die in der Alphabetisierung Tätigen die Zahlen in die

Höhe treiben, um Aufmerksamkeit für ihre Arbeit zu erzielen und den Betroffenen zu besseren Lernangeboten zu verhelfen[28]. Zum anderen versuchen Bildungspoli- tiker, die Schule als Alphabetisierungsinstitution in Schutz zu nehmen, indem sie die Zahl der Lese- und Schreibschwachen zu niedrig ansetzen[29].

Es muss bemerkt werden, dass das Engagement der in der Alphabetisierungspra- xis Tätigen das Ziel verfolgt, dem funktionalen Analphabetismus zu allgemeiner Beachtung, auch auf bildungspolitischer Seite zu verhelfen und bessere Bedin- gungen für ihre Arbeit und die Betroffenen zu schaffen. Paradox ist die Tatsache, dass sich die Bildungspolitik dem funktionalen Analphabetismus verschließt, an dessen Entstehung sie einen nicht als gering anzusehenden Beitrag leistet. Kön- nen wir es uns leisten, einem Problem wie dem funktionalen Analphabetismus mit Scheuklappen entgegenzutreten, nur um unser Ansehen im internationalen Ver- gleich zu bewahren und nicht zugeben zu müssen, dass unser Bildungssystem antiquiert ist, dass die Schulbedingungen und die Lehrerausbildung nicht dazu

beitragen, einem Großteil der Schüler elementare Fähigkeiten, wie das Lesen und Schreiben zu lehren? – Nein!

Die Bemühung um eine objektive Herangehensweise hat positive Konsequenzen sowohl für die Verringerung als auch die Prävention von funktionalem Analphabe- tismus. Dazu brauchen wir möglichst genaue Zahlen, wir brauchen sie nicht, um abwägen zu können, ob Veränderungen lohnenswert sind.

Ein Eindruck zur Notwendigkeit von Alphabetisierungsmaßnahmen lässt sich über die Teilnehmerzahlen in Volkshochschulkursen u.a. gewinnen. Entsprechende Erhebungen erfüllen ihren Zweck beim Ausbau von Weiterbildungsmaßnahmen für Analphabeten. Sie liefern Hinweise über den Umfang des erforderlichen Kurs- angebots von Volkshochschulen und anderen Weiterbildungsträgern. Bei den Teilnehmern an Alphabetisierungsmaßnahmen handelt es sich in der Regel um Personen, die freiwillig und aus unterschiedlichsten Gründen ihre Schriftsprach- kompetenz verbessern wollen. Alle anderen funktionalen Analphabeten können nicht direkt erfasst werden, da sie im Verborgenen bleiben. Die Dunkelziffern ü- berschreiten ein Vielfaches der an Weiterbildungskursen teilnehmenden Analpha- beten.

Laut einer Erhebung im April des Jahres 1994 boten zu diesem Zeitpunkt 334 In- stitutionen, davon 71 in den neuen Bundesländern, Alphabetisierungskurse für deutsche Teilnehmer an[30]. In den insgesamt 1.040 Kursen wurden 8.069 Teilneh- merInnen unterrichtet[31].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1: Teilnehmer an Alphabetisierungskursen im April 1994. aus Weishaupt: 1996, S. 39

Es wurde festgestellt, dass in den Alphabetisierungskursen, sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern ein Übergewicht der männlichen Teilneh- menden besteht:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 2: Anteil der weiblichen Teilnehmenden an Alphabetisierungskursen. aus Weishaupt: 1996, S. 45

Interessant ist die altersmäßige Verteilung unter den TeilnehmerInnen. Die am häufigsten vertretene Altersgruppe waren die 25-34jährigen, nur etwa 1/5 der Teil- nehmenden waren unter 25 Jahre und mehr als 1/3 war über 35 Jahre alt[32].

Die Erhebung lässt auch Vermutungen zum Zusammenhang zwischen funktiona- lem Analphabetismus und der sozialen bzw. beruflichen Stellung der Kursteilneh- mer zu:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 3: Anteil der Teilnehmenden an Alphabetisierungskursen nach beruflicher und sozialer Stellung (in Prozent). aus Weishaupt: 1996, S. 46

Besonders häufig nehmen ungelernte Industriearbeiter, Hausfrauen und Arbeitslo- se Alphabetisierungsmaßnahmen wahr. „Bedeutsam ist noch die Gruppe der sonstigen mit 27%, die sich fast ausnahmslos aus Schülern, Auszubildenden, Rentnern und vor allem Behinderten zusammensetzt.“[33]

KRETSCHMANN[34] kritisiert, dass sich offizielle Angaben zur Größenordung des Analphabetismus oft ausschließlich auf Erwachsene beziehen. Dadurch werden diejenigen von Analphabetismus bedrohten Jugendlichen und Analphabeten nicht mit erfasst, die noch der allgemeinen oder der Berufsschulpflicht unterliegen.

Ein weiteres Problem bei der Ermittlung der Analphabetenrate ist ein definitori- sches[35]. Es muss für jede Untersuchung zuvor geklärt werden, wer denn eigentlich als funktionaler Analphabet gilt[36]. Zutreffendere Zahlen ergeben sich aus Schät- zungen und empirischen Untersuchungen, die den Schulbesuch der Betroffenen berücksichtigen und dabei gleichzeitig die lese- und schreibschwachen Jugendli- chen mit erfassen[37]. Dafür muss sich an Definitionen orientiert werden, die z.B. den Hauptschulabschluss als Kriterium der Alphabetisierung von Jugendlichen und Erwachsenen heranziehen.

Laut KMK und Statistischem Bundesamt wurden im Schuljahr 1984/85 9,1% aller Schüler der alten Bundesländer ohne Hauptschulabschluss entlassen[38]. Davon waren wiederum 3% Entlassschüler der Schule für Lernbehinderte bei einer Rate von 4% an insgesamt entlassenen Sonderschülern. KRETSCHMANN[39] geht da- von aus, dass nicht alle Schüler ohne Hauptschulabschluss auch funktionale An- alphabeten sind, etwa die Hälfte wäre realistisch, also 4-5% aller Schulabgänger.

Auch LÖFFLER[40] orientiert sich an Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes, nach welchen am Ende des Schuljahres 1994/95 von insgesamt 861.669 entlassen Schülern in ganz Deutschland 76.005 (= 8,82%) ohne Hauptschulabschluss waren. Sie setzt voraus, „dass die meisten Schüler ohne Hauptschulabschluss Schwierigkeiten im Fach Deutsch haben“[41], und man bei mindestens der Hälfte von ihnen sehr geringe Lese- und Rechtschreibfähigkeiten vermuten kann. Um die Werte mit den Ergebnissen der Hamburger Lesestudie aus dem Jahr 1991 vergleichen zu können, nach welcher etwa 1,4% der Achtklässler (an Regelschulen) von funktionalem Analphabetismus bedroht sind, errechnet sie durch Abzug der entlassenen Sonderschüler einen Prozentsatz von 5,48 an Schulentlassenen ohne Abschluss für das Schuljahr 1994/95 und halbiert diesen Wert[42]. Da Sonderschulabgänger zum größten Teil eine Lernbehindertenschule besucht haben und nur ein geringer Teil aufgrund schwerer Behinderungen irrelevant für die Forschung zum Analphabetismus ist, muss von wesentlich mehr Schulentlassenen ausgegangenen werden, die von funktionalem Analphabetismus bedroht sind[43].

LÖFFLER[44] schlussfolgert, dass bereits etwa 1,5-3% aller Schulabgänger, das wären nach dem Schuljahr 1994/95 ungefähr 30.000, ohne ausreichende Schrift- sprachkenntnisse die Schule verlassen haben und potentiell funktionale Analpha- beten sind.

FÜSSENICH[45] hält es ebenfalls für „wahrscheinlich“, dass ein großer Teil der Schüler ohne Schulabschluss „zu den funktionalen Analphabeten“ gehören: „Um das Ausmaß an Analphabetismus und mangelnder elementarer Bildung zu verste- hen, finde ich die Daten des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung 1996 beeindruckend: Jährlich verlassen 70.000 Schüler/innen ohne Schu- labschluß die Schule, dies sind ungefähr 8,6 Prozent aller Schüler/innen eines Jahrgangs“

Nach dem Schuljahr 1999/2000 haben laut Statistischem Bundesamt[46] von insge- samt 938.000 Schulabgängern 86.600, das sind 9,2%, die Schule ohne Haupt- schulabschluss verlassen. Nimmt man, der Vermutung LÖFFLERs folgend und unter Berücksichtigung der Sonderschulabgänger, für 1,5-3% aller Schulabgänger an, dass sie nicht über ausreichende Schriftsprachkompetenzen verfügen, so wa- ren am Ende des Schuljahres 1999/2000 wieder ca. 30.000 Schulabgänger von funktionalem Analphabetismus bedroht.

Interessant ist diese Herangehensweise im Hinblick auf die Gesamtzahl der Anal- phabeten in Deutschland. Es haben in den Schuljahren 1991 bis 2000 im Mittel 8,7% aller Schulentlassenen die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen[47]. Geht man von einer relativen Konstanz des Prozentsatzes an Schulentlassenen ohne Hauptschulabschluss für den Zeitraum von der Gründung beider deutscher Staaten bis heute sowie von einer Gesamtzahl an Schulentlassenen von etwa

800.000 pro Jahr aus und legt, die Sonderschulabgänger einbeziehend, einen Prozentsatz von 1,5-3 an Lese-Schreibschwachen zugrunde, so verfügen heute ca. 1,3 Millionen aller lebenden Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland

über unzureichende Schriftsprachkompetenzen und müssen als funktionale Anal- phabeten gelten[48].

Ausgehend von allen Personen, die im Jahr 2000 über 20 und nicht über 65 Jahre alt waren und somit als Schulabgänger seit der Gründung der deutschen Staaten gelten können, wären bei angesetzten 3% von 51.162.000 Erwachsenen in Deutschland bis zu 1,5 Millionen funktionale Analphabeten[49]. Mit dem geringeren Prozentsatz (1,5) rechnend ergibt sich eine Mindestzahl an funktionalen Analpha- beten von 767.430. Die als wahrscheinlich anzusehende Größenordnung bewegt sich vermutlich zwischen 0,7 und 2 Millionen Bundesbürgern, da sowohl die 15- 19jährigen als auch die über 65 Jahre alten Menschen nicht unbeachtet bleiben dürfen. Damit bewegt sich meine Vermutung im Bereich der Schätzung durch die UNESCO, nach welcher 0,75-3% der über 15jährigen Deutschen funktionale An- alphabeten sind[50].

Größtenteils völlig unbeachtet bleibt in der Literatur der funktionale Analphabetis- mus in Justizvollzugsanstalten (JVA) und anderen juristischen Verwahrungsein- richtungen. Gerade dort ist der Prozentsatz derjenigen, die über unzureichende Schriftsprachkompetenzen verfügen, besonders hoch. Analog zu den multikausa- len Ansätzen der Verursachung von Analphabetismus, handelt es sich bei den inhaftierten Lese-Schreib-Schwachen „um einen Personenkreis mit extrem un- günstigen Sozialisationsverläufen“[51]. Die größte Gruppe der Einsitzenden, die funktionalen Analphabeten eingeschlossen, hat überdurchschnittlich häufig die Haupt- oder Sonderschule entweder sehr kurz, mit Unterbrechungen und/oder vorzeitig verlassen[52]. Zwar beziehen sich die Erkenntnisse auf die Situation zu Beginn der 80er Jahre, sie können aber aufgrund meiner Erfahrungen aus Ge- sprächen mit inhaftierten Analphabeten und mit Personen, die für die Betreuung der Einsitzenden verantwortlich sind, auch für die heutige Zeit bestätigt werden. Justizvollzugsanstalten sind aufgrund dieser Tatsache auch ein „Ballungszentrum“ für funktionale Analphabeten.

Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von Bil- dungsdefiziten und erhöhter Straf- bzw. Rückfälligkeit[53]. Mit dem Ziel einer erfolg- reichen Resozialisierung findet deshalb im deutschen Strafvollzug seit den 70er Jahren eine veränderte Bildungsarbeit statt. Im Zuge der Entstehung von umfas- senden Lernangeboten für Straffällige wurden erstmalig lese- und schreibunkundi- ge Erwachsene in größerer Zahl ausgemacht[54]. Damalige Schätzungen gehen von

23 Prozent Voll-Analphabeten sowie 10-15 Prozent funktionalen Analphabeten aus[55]. Man stellte demnach für fast die Hälfte aller Inhaftierten fest, dass sie über unzureichende Lese-Schreib-Fertigkeiten verfügten.

Bis heute dominieren abschlussbezogene Maßnahmen (Schulabschluss, Lehre, u.a.), die vielen Inhaftierten dazu verhelfen können, im Arbeitsleben und damit in der Gesellschaft wieder oder erstmalig Fuß zu fassen. Durch das vordergründige Nachholen beruflicher und schulischer Abschlüsse werden aber zum Teil die ele- mentaren Fähigkeiten, wie das Lesen und Schreiben, vernachlässigt. Auch hat die Alphabetisierungsarbeit in den Vollzugsanstalten nicht im notwendigen Maße Ein- zug gehalten, da es in einigen Einrichtungen an geeigneten institutionellen, räum- lichen und personellen Voraussetzungen mangelt. So sind die Vollzugsanstalten oft von einer Zusammenarbeit mit anderen Institutionen abhängig, z.B. Volkshoch- schulen u.a.

In die bundesweite Erhebung der Teilnehmer an Alphabetisierungsmaßnahmen im Jahr 1994 (siehe oben) bezog man auch die Justizvollzugsanstalten ein. Dabei wurden 38 Einrichtungen erfasst, in denen 39 Kurse mit insgesamt 198 Teilneh- mern stattfanden[56]. Im Vergleich zu den alten Bundesländern, wo bereits zwei drit- tel der erfassten Justizvollzugsanstalten Alphabetisierungsmaßnahmen durchführ- ten, wurde in den neuen Bundesländern nur für 41% der Einrichtungen die Exis- tenz entsprechender Maßnahmen ermittelt[57]:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 4: Alphabetisierungskurse für Deutsche. TeilnehmerInnenzahl. aus Weishaupt: 1996, S. 53

Es kann festgestellt werden, dass zum größten Teil die jüngeren Inhaftierten an Alphabetisierungskursen teilnahmen. Dies liegt zum einen an der Überrepräsentie- rung junger Menschen in den Justizvollzugsanstalten. Zum anderen ist im Sinne der Resozialisierungsarbeit gerade für diesen Anteil der inhaftierten funktionalen Analphabeten eine elementare und weiterführende Förderung der Schriftsprach- kompetenzen besonders wichtig, um an abschlussbezogenen Maßnahmen teil- nehmen zu können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 5: Teilnehmer an Alphabetisierungskursen für Deutsche in JVA nach Altersgruppen (in Prozent). aus Weishaupt: 1996, S. 56

Einen eher ungeplanten Einfluss auf die Diskussion über das Ausmaß des Anal- phabetismus hatte die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland „an der interna- tionalen OECD-Vergleichsstudie (IALS) über Grad und Verteilung elementarer Grundqualifikation Erwachsener“[58] in den Jahren 1993-1995. An dieser Studie nahmen 23.000 Personen aus acht Staaten im Alter zwischen 16 und 65 Jahren teil[59], mit deren Hilfe die Frage „nach dem tatsächlichen Profil grundlegender Le- se- und Rechenfertigkeiten, das die Basis für die Teilhabe des Einzelnen am ge- sellschaftlichen Leben darstellt“[60], beantwortet werden sollte.

Den Anlass zur Diskussion der Analphabetenzahlen lieferten die Ergebnisse zur Untersuchung des Leseverständnisses. Man fand heraus, dass 14,4% der teil- nehmenden Deutschen höchstens die niedrigste Stufe im Leseverständnis von Prosatexten, wie z.B. Zeitungsartikeln, Verbraucherhinweisen u.a., erreichten[61].

Es muss berücksichtigt werden, dass in der Studie überhaupt keine Menschen ohne Lesefähigkeiten erfasst wurden, man also davon ausgehen muss, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung nur über ein elementares Leseverständnis verfügt und nicht dazu in der Lage ist, mehrere Informationen integrativ zu nutzen, wie es zur Lösung der Aufgaben von Level 3 erforderlich war[62]. Hinzu kommt die Tatsache, dass 18,4% der im Vorfeld der Studie angesprochenen Personen ihre Teilnahme

ausdrücklich verweigerten sowie weitere 13,4% zunächst zwar zusagten, dann aber aus unterschiedlichen Gründen nicht an der Studie teilnahmen[63]. Die Ergeb- nisse der Voruntersuchung mit zahlreichen Hintergrundinformationen über die

„Verweigerer“ führten zu der Annahme, dass es sich bei diesen um Personen mit großen Leseschwierigkeiten, also funktionale Analphabeten handele[64].

Kritik wird an der Studie auch hinsichtlich der Tatsache geübt, dass nur die Lese- fähigkeit erfasst und somit überbewertet wurde, denn aus der Alphabetisierungs- praxis ist bekannt, dass funktionale Analphabeten eher Schreib- als Leseschwie- rigkeiten haben[65]. Man kann davon ausgehen, „dass eine kleinere Zahl von Er- wachsenen gibt, die funktionale Lese-Analphabeten genannt werden können. [...] Es gibt aber eine zweite weitaus größere Anzahl von funktionalen Schreib- Analphabeten. Jene verfügen über eine Lesekompetenz, die in zahlreichen Anfor- derungssituationen ausreichend ist. [...] Ihr Problem ist vor allem das Schreiben“[66]. Außerdem schloss die Studie Personen aus, die sich in Krankenhäusern, Gefäng- nissen, Kasernen u.a. befanden, sowie geistig und körperlich behinderte, die Tex- te nicht lesen oder nicht in das Testheft schreiben konnten[67].

Man kann nicht von einer repräsentativen Studie sprechen und über die Größen- ordnung des Analphabetismus macht die Untersuchung überhaupt keine ver- wendbaren Aussagen, was auch nicht ihr Anliegen war. Die Ergebnisse weisen aber auf einen Missstand in unserer Gesellschaft hin und fordern die Bildungspoli- tik zum Handeln auf.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 6: OECD-Studie. Prosa-Schriftunkundigkeit: Geschätzte Verteilung der Bevölkerung nach Ländern, Level 1 bis Level 4/5 (s.e.: Standardisierter Erhebungsfehler). aus TUIJNMAN: 1998, S. 62; Hervorhebun- gen durch Sven Mihlan

1.3. Zu den Ursachen von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten im Jugendlichen- und Erwachsenenalter

Die Ansichten zu den Ursachen von Lese- und Schreibschwierigkeiten und deren Erforschung korrelieren mit der Entwicklungsgeschichte der Definitionen, die diese Phänomene beschreiben und kategorisieren wollen. Entsprechend der Definiti- onsvielfalt verteilen sich die Ursachenzuschreibungen über ein breites Spektrum. Bis in die heutige Zeit besteht keine Einigkeit innerhalb der zu dieser Thematik Forschenden und der in der Bildungspraxis Tätigen darüber, welche Bedingungen ursächlich an der Entstehung von Problemen im Schriftspracherwerb beteiligt sind.

Für manche sind Lese- und Schreibschwierigkeiten Ausdruck der Chancen- ungleichheit in unserem Gesellschaftssystem, für andere sind sie die Folge von Teilleistungsstörungen, spezifischen Begabungsmängeln, die möglicherweise eine genetische Ursache haben[68]. Auch das Versagen des Schulsystems wird von ei- nigen als wesentliche Ursache von Lese- und Schreibschwierigkeiten angesehen. KLICPERA und andere[69] stellen fest, „dass sowohl das Schulsystem wie die Pä- dagogik als Wissenschaft die Ursachen von Schulschwierigkeiten immer häufiger in konstitutionell begründeten, mangelnden Lernvoraussetzungen der Kinder se- hen und die sozial-politischen Ursachen dabei weitgehend aus dem Blickfeld ver- lieren“.

Es ist mein Anliegen, im Sinne einer multikausalen Betrachtungsweise, verschie- dene Ansichten zur Verursachung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten im Ju- gendlichen- und Erwachsenenalter in die Darstellungen einzubeziehen.

Folgende Verursachungskomplexe spielen nach ROMBERG[70] bei der Entstehung

von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten eine Rolle:

- individuell-pathologische Faktoren
- individuell-psychologische Faktoren
- schulische Faktoren
- soziale Faktoren
- familiäre Faktoren
- berufliche Faktoren

Es ist schwer, diese Verursachungskomplexe losgelöst voneinander zu betrach- ten, da sie in einem direkten Zusammenhang stehen. Ein Umstand bedingt den anderen, dazu ein vereinfachtes Beispiel: Problemen beim Lesen- und Schreiben- lernen während der Grundschulzeit, denen von pädagogischer Seite aus nicht an- gemessen fördernd begegnet wurde, führen zu schriftsprachlichen Misserfolgen über die Schulzeit hinaus bis ins Erwachsenenalter. Das dadurch unter Umstän- den „angeknackste“ Selbstbewusstsein kann diese Personen davon abhalten, sich schriftsprachlichen Anforderungssituationen zu stellen. Sie werden zu Außensei- tern unserer auf Kommunikation aufbauenden Gesellschaft.

Es sollte an dieser Stelle auch erwähnt werden, dass im Zuge der Anti- Legastheniebewegung in den späten 70er und am Anfang der 80er Jahre die Er- forschung der Ursachen von Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten von einigen Autoren abgelehnt und nicht weiter verfolgt wurde[71]. Dies scheint mir aber nicht im Sinne einer Prävention oder der Überwindung von Schriftsprachproblemen zu sein, da erst das Wissen über unterschiedliche Verursachungsbedingungen eine gezielte und erfolgversprechende Förderung ermöglicht.

1.3.1. Medizinisch-pathologische Sichtweisen zur Verursachung von Lese- und Schreibschwierigkeiten - Kognitive Lern- voraussetzungen, Teilleistungsschwächen und konstituti- onelle Bedingungen

In den Komplex der medizinisch-pathologischen Faktoren gehören alle defekt- und defizitorientierten Sichtweisen zur Verursachung von Lese-Rechtschreib- Schwierigkeiten. Diese Sichtweisen haben ihren Ursprung in der Erforschung me- dizinischer Phänomene gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Damals wurden Erwachsene registriert, die infolge einer Hirnverletzung bei intak- ter Sehfähigkeit gravierende Schwierigkeiten beim Erkennen von Buchstaben und Wörtern hatten. Diese Symptomatik wurde zurückgeführt auf eine Störung des visuellen Gedächtnisses[72].

Im Jahre 1877 übersetzte Adolph Kussmaul, ein deutscher Internist, den psychiat- risch-neurologischen Terminus Alexie mit Wortblindheit[73]. Unter diesem Begriff wurden auch Kinder zusammengefasst, die eine normale Schule besuchen konn- ten, aber trotzdem nicht das Lesen und Schreiben erlernten. Die „Wortblindheit“ dieser Kinder galt damals als angeborene Krankheit.

Von dieser Ansicht wurden auch die frühen Legasthenieforscher zu Beginn des

20. Jahrhunderts beeinflusst, die an der medizinisch orientierten Festlegung der Ursachen (Ätiologie) für Lese-Rechtschreibschwierigkeiten festhielten. Lese- schwächen brachte man damals in den Zusammenhang mit mangelnder Intelli- genz, weshalb „Legastheniker“ in Hilfsschulen überwiesen wurden[74]. RANSCHBURG[75] unterschied 1928 zwischen einer „eigentlichen infantilen Lese- blindheit“ und einer „eigentlichen Lese- und Schreibschwäche (Legasthenie)“. Den ersten, sehr seltenen Fall, hielt er für einen isolierten Defekt, verursacht durch physiologische oder anatomische Abweichungen in der Großhirnrinde. Dagegen sei die Legasthenie ein relativ häufiges Versagen geringen Schweregrades, das bei allen Intelligenzgraden auftreten kann.

Erst LINDER[76] definierte 1951 die Legasthenie als „eine spezielle, aus dem Rah- men der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und indi- rekt auch des selbständigen, fehlerfreien Schreibens) bei sonst intakter oder – im Verhältnis zur Lesefertigkeit – relativ guter Intelligenz“. Damit konnte die Legast- henie als Spezialfall der Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht mehr mit „Dummheit“ in Zusammenhang gebracht werden. Die Schüler bei denen eine mindestens durchschnittliche Intelligenz „gemessen“ werden konnte, wurden nun nicht mehr in Hilfsschulen überwiesen. Sie galten aber weiterhin als Defektträger.

Aufgrund der Einsicht, dass allgemeine Minderbegabung und Hirnschädigungen nicht die naheliegendste Erklärung für Lese- und Schreibschwierigkeiten sind, sol- che Schwierigkeiten also auch bei Kindern mit durchschnittlicher Intelligenz auftre- ten, suchte man nach speziellen Begabungsmängeln, die heute als Teilleistungs- schwächen bezeichnet werden[77].

Seit den 80er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts werden Lese- und Schreib- schwierigkeiten bei Kindern mit durchschnittlicher Intelligenz von vielen als Folge solcher Teilleistungsschwächen aufgefasst, „d.h. als Folge von Schwächen in speziellen Begabungsbereichen, die eine Voraussetzung für das Lesen- und Schreibenlernen darstellen“[78]. An anderer Stelle versteht man unter den soge- nannten „Teilleistungsschwächen“ oder auch „Teilleistungsstörungen“ einen Kom- plex von verschiedenen Symptomen, bei denen es sich um „Funktionsschwächen“ der Wahrnehmung, der Sprache, der Motorik u.a. handelt[79].

Laut KLICPERA und anderen[80] ist das Konzept der Teilleistungsschwächen „so einleuchtend, dass wir geneigt sind, seine impliziten Voraussetzungen zu überse- hen“. Sie verweisen auf neuere kognitionstheorethische Modelle, nach welchen die Informationsverarbeitung beim Menschen nicht mehr horizontal in verschiede- ne Prozesse aufgespalten wird, wie Wahrnehmung, Gedächtnis usw[81]. Vielmehr gibt es spezialisierte und eng miteinander gekoppelte Verarbeitungssysteme, die für bestimmte Bereiche zuständig, also vertikal gegliedert sind, wie zum Beispiel für die Sprachverarbeitung. Damit beruhe das Lesen als kulturell vermittelte Tätig- keit auf einer basalen, angeborenen Anlage des Menschen und baue auf noch basaleren Teilleistungen auf. Erst mit der Zeit bilde sich eine Automatisierung und damit eine Unabhängigkeit verschiedener Teilbereiche und Fertigkeiten heraus.

KLICPERA und andere[82] sehen als mögliche Ursachen für Lese- und Schreib- schwierigkeiten eine allgemeine phonologische Verarbeitungsschwäche sowie Schwächen in der phonologischen Bewusstheit.

Einem Großteil der Lese- und rechtschreibschwachen Kinder fällt es besonders schwer, beim Lesen die Grapheme in Phoneme zu rekodieren und umgekehrt die Phoneme in Grapheme beim Rechtschreiben. Betroffen ist demnach die Einsicht in den Phonemaufbau der Sprache und damit die Fähigkeit zur Analyse der Pho- nemfolge.

Ausgehend von den Informationsverarbeitungsmodellen müssten die beschriebe- nen Verarbeitungsschwächen auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein, wes- halb folgenden Verarbeitungsstufen besondere Bedeutung zukommt[83]:

- die Ebene der auditiven Analyse und Diskrimination
- die Ebene des phonologischen Zwischenspeichers, der die analysierten bzw. aus dem inneren Lexikon abgerufenen Informationen über die Aus- sprache der Wörter bis zur weiteren Bearbeitung aktiv halten soll
- die Umwandlung der phonologischen Informationen in Artikulationspro- gramme

Aus verschiedenen Untersuchungsergebnissen schlussfolgernd führen KLICPERA und andere[84] die folgenden Phänomene als Beweis für eine phonologische Verar- beitungsschwäche und gleichzeitig als Ursache für Schwierigkeiten bei der Ausbil- dung der phonologischen Bewusstheit an:

- Schwierigkeiten bei der Aussprache komplexer Wörter und geringe artikulatorische Geläufigkeit
- Schwierigkeiten bei der Diskrimination ähnlicher Phoneme
- Schwierigkeiten beim Bildbenennen bzw. beim Abruf der korrekten Aus- sprache eines Wortes
- Beeinträchtigung des verbalen Kurzzeitgedächtnisses

Als weitere Ursachen für Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten müssen häufige und lang andauernde Krankheiten von Lernern sowie schwere geistige Behinderungen genannt werden, die das Erlernen der Schriftsprache beeinträchtigen oder verhin- dern können.

Blinde Menschen haben zwar keinen Zugang zu „unserer“ Schriftsprache, sie be- sitzen mit der Braille-Schrift aber eine mindestens gleichwertige schriftsprachliche Kommunikationsform. Auch beim Erlernen der Braille-Schrift können Lese- Rechtschreib-Schwierigkeiten mit den zuvor aufgeführten und weiter unten folgen- den Ursachen auftreten. Die Blindheit selbst darf also nicht generell als Ursache von Schriftsprachunkundigkeit angesehen werden.

Es lassen sich folgende medizinisch-pathologische Faktoren für die Verursachung von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten sowohl im Kindes-, im Jugendlichen- und im Erwachsenenalter zusammenfassen:

- angeborene Minderbegabungen (geistige Behinderung, Lernbehinderung[85] )
- organische Verletzungen und Fehlfunktionen (Hirn-, Augen- und Sehner- venverletzungen, Weitsichtigkeit u.a.)
- auf die basalen Teilleistungen für den Schriftspracherwerb bezogene hirn- organische „Funktionsschwächen“ (optische, akustische und artikulatori- sche Wahrnehmungsschwächen, Sprachstörungen, motorische Beeinträch- tigungen u.a.)
- den Lese-Schreib-Lernprozess behindernde häufige und lang andauernde Erkrankungen

1.3.2. Ungünstige Sozialisationsbedingungen als Ursachen für Lese- und Schreibschwierigkeiten – Biografische Ursa- chenforschung

Viele in der Alphabetisierungspraxis Tätige lehnen medizinisch-konstitutionelle Erklärungsansätze für Lese- und Schreibschwierigkeiten ab. Aufgrund ihrer Erfah- rungen aus der Arbeit mit Analphabeten und vieler Gespräche, die sie mit Betrof- fenen geführt haben, sehen sie vor allem in den Sozialisationsbedingungen die Ursachen für die Entstehung von Schriftsprachproblemen und funktionalem Anal- phabetismus.

Zum Zwecke der Erforschung negativ auf den Schriftspracherwerb wirkender So- zialisationsbedingungen haben sich verschiedene Autoren mit den Biografien von funktionalen Analphabeten auseinandergesetzt[86]. Allen biografisch orientierten Ansätzen ist gemein, dass sie nicht den schwierigen Lese- und Schreiblernpro- zess als Auslöser für den Leidensprozesses der Betroffenen sehen, sondern dass die biografischen Umstände und Zusammenhänge bestimmte Lernprozesse nega- tiv beeinflussen.

EGLOFF[87] hat in Gesprächen mit Analphabeten herausgefunden, dass bestimmte Bedingungsfaktoren bereits in der Kindheit, besonders vor dem Schuleintritt, für ungünstige Sozialisationsbedingungen sorgen und sich über die Schulzeit hinaus bis in das Erwachsenenalter auswirken. Sie beschreibt die Entstehung des Anal- phabetismus als eine Verlaufskurve, die durch „Prozesselemente“[88], d.h. ein- schneidende Ereignisse und/oder andauernde negative Bedingungen in der Bio- grafie der Betroffenen, aufrecht erhalten wird. Anhand EGLOFFs[89] Ausführungen können folgende Komplexe von Prozesselementen abgeleitet werden:

a) familiäre Prozesselemente,
b) schulische Prozesselemente, und
c) Prozesselemente im Erwachsenenalter, denen ich mich nun im einzelnen zuwenden werde.

Zu a): Den familiären Bedingungen kommt im Hinblick auf die frühe kindliche Entwicklung und Prägung, sowie während der Schulzeit der Kinder eine ganz be- sondere Rolle zu.

Man kann z.B. bei der Generation von Analphabeten, die in der Zeit der Welt- kriegsgeschehnisse geboren und aufgewachsen sind, nicht von einer „normalen“ Sozialisation sprechen. Eine derartige „Verstrickung der individuellen Lebensge- schichte mit der Zeitgeschichte“[90], die durch Flucht, Tod, Mangel und Familien- trennung gekennzeichnet ist, wirkt sich mitunter bis ins Erwachsenenalter aus. Ein solch traumatisches Erlebnis stellt auch die Trennung Deutschlands in zwei Staa-

ten dar. Es berichtet ein Betroffener, dass es für ihn sehr schmerzlich war, als sei- ne Großmutter in den westlichen Teil Deutschlands übersiedelte und ihn dadurch alleine zurückließ[91].

Beachtung muss auch Familiensituationen geschenkt werden, die von andauern- der oder häufiger Krankheit eines oder beider Elternteile geprägt sind. Der Tod von Elternteilen oder eine Scheidung wirken sich direkt auf die seelische Konstitu- tion von Kindern aus. Dies wird unter Umständen noch dadurch verstärkt, dass die Kinder aufgrund genannter Situationen zwischen Familienteilen (Großmutter, El- ternteile usw.) hin und her geschoben werden, also kein festes familiäres Bezugs- system zur Verfügung haben. Auch dem Heim als „Abschiebeinstitution“ kommt dabei eine traumatisierende Rolle zu.

Ein wesentlicher Faktor ist die sozio-ökonomische Situation in der ein Kind auf- wächst. Spielt die Arbeit als Mittel der Existenzsicherung eine so bedeutende Rol- le, dass die Eltern ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf das Kind richten, so ist auch neben der elementaren Versorgung mit Kleidern und Nahrung die Befriedi- gung des Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit und Zuwendung betroffen. DÖ-

BERT-NAUERT[92] fasst das Problem der sozio-ökonomischen Situation folgen- dermaßen zusammen:

„Materielle Ungesichertheit oder Unterversorgung führt dazu, dass Fragen der Re- produktion vorrangig sind gegenüber Fragen der Bildung, der Lernkarriere oder der Qualität menschlicher Beziehungen. Unzureichende materielle Versorgung kann eine Reihe von Spannungsmomenten mit sich bringen: soziale Diskriminie- rung, fehlende Lernmöglichkeiten aufgrund beengter Wohnverhältnisse, Einbin- dung in Reproduktionsaufgaben als Kind/Jugendlicher, Alkoholismus, Ehekonflik- te, Vernachlässigung der Kinder usw.“

Ebenfalls kann die Position/Stellung eines Kindes, die es unter seinen Geschwis- tern einnimmt, negative Auswirkungen auf die Lebenssituation und damit auf die Entwicklung haben. Ein Kind, das an erster Stelle steht, wird manchmal schon sehr früh in die häuslichen Pflichten einbezogen, z.B. die Betreuung jüngerer Ge- schwister, was oft zu einer Überforderung dieses Kindes führt[93]. Mittlere Kinder können in kinderreichen Familien unter Umständen eine Außenseiterrolle einneh-

men, da den Kleinen häufig mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch Bevorzu- gungen der Geschwister in materieller Hinsicht wirken sich negativ auf das Selbst- bild eines Kindes aus.

Neben körperlicher Gewalt als Merkmal „vorenthaltener Kindheit“[94] wirken sich

Gewaltformen, wie mangelnde Zuwendung, Gleichgültigkeit und Ignoranz gegen- über dem Kind, fehlende soziale Interaktion und Kommunikation verheerend auf die Persönlichkeitsentwicklung aus.

All diese Aspekte EGLOFFs finden sich in den Ausführungen von DÖBERT wie- der. Sie stellte in ihren Untersuchungen wiederkehrende Muster fest: „Als typische

Erfahrungen im Elternhaus werden von TeilnehmerInnen in Alphabetisierungskur- sen immer wieder genannt: Gleichgültigkeit/Interesselosigkeit der Eltern, negative Kommunikationserfahrungen (Brüllen, Schreien, Schweigen), emotionales Desin- teresse, fehlende Hilfe bei schulischen Problemen, Ablehnung im Familienverband (Sündenbock, Aschenputtel), physische und psychische Gewalt als Strafmittel, Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft, Ausbrüche roher Gewalt (Alkoholeinfluß), Entmutigung („Du bist zu dumm dazu.“), Abwesenheit, Verlust von Bezugsperso- nen, parallele Kopplung kritischer Ereignisse (Alkoholexzesse, Ehescheidung, Einschulung, erstes Schulversagen, physische und psychische Strafen, völliges

Desinteresse der Bezugspersonen).“ [95]

Ein bisher unerwähnter Aspekt ist die Literalisierung der Familie, d.h. inwieweit gehört der Umgang mit Literatur, die Bildzeitung u.ä. Blätter seien hier ausge- schlossen, zum Alltag der Kinder? Lesen die Eltern Bücher oder wurde den Kin- dern aus solchen vorgelesen? Interesse an Schriftsprache wird auch über die di- rekte Begegnung mit ihr geweckt, so erfahren Kinder schon im frühen Alter eine angenehme Seite des Geschriebenen. Bücher können Fantasiewelten eröffnen, sie bilden, sie können also ein positiver Bestandteil des Alltags sein, wenn Kindern diese Seite der Schriftsprache durch die Eltern oder auch Geschwister vermittelt oder vorgelebt worden ist. Bereits 1973 hat D’ARCY festgestellt: „Es besteht eine deutliche Korrelation zwischen der Zahl der Bücher, die ein Kind zu Hause vorfin- det und dem Leseerfolg in der Schule; der Wunsch der Kinder zu lesen wird ent- scheidend vom kulturellen und erzieherischen Niveau einer Familie beeinflusst, vor allem von der Ermutigung und dem Interesse der Eltern an den Leseversu- chen des Kindes“ [96].

Zu b): Es ist keine neue Erkenntnis, dass auch der Schule eine wesentliche Rolle bei der Entstehung und Manifestierung von Lese- und Schreibschwierigkeiten zu- kommt. Gerade deshalb ist es verwunderlich, dass die Bildungspolitik auch heute noch jegliche Schuld an der Misere von sich weist und die Schule in ihrer Funktion als Alphabetisierungsinstitution verteidigt:

Bereits 1951 schließt LINDER[97] diejenigen Arten von Lese-Rechtschreib- Schwäche von der Diagnose Legasthenie aus, die „durch gewöhnlichen Schwach- sinn, durch manifeste Gesichts- und Gehörstörungen oder sonstige körperliche Behinderungen erklärlich sind, oder aber durch mangelnde Übung infolge von Krankheit, Fehlen von Schule, Sprach- und Schulwechsel oder durch ungewöhn- liche Schulumstände [...] oder durch schlechte Schulmethoden oder offen- sichtlich gestörte Lehrer-Schüler-Beziehungen hervorgerufen wurden“.

1981 machte ROHR[98] darauf aufmerksam, dass die „Tatsache, dass jedes Jahr in

der Bundesrepublik Deutschland Tausende“ Lese-Rechtschreibschwache „die Schulen verlassen“, darauf hinweist, „dass die Schule in einem nicht geringen Um- fang einem elementaren Bildungsauftrag gegenüber versagt, wenn ihr der Erstle- se- und Schreibunterricht misslungen ist“.

Die aus den Biografien von funktionalen Analphabeten gewonnenen Informationen geben Aufschluss darüber, dass bereits der Schuleintritt und die damit verbunde- ne Veränderung des Lebensumfeldes Einfluss auf den beginnenden schulischen Schriftspracherwerb hat. Das Ereignis der Einschulung gewinnt besonders vor dem Hintergrund ungünstiger familiärer Lebensbedingungen an Bedeutung[99].

OSWALD[100] macht ein relativ frühes Scheitern von Schülern an der Gruppennorm

für die Entstehung von Lernproblemen verantwortlich. Es komme hinzu, „dass Kinder aus finanziell schwachen Familien durch ihre sich nach außen dokumentie- rende Notsituation (abgetragene Kleidung, dünn belegte Schulbrote, geringes Ta- schengeld usw.), beim Schuleintritt in die soziale Randposition gedrängt wer- den“[101].

Kinder erhoffen sich in der Schule eine Lösung ihre Probleme, sie sehen die Schu- le zunächst als Fluchtort aus der familiären Misere an[102]. Der Schonraum kann aber nur so lange aufrecht erhalten werden, wie die Schüler der ersten Klasse spielerisch an den Lerngegenstand herangeführt werden. Schon mit Beginn des zweiten Schuljahres läuft diese Schonzeit ab, es werden konkrete Leistungen ge- fordert, die besonders das Lesen und Schreiben betreffen. Jetzt können erste

Schwierigkeiten auftreten, die anknüpfend an die familiären Erlebnisse, die Palette der Negativerfahrungen erweitern.

DÖBERT-NAUERT[103] stellte bei ihrer Analyse von Biografien eine „Diskriminie- rungskontinuität“ als typisches Muster im Leben funktionaler Analphabeten fest. Dem entsprechen die Ergebnisse der Untersuchungen von EGLOFF[104], nach de- nen sich die im Elternhaus erfahrene Ablehnung und Ignoranz auch in der Schule fortgesetzt hat.

Als diskriminierende Handlungsweisen der LehrerInnen gegenüber Schülern nennt EGLOFF[105]:

- das Herausschicken von Schülern aus dem Unterrichtsgeschehen, weil sie dem Unterrichtsgeschehen nicht folgen können
- die Absicht des Lehrers, seine Klasse auf Kosten eines Schülers zu belus- tigen
- fehlende Anerkennung gegenüber kurzzeitigen und minimalen Leistungs- verbesserungen
- die Erhebung der Erfüllung des Lehrplans über den Lernprozess des ein- zelnen Schülers
- die Benachteiligung von Schülern aufgrund geringerer Beliebtheit (z.B. feh- lende „Bestechungsgeschenke“ aufgrund geringer finanzieller Mittel der Familie des Kindes u.a.)

Analphabeten berichteten OSWALD[106], dass sie ihre Situation in der Schule als unangenehm und bedrückend erlebten. Ängste und Lernstörungen entstanden nach Aussage dieser Personen aufgrund von Misserfolgen, Minderwertigkeitsge- fühlen, körperlicher Bestrafung und Spott des Lehrers sowie Ablehnung, die auf den vermeintlich niedrigen sozialen Stand der Eltern zurückzuführen ist.

OSWALD[107] sieht in durch subjektive oder objektive Faktoren verursachten Lern- störungen, die durch das Vorurteil der Lehrer generell als Charaktermängel gewer- tet wurden, eine wesentliche Ursache für Schwierigkeiten beim Schriftspracher- werb. Unter den objektiven Faktoren versteht sie unter anderem häufige Schul-

[...]


[1] Schön: 1993, S. 33

[2] Engelsing: 1973, S. 45

[3] ebd.

[4] Engelsing: 1973, S. 45

[5] Eisenberg: 1983, S. 13f.

[6] Döbert: 2000, S. 18

[7] vgl. Grissemann: 1984, S. 64 f.

[8] ebd., S. 65

[9] vgl. Grissemann: 1984, S. 65

[10] zit. in: Sandhaas: 1989, S. 1

[11] Drecoll: 1981, S. 29f.

[12] Drecoll: 1981, S. 31

[13] ebd.

[14] Hubertus: 1995, S. 252

[15] ebd.

[16] vgl. Giese: 1983, S. 34

[17] ebd., S. 34 f.

[18] Döbert-Nauert: 1985, S. 5

[19] Hubertus: 1995, S. 251

[20] vgl. Kamper: 1990 und 1994, S. 577

[21] Tymister: 1990, S. 114 f.

[22] vgl. dazu den Gliederungspunkt 2.1.1. Verbo-sensomotorische Voraussetzungen, S. 50

[23] vgl. dazu den Gliederungspunkt 1.1.1. Analphabetismus

[24] Romberg: 1993, S. 29

[25] vgl. Grissemann: 1984, S. 63 ff.; Die Auffassung wird deutlich durch seinen Vorschlag zu einer Typologie der Spätlegasthenie.

[26] Fehlisch/Siebert-Ott: 1988, S. 37 f.; Hevorhebungen durch Sven Mihlan

[27] vgl. Döbert: 2000, S. 26

[28] vgl. Hubertus: 1998, S. 82

[29] vgl. ebd.

[30] vgl. Weishaupt: 1996, S. 38

[31] vgl. ebd.

[32] vgl. Weishaupt: 1996, S. 45

[33] ebd., S. 46

[34] vgl. Kretschmann: 1990, S. 14

[35] vgl. dazu den Gliederungspunkt 1.1.1. Analphabetismus, S. 5

[36] vgl. Löffler: 2000, S. 22

[37] vgl. Panagiotopoulou: 2001, S. 75

[38] vgl. Kretschmann: 1990, S. 14

[39] vgl. ebd., S. 14; Sonderschüler mit organischen Beeinträchtigungen oder geistigen Behinderungen werden von Kretschmann nicht eingerechnet.

[40] vgl. Löffler: 2000, S. 24

[41] ebd.

[42] vgl. ebd., S. 24 f.

[43] vgl. ebd., S. 25

[44] Löffler: ebd., S. 25

[45] vgl. Füssenich: 1998, S. 101

[46] vgl. Internetquelle: http://www.destatis.de/basis/d/biwiku/schultab16.htm, Stand von 16. 05. 2002

[47] Der Prozentsatz der Schulentlassenen ohne Hauptschulabschluss der vergangenen Jahre: 1991:7,92%; 1992: 8,18%; 1993: 9,06%; 1994: 9,05%; 1995: 8,82% (vgl. Löffler, Cordula: 2000, S. 24); 1996: 8,6%; 2000: 9,2%.

[48] Die als durchschnittlich angenommene Anzahl Schulentlassener ohne Hauptschulabschluss seit der Grün- dung beider deutscher Staaten ergibt sich aus dem Vergleich der Lebendgeborenen- und Sterbezahlen der Jahre 1998 bis 2000 (vgl. Internetquelle: http://www.destatis.de/basis/d/bevoe/bevoetab1.htm, Stand vom 16. 05. 2002).

[49] Die Ausgangszahl errechnet sich durch Abzug der unter 20jährigen, 17.487.000, und der über 65jährigen, 13.336.000, von der Gesamtbevölkerung, 81.985.000 (vgl. Statistisches Bundesamt: 2002, S. 26).

[50] vgl. Hubertus: 1998, S. 82

[51] Wehrens: 1981, S. 86

[52] vgl. ebd.

[53] vgl. Wehrens: 1981, S. 87

[54] vgl. Hubertus: 1995, S. 250

[55] vgl. ebd.; Die Erkenntnisse zur Größenordnung des Analphabetismus in Strafanstalten trug neben der stei- genden Zahl von Teilnehmern an Rechtschreibkursen der Volkshochschulen zur „Wiederentdeckung“ des Analphabetismus in Deutschland bei.

[56] vgl. Weishaupt: 1996, S. 53

[57] vgl. ebd.

[58] Panagiotopoulou: 2001, S. 76

[59] vgl. Löffler: 2000, S. 25

[60] Panagiotopoulou: 2001, S. 76

[61] ebd.

[62] vgl. Löffler: 2000, S. 28

[63] vgl. Panagiotopoulou: 2001, S. 76

[64] vgl. ebd., S. 76; Löffler: 2000, S. 28

[65] vgl. Panagiotopoulou: ebd., S. 76

[66] Döbert: 2000, S. 32

[67] ebd., S. 29

[68] vgl. Klicpera: 1998, S. 233

[69] ebd., S. 269

[70] vgl. Romberg: 1993, S. 31 f.

[71] vgl. Panagiotopoulou: 2001, S. 98

[72] vgl. Panagiotopoulou: 2001, S. 91

[73] Klasen: 1970, S. 11

[74] vgl. Panagiotopoulou: 2001, S. 91 f.

[75] vgl. Scheerer-Neumann: 1997, S. 44f.

[76] Linder: 1951, S. 100

[77] vgl. Klicpera: 1998, S. 244

[78] ebd., S. 245

[79] vgl. Panagiotopoulou: 2001, S. 99

[80] Klicpera: 1998, S. 245

[81] ebd.

[82] ebd.

[83] vgl. Klicpera: 1998, S. 247

[84] ebd., S. 247 ff.

[85] Gemeint ist hier die Lernbehinderung im klassischen Sinne. Moderne Auffassungen über „allgemeine Lernschwierigkeiten“ verfolgen ebenfalls einen multikausalen Beschreibungsansatz.

[86] vgl. Oswald: 1981; Döbert-Nauert: 1985; Egloff: 1997

[87] vgl. Egloff: 1997, S. 129

[88] ebd.

[89] vgl. ebd., S. 129 ff.

[90] ebd., S. 130

[91] ebd.

[92] Döbert-Nauert: 1985, S. 39

[93] vgl. Egloff: 1997, S. 132

[94] ebd., S. 134

[95] Döbert: 1997, S. 129

[96] zit. in Kretschmann: 1990, S. 26

[97] Linder: 1951, S. 100; Hervorhebungen durch Sven Mihlan

[98] Rohr: 1981, S. 42

[99] vgl. Egloff: 1997, S. 136

[100] Oswald: 1981, S. 53

[101] ebd.

[102] vgl. Egloff: 1997, S. 136 f.

[103] vgl. Döbert-Nauert: 1985, S. 42

[104] vgl. Egloff: 1997, S. 141

[105] ebd., S. 142

[106] vgl. Oswald: 1981, S. 54

[107] vgl. ebd., S. 53

Ende der Leseprobe aus 148 Seiten

Details

Titel
Spätlegasthenie und Analphabetismus
Hochschule
Universität Leipzig  (Sprachbehindertenpädagogik)
Note
1,5
Autor
Jahr
2002
Seiten
148
Katalognummer
V10316
ISBN (eBook)
9783638167741
ISBN (Buch)
9783638697965
Dateigröße
2198 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Spätlegasthenie, Analphabetismus
Arbeit zitieren
Sven Mihlan (Autor:in), 2002, Spätlegasthenie und Analphabetismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10316

Kommentare

  • Gast am 31.5.2005

    Dr.med..

    eine hervorragende arbeit zu einem spannenden thema mit praktischer relevanz

Blick ins Buch
Titel: Spätlegasthenie und Analphabetismus



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