Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben


Referat / Aufsatz (Schule), 1999

3 Seiten


Leseprobe


Wie jeden Morgen ging Hugo mit seinem Dackel Fifi spazieren. Es war ein kalter, nasser, nebliger Herbsttag. Kein Mensch war um diese Zeit auf der Strasse. Die Kinder hatten schulfrei, wie an jedem Samstag. Die meisten lagen noch zugedeckt in ihren wohlig - warmen Betten, und niemand kam auf die Idee aufzustehen. Alle waren noch am Träumen, ausser natürlich Hugo. Er war klein und rundlich, trug einen Schnauz und hatte eine Halbglatze und kleine Knopfaugen. Fifi hatte durch seine grosse Fresslust einen dicken Wanst, der beim Gehen den Boden streifte. So watschelten die beiden durch die Gassen und Strassen ihrer Heimatstadt. Dann kamen sie an einem Kiosk vorbei. Dort war Hugo Stammgast. Jeden Morgen kaufte er die Zeitungsausgabe und die alte Verkäuferin kannte er schon seit Jahren. Wenn Matilde, so hiess die Frau, den Mann mit seinem treuen Hund am Horizont bei Sonnenaufgang herbeischlurfen sah, legte sie schon eine Zeitung bereit und tippte den Preis in die halb verrostete Kasse. So auch dieses Mal. Die beiden begrüssten sich freundlich und die alte Dame sagte: „Willst du heute nicht Mal dein Glück mit einem Los der Landeslotterie versuchen? Vielleicht gewinnst du ja eine Menge Geld, und wenn nicht, wirst du durch den kleinen Betrag nicht gleich verarmen. Ausserdem tust du meinem Kiosk damit etwas zugute.“ Hugo schmunzelte. Obwohl er mit solchen unsinnigen Glücksspielen nichts am Hut hatte, überzeugten ihn Matildes Argumente. „Also gut, ich kaufe eins, aber nur weil du‘s bist!“

Matilde gab ihm lächelnd die Zeitung und das Glückslos. Nachdem Hugo die beiden Dinge bezahlt hatte, verabschiedete er sich von ihr und schlug mit seinem Dackel den Weg heimwärts ein. Zu Hause angekommen, zog er sich den langen Ledermantel und den knallroten Schal, den einst seine Schwester für ihn gestrickt hatte aus und hängte beides ordentlich an den Kleiderständer, welcher direkt neben der Eingangstür stand.

Hugo hatte eine schöne, aber auch sehr einfache Wohnung.

Eine kleine gemütliche Stube mit einem Sessel mit einem Sonnenblumenaufdruck. Dies war auch sein Lieblings - Möbelstück, er hatte es von seiner Mutter geerbt, die vor einigen Jahren an Altersschwäche gestorben war. Auch sein Schlafzimmer, die Küche und das Badezimmer waren einfach eingerichtet, denn Hugo hatte nicht gerade viel Geld. In seinem Beruf als Postbote verdiente er nicht viel. Nun setze er sich in seinen geliebten Sessel und schaltete den Fernseher ein. Er musste erst in einer Stunde auf der Hauptpost die unzähligen Briefe und Postkarten abholen, um sie in seinem Wägelchen von einem Briefkasten zum andern zu schleppen.

In der Glotze schaute er sich die Morgengymnastik an, in der irgendwelche gutgebauten Frauen und Männer herum hopsten und zum Mitmachen vor dem Bildschirm motivierten. Eigentlich wusste Hugo genau, dass er jetzt aufstehen sollte, um an diesem Fitness - Training teilzunehmen und ein paar Pfunde abzunehmen. Aber er hatte keine Lust dazu, und ausserdem schlief Fifi gerade so friedlich, mit einem Kauknochen zwischen den Zähnen, auf seinen Knien. Also blieb ihm gar nichts anderes übrig, als umzuschalten und ziellos durch die Kanäle zu zappen.

Zwischendurch sah Hugo mal zufällig auf seine Armbanduhr und bemerkte, dass es höchste Zeit war zu gehen, damit er noch rechtzeitig auf der Post ankam. Also schaltete er den Fernseher aus, setzte den Dackel auf den Boden und erhob sich aus dem bequemen Sessel. Hugo ging in die Küche und füllte Fifis Fressnapf mit irgendwelchen Fleischbrocken, sogenanntem Dosenfutter. Er gab seinem Hund noch einen liebevollen Klaps auf den Rücken und ging zur Garderobe. Dort zog er seine Postbotenjacke an und setzte sich den dazugehörigen Hut auf. Dann nahm er sein Dienstwägelchen aus einem Wandschrank und öffnete die Tür. Eine Windböe wehte Hugo eiskalt ins Gesicht, so dass er zusammenzuckte. Doch dann schloss er die Tür hinter sich und trat in die Kälte hinaus. Mit seinem Gefährt, welches er hinter sich herzog, ging er schnell, von der Kälte getrieben, Richtung Post. Dort übernahm er von seinen Kollegen die Briefe, die er verteilen musste und machte sich auf den Weg, um seine Arbeit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Am frühen Abend war sein Postwagen leer, und somit die ganze Post verteilt. Als Hugo seine Wohnung betrat, sprang ihm der Dackel wie jeden Abend voll Freude über Herrchens Rückkehr entgegen. Nachdem er sich ausgezogen hatte, nahm er den Hund auf den Arm und ging mit ihm in die Stube. Dort setze er sich wieder in den Sessel und stellte erneut den Fernseher ein. Da sagte die Fernseh- Sprecherin: „Verehrte Zuschauer und verehrte Zuschauerinnen, nun folgt in wenigen Augenblicken die heutige Losziehung der Landeslotterie. Im Jackpot sind über 10 Millionen!“ Da erinnerte sich Hugo an das Los, das er sich heute Morgen bei Matilde gekauft hatte. Er wühlte in seiner Hosentasche, bis er schliesslich ein kleines, zerknülltes Papierchen hervorzog. Er faltete es so gut es ging auseinander und wartete, bis im Fernsehen eine junge Dame die Gewinnummer bekanntgab. Ohne grosse Hoffnungen folgte Hugo der Zahlenreihe ohne dabei sein eigenes Los aus den Augen zu verlieren. Plötzlich wurde Fifi auf unsanfte Weise aus seinem Dämmerschlaf gerissen, denn sein Herrchen hatte ihn ohne böse Absichten von seinen Knien auf den harten Holzboden, der nur mit einem orientalischen Teppich überzogen war, plumpsen lassen. Als der geschockte Dackel die Augen aufriss, sah er Hugo auf dem Tisch und den Stühlen herumspringen und „gewonnen ,gewonnen, gewonnen!!!!!!!!“ , brüllen. Doch weil dieser nicht gerade ein Federgewicht war, hielt der Tisch ihm nicht stand und brach in sich zusammen. Dadurch liess sich der frischgebackene Millionär aber die Laune nicht verderben. Als er seinen Hund aufhob, um ihm einen Kuss auf seine kalte, feuchte Schnauze zu geben, warf dieser ihm einen wütenden Blick zu, knurrte und zeigte ihm die Zähne, denn er hatte den Schock noch nicht ganz verdaut und hätte deswegen sein Herrchen am liebsten in sein Doppelkinn gebissen. Doch Hugo liess es erst gar nicht so weit kommen und setze den verdrossenen Dackel zu Boden. Dieser zog sich beleidigt in seinen Korb zurück, um über seinen Schrecken hinwegzukommen.

Der Glückspilz rief sofort bei der im Fernsehen bekanntgegebenen Nummer an, und bestätigte, das Gewinnlos zu besitzen. Die Gesellschaft teilte Hugo mit, er würde in den nächsten Tagen einen Scheck über 10 Millionen erhalten. Nach diesem Telefonat spurtete er sofort aus dem Haus zum nächstbesten Geldautomaten und hob alles Geld, das er besass, von seinem Konto ab. Dann ging er zu einem Möbelgeschäft und kaufte den erstbesten Tisch, den er sah. Danach kleidete er sich in einer Nobelboutique von oben bis unten neu ein. In einem Fachgeschäft besorgte er sich drei verschiedene Regenmäntelchen für seinen Dackel und zudem kaufte er noch einen Vorrat von 200 Kauknochen. Ein Hundesofa mit eingebautem Fressnapf und Wasserspender durfte natürlich auch nicht fehlen.

An einem anderen Ort kaufte er einen neuen Fernseher im Megaformat und einen Computer mit Internetzugang. Und als letztes einen nigelnagelneuen Mercedes. Nun stand sein Bankkonto auf Null. Doch das war ihm egal, denn er würde ja bald den Losgewinn erhalten.

Am nächsten Tag, als Hugo wieder auf die Post ging, um die Briefe und Postkarten abzuholen, die er verteilen musste, durchsuchte er seine eigene Post nach einem Brief der Landeslotterie. Und tatsächlich, er war dabei. Doch er beschloss, ihn erst zu Hause zu öffnen, aus Angst vor neugierigen Arbeitskolleginnen. Er wollte nicht, dass ihn jemand nach einem Anteil fragte. Also verteilte er wie gewohnt die Postzustell- ungen. Als er am Abend die neu eingerichtete Wohnung betrat, sprang ihm Fifi entgegen. Er hatte seinem Herrchen den unsanften Abwurf verziehen. Wieder einmal setzte sich Hugo in den Sonnenblumen - Sessel. Fifi döste bereits wieder auf seinen Knien, als er das Couvert öffnete. Als der Dackel genervt die Augen öffnete, lag er schon wieder bäuchlings auf dem Boden. Er knurrte und sah zähnefletschend sein Herrchen an. Aber diesmal sprang Hugo nicht auf dem Tisch herum. Er stand mit einem so weit geöffnetem Mund auf dem Sessel, dass man meinen konnte, er habe sich den Kiefer ausgerenkt. Doch dem war nicht so. Laut las er die Zeilen des Briefes durch: Sehr geehrter Herr Hugo Meier Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie nicht der Gewinner der 10 Millionen sind. Kurz vor der Ziehung muss jemand eine Kugel mit der Nummer 9 inden Behälter geworfen haben, so dass Sie zweimal darin vorgekommen ist. Und da unglücklicherweise die 9 in ihrem Gewinnzahlencode enthalten ist, kann Ihnen der Betrag von 10 Millionen nicht ausgezahlt werden, deshalb wird das Glückslos neu gezogen. Bitte haben Sie Verständnis!

Ihre Landeslotterie

Hugo war der Ohnmacht nahe. Er hatte all sein Geld ausgegeben und nun bekam er den Lottogewinn nicht.

Er musste all seine Möbel verkaufen, sogar sein geliebtes Sonnenblumensofa .

Danach lebte er noch einfacher als vorher, und mit seinem treuen Hund Fifi zog er noch jahrelang jeden Morgen durch die Strassen zum Kiosk.

Man sollte den Tag nie vor dem Abend loben

Bedeutung: Man sollte nie etwas loben, was noch nicht zu ende oder noch nicht richtig fertig ist.

Ende der Leseprobe aus 3 Seiten

Details

Titel
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben
Autor
Jahr
1999
Seiten
3
Katalognummer
V102772
ISBN (eBook)
9783640011520
Dateigröße
340 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Abend
Arbeit zitieren
Anita Suter (Autor:in), 1999, Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102772

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