Der Eierkuchen, oder: Leitbilder der Europäischen Union im Widerspruch


Elaboración, 2000

16 Páginas


Extracto


Der Eierkuchen, oder: Leitbilder der EuropÄi- schen Union im Widerspruch

GIPFEL UND GEGNER

SCHON AM ERÖFFNUNGSTAG stehen den großen europäischen Staatsmännern Tränen in den Augen. Verstohlen wischt man sie ab, betupft Augenwinkel mit Taschentüchern, geht gefasst zur Tagesordnung über. Vorschusstrauer, weil keiner an das gute Ende glauben kann? Oder drückt man auf die Tränendrüsen in der Befürchtung, das Gewünschte sonst nicht zu bekommen?

Durchaus vorstellbar. Aber in Nizza wird aus anderem Grund geweint: Tränengas kriecht durch die Korridore des Konferenz- zentrums.

Falls es nicht ohnehin schon ein altes chinesisches Sprichwort ist, kann es seit dem letzten Treffen des Europäischen Rats jedenfalls als wirkungsvolle Diagnosemethode gelten: "Erkenne dich selbst in deinen Gegnern".

Auf der Straße bringt man mit jener Leidenschaft für Europäi- sche Fragen, die sich auch Staats- und Regierungschefs immer wieder gern auf die Fahne schreiben, Autos zum Kippen und Fensterglas zum Splittern; schließlich brennt auch noch eine Bankfiliale. Drinnen kippt man vor allem Kompromissvorschlä- ge, zersplittert sind die Meinungen, und alle naselang entbrennt Streit. Vor der Tür ist man "dagegen" und hinter ihr "dafür". Und obwohl eigentlich klar sein sollte, worum es auf beiden Seiten geht, was man voranzutreiben oder zu verhindern ve r- sucht - nämlich die "europäische Integration" -, erzeugt näheres Hinsehen eine gewisse Irritation:

Drinnen haben fünfzehn Staatenvertreter fünfundzwanzig Mei- nungen und finden den Strang nicht, an dem sich gemeinsam ziehen lässt. Und was da draußen einträchtig an Polizeiautos rüttelt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine wirre Mi- schung aus spanischen Kommunisten, italienischen Anarchisten, dazu Separatisten aus dem Baskenland. Die französischen Bau- ern sind eigentlich sowieso immer überall dabei, ebenso die deutschen Atomkraftgegner, und dann gibt es noch die Fraktion der flächendeckend demonstrationstauglichen Globalisierungs- gegner, die inzwischen erstaunlich professionell global organi- siert sind.

Die EU, das wäre die Diagnose, ist in sich dermaßen widersprüc hlich, dass sie es noch nicht mal zu einer homogenen Gruppe gewaltbereiter Gegendemonstranten bringt.

ANKE UND ANTIKE

DAS SEI JA SEHR SCHARFSINNIG, bemerkt meine neben mir auf die Fernsehcouch gelagerte Mitbewohnerin Anke, aber nicht sonderlich überraschend. Widersprüche in Europa - ja was denn sonst?

- Schon seit der Antike, fährt sie fort, zeichnet sich der europäische Kontinent durch die dialektische Entwicklung sei- ner Kultur in zwei gege nsätzlichen, einander beeinflussenden und bedingenden Strömungen aus: Zum einen beobachtet man die Herausbildung einer hohen Anzahl unterschiedlicher Gesell- schaften mit eigenen sozialen und politischen Strukturen auf relativ begrenztem Raum. Zum anderen bestand immer schon eine Te ndenz zur Erschaffung gemeinsamer Ideen und Werte in einem "supra-kulturellen" System. Auch das heutige Europa schöpft seine Gestalt aus jener Wechselwirkung zwischen Vie l- falt und Einheit, und der Integrationsprozess innerhalb der Europäischen Union ist nichts anderes als die aktuellste Ausfo r- mung dieses Phänomens.

- Du meinst, frage ich, indem man nach Vereinigung strebt, gleichzeitig aber eine zu weitgehende Vereinheitlichung der Besonderheiten der Mitglieder vermeiden will?
- Genau, sagt sie, Widersprüche sind dabei vorprogrammiert, ja sogar erwünscht.
Anke ist Historikerin und hat immer eine beruhigend organische Vorstellung vom Gewordensein der Dinge.
- Im Fall der EU, wende ich ein, finden sich Gegensätze auf ganz unterschiedlichen Systemebenen. Es gibt sie auf hori- zontaler Ebene zwischen den Mitgliedstaaten. Es gibt, vertikal, den von dir beschriebenen Widerspruch zwischen dynamisch voranschreitender Vergemeinschaftung auf supranationalem Niveau und dem Bemühen, nationa le Eigenständigkeit zu ve r- teidigen. Und nicht zuletzt ist das Konzept der Europäischen Gemeinschaften selbst, von seiner Geburtsstunde an, ein in sich widersprüchliches.

Vor allem letzteres findet Anke interessant, aber mit der Antike hat es nichts mehr zu tun, weshalb sie es sich schlecht vorstellen kann, und ich soll doch mal konkret werden, aus gegebenem Anlass am besten mit Bezug auf die aktuellen Probleme mit der Osterweiterung.

WEIT UND TIEF

"DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH UNTERSTÜTZT die Erweiterung in der Hoffnung, dadurch das Integrationstempo zu verlangsamen und die Europäischen Gemeinschaften in eine lockere Freihandelszone zu wandeln", zitiere ich.

Dieser Satz, der durchaus im Rahmen einer Diskussion über die Osterweiterung gefallen sein könnte, stammt bereits aus dem Jahr 1977 und von der britischen Regierung selbst. Er betrifft die sogenannten Süderweiterungen, also den Beitritt Griechen- lands, Portugals und Spaniens, und zeigt, wie stark schon immer die Vorstellungen darüber voneinander abwichen, was die Euro- päischen Gemeinschaften sind, sein sollen oder werden könnten. Im Tiefenrausch denkt man bis zu den Vereinigten Staaten von Europa; wer das Weite sucht, träumt eher von einem flächende- ckenden Wirtschaftsraum bei größtmöglicher Eigenständigkeit der teilnehmenden Staaten.

Betrachtet man eine Weile den Atlantik, stellt man bald fest, dass die Attribute "tief" und "weit" sich nicht notwendig gegen- seitig ausschließen. Allerdings muss sich der Atlantik, anders als die EU, auch keine Sorgen über seine Homogenität machen. Nur wenn sich Rechts- und Verwaltungssysteme, auch soziale und kulturelle Voraussetzungen in den einzelnen Staaten wei- testmöglich gleichen, kann die Akzeptanz und damit die Effek- tivität einer Regel, die von einem übergeordneten Organ zur Geltung und einheitlichen Anwendung im gesamten Gemein- schaftsgebiet erlassen wird, mö glichst groß sein. Und weil jeder neue Teilnehmer an einer solchen Ordnung mit all seinen histo- rischen, politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Eigenhe i- ten eine Fülle von Abweichungen und Unterschieden in das Sys- tem einbringt, gilt der Merksatz: Je mehr neue Mitglieder, desto größer die Heterogenität, desto weniger Integration. Deshalb hat die Europäische Union Schwierigkeiten, wie der Atlantik zu sein: Weit und tief zur gleichen Zeit.

- Oder wie das, sagt Anke, was hinter dem Atlantik kommt: Die USA.
- That's out of the question, sage ich.
- Wenn ich richtig zähle, sagt Anke, waren das jetzt Bei- spiele für zwei deiner Konfliktebenen. Erstens, auf zwischen- staatlicher Ebene: Das agoraphobische Frankreich hat es gern tr è s intime mit den deutschen Nachbarn und ist damit potentiel- ler Erweiterungsgegner, während England, latent klaustrophob und mit Sicherheit nicht schwindelfrei, enlargement geradezu als Erleichterung empfindet.

Anke, fällt mir ein, hatte im Nebenfach Psychologie.

- Zweitens, sagt sie, sehen wir am Gang der Verhandlun- gen mit den Kandidaten, wie die Gemeinschaftsebene durch die conditio sine qua non- Verpflichtung neuer Mitglieder zur Ü- bernahme des gesamten acquis communautaire den künftigen Beitritt ohne jeden Verlust von Homogenität zu überstehen ve r- sucht, während die Bewerber, nicht zuletzt durch die demokrati- sche Bindung an Vorstellungen und Wünsche ihrer Bevölkerun- gen, schon im Vorfeld um den Erhalt nationaler Eigenheiten kämpfen.

- Formidable, lobe ich, sanae mentis est.
- Wer?
- Na, du.
- Ach sie, grinst Anke. Ja und drittens?
- Drittens, sage ich und ziehe schwungvoll ein imaginäres Kaninchen aus dem nichtvorhandenen Zylinder. Das "Drittens" besteht darin, dass die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften eben diese Quadratur des Kreises verlangen: Gleichzeitig weit und tief zu sein.

Anke applaudiert nicht. Anke wartet.

WIRTSCHAFT UND WERTE

EXKURS, TROMPETE ICH. DIE INTEGRATION im Rahmen der Europäi- schen Gemeinschaften basiert ihrer Entstehungsgeschichte nach und bis heute auf einem einzelnen Sektor des kulturellen Spekt- rums: Dem ökonomischen. Die EU in ihrem derzeitigen Zu- schnitt geht aus Wirtschaftsabkommen zw ischen einer kleinen Anzahl von Staaten hervor. In Paris und Rom beschlossen Frankreich, Deutschland, die Benelux-Staaten und Italien, durch die Gründung der drei Gemeinschaften eine Liberalisierung des Handels in Europa zum gegenseitigen Nutzen aller Beteiligten zu erreichen. Entsprechend lesen sich die in Art. 2 EGV veran- kerten Gemeinschaftsaufgaben im Wesentlichen als Wirt- schaftsprogramm: Errichtung eines Binnenmarkts durch Beseiti- gung sämtlicher Hindernisse für den Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr; Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion; Etablierung gemeinsamer Handels- und Wir t- schaftspolitiken. Dennoch erschöpft sich die Bestimmung der Gemeinschaften nicht in ihrer ökonomischen Komponente.

Vereinfachend gesprochen will die Wirtschaft nach unserem globalen Verständnis immer die größtmögliche Freiheit. Werte, wie sie aus anderen Lebensbereichen entstehen, müssen ihr als abwägungsfähige, widerstreitende Interessen entgegengesetzt werden, zum Beispiel im Sinne des Schutzes von Umwelt und Verbrauchern, von sozial schwachen Mitbürgern oder von be- nachteiligten Ökonomien entwicklungsbedürftiger Länder. Schutzziele dieser Art haben ebenfalls Eingang in den Aufga- benkatalog der Gemeinschaft gefunden, da sie der Mentalität und dem Wertbewusstsein aller europäischen Gesellschaften gleichermaßen immanent sind.

Antagonismen werden dabei nicht als solche gekennzeichnet. Art. 2 EGV nennt beispielsweise die Herstellung eines hohen Grades von Wettbewerbsfähigkeit einerseits und die Stärkung der Solidarität zwischen den Mitgliedern andererseits als gleich- berechtigte Aufgaben, ohne das Zusammen- und Gegeneinan- derwirken der beiden Komplexe genauer zu untersuchen. Die Auflösung von Widersprüchen durch das Ineinandergreifen von wirtschaftlichen und ideellen Zielen im Sinne einer gegenseiti- gen Unterstützung und Begrenzung wird manchmal als Regel- Ausnahme-Verhältnis vom Vertrag selbst normiert (wie im Fall des Art. 30 EGV, der die grundsätzlich verbotenen Beschrän- kungen im Warenverkehr zugunsten bestimmter Schutzzwecke zulässt). Sehr häufig aber bleibt dies der Praxis, den handelnden Gemeinschaftsorganen und der Rechtssprechung des Europäi- schen Gerichtshofs überlassen.

- Hier liegt das Paradoxon also darin, wirft Anke ein, dass die EG einerseits und in erster Linie als Wirtschaftsgemein- schaft gegründet wurde. Obwohl davon auszugehen ist, dass die Wirtschaft selbst sich grundsätzlich wertindifferent verhält, sind in den Gründungsverträgen andererseits auch ideelle Ziele ve r- ankert, zwar gleichberechtigt, aber auf einem erheblich niedrige- ren Institutionalisierungsniveau. Damit bewegt sich die Gemein- schaft in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Funktionen hauptsäch- lich auf supranationaler Ebene, während das Bewahren nicht- ökonomischer Ziele und damit der EG als Wertegemeinscha ft eher der mitgliedschaftlichen Sphäre zukommt.

- So in etwa, sage ich, aber du bringst meine vertikalen und horizontalen Konfliktschichten durcheinander.
- Das Genie beherrscht das Chaos, meint Anke.
- Der Clou ist jedenfalls, sage ich, dass die Verfolgung wirtschaftlicher Ziele ganz von selbst manchen ideellen Werten dient und vice versa. Ohne dass dieses Verhältnis im Ra hmen einer normativen Ordnung erzeugt werden müsste.
- Diese Behauptung verlangt ein bisschen Empirie, sagt Anke.

Mir fällt ein, dass Anke im zweiten Nebenfach Soziologie belegt hatte.

- Exkurs Ende, verkünde ich, wir kommen planmäßig wieder zur Osterweiterung. Und damit zur Quadratur des Krei- ses.

WUNSCH UND WIRKLICHKEIT

AUSGERECHNET DIE ERSTE ERWÄGUNG der Präambel des EGV liest sich auf den ersten Blick fast wie eine contradictio in re. Sie lässt sich als eine Grundaussage zur Erweiterungsfähigkeit und Erweiterungsbedürftigkeit der Gemeinschaften verstehen und betrifft damit das Verhältnis von "weit" und "tief". Die Europäi- sche Gemeinschaft wird gegründet "in dem festen Willen", so liest man, "die Grundlagen für einen immer engeren Zusammen- schluss der europÄischen Völker zu schaffen". "EuropÄische Völker" bezeichnet nicht nur die Bevölkerungen der Grün- dungsmitglieder. Vielmehr werden hier sämtliche Völker Euro- pas als mögliche künftige Mitglieder mitgedacht. Im selben Satz bezieht sich der "immer engere Zusammenschluss" auf das dy- namische Potential der Gemeinschaft, ihr Integrationsniveau immer weiter zu vertiefen. Was ich oben die Quadratur des Kreises genannt habe, betrachtet der EG-Vertrag also ganz selbstverständlich als eine parallel zu verfolgende Entwicklung: Gleichzeitig immer weiter und immer tiefer zu werden.

- Präambeln, sagt Anke, sind wie Wunschzettel vor Weihnachten. Man kann froh sein, wenn man ein Zehntel des Gewünschten bekommt.
- Und eben in der Vorweihnachtszeit, sage ich, bemühen sich die ho lden Heerscharen in Nizza mal wieder, gleich zwei Wünsche auf einmal zu erfüllen.
- Natürlich sind sie, wie die Presse schon seit Wochen weiß, zum Scheitern verurteilt, sagt Anke.
- Scheitern ist freilich ein relativer Begriff. Jetzt der em- pirische Blick: Meine Mutter, damals Studentin der Romanistik, flog Anfang der Sechziger Jahre in der französischen Provinz ab und zu aus einer Kneipe, weil man ihren Akzent als deutsch identifiziert hatte. Heute sind die Deutschen in Frankreich, ge- nau wie umgekehrt, jederzeit willkommen - zum Studieren, zum Leben und Arbeiten. Ich selbst lernte noch im Politikunterricht am Gymnasium, wie man sich einen mit Backpulver bestreuten Waschlappen vor das Gesicht drückt, um die erste Wirkung von C-Waffen nach einem Aktivwerden des Warschauer Paktes ab- zumildern. Aber nur ein paar Jahre später verbringe ich einen achtmonatigen Studienaufenthalt in Warschau, genieße Förde- rung aus Töpfen der EU und lerne, dass die Deutschen in Polen in den Charts der Sympathien immerhin an dritter Stelle hinter den Amerikanern und den Franzosen rangieren.

Zuweilen mag der Eindruck entstehen, dass - verglichen mit den warmen Versöhnungsbemühungen innerhalb Westeuropas in den Folgejahrzehnten des "heißen" Zweiten Weltkriegs - die Leidenschaft für den Osten sich nach Ende des Kalten Krieges nicht gerade kochend, sondern eher etwas kühl gestalte.

- Die EU, sagt Anke, ziert sich bisweilen wie eine Frau, die einem zudringlichen Bewerber keinen unmissverständlichen Korb geben will, sondern lieber darauf verweist, "sie habe doch solche Probleme mit sich selbst".
- Man vergisst leicht, sage ich lachend, dass auch West- europas Rückkehr nach Europa wesentlich länger gedauert hat als ein Jahrzehnt. Um den gegenwärtigen Entwicklungen nicht mit ungerechtfertigter Skepsis zu begegnen, sollte über die Schranken des selektiv-beschönigenden Erinnerungsvermögens hinweg gelegentlich ein Blick darauf geworfen werden, wie vie- le Widerstände, wie viel Eiseskälte von Anfang an im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses überwunden werden mussten. Was nicht heißen soll, dass irgendeine Lorbeere Platz zum Ausruhen bereithielte.

Jetzt applaudiert Anke endlich mal.

- Hurra, sagt sie, ein Plädoyer für die gnädige Perspektive. Und jetzt weiter mit der Pseudofeldforschung.
- "Empirisch" lässt sich beobachten, dass demokratische Staaten häufig über ein einigermaßen gesundes Wirtschaftssys- tem verfügen, und dass umgekehrt Staaten, deren Bürger in rela- tiv gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen leben, auch stabile demokratische Strukturen aufweisen. Auch kann erfahrungsge- mäß ein aggressiv-kriegerisches Verhalten zwischen zwei funk- tionierenden Demokratien als unwahrscheinlich gelten. Das Nicht-Bestehen von Existenzangst, kann man schlussfolgern, harmonisiert und befriedet eine Gesellschaft und lässt damit Raum für die Konzentration auf andere, ideelle Ziele.

Entsprechend finden wir in der achten Erwägung der Präambel des EGV den "Wunsch, durch den Zusammenschluss [der] Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festi- gen". Die ökonomische Zusammenarbeit soll hier als ein In- strument eingesetzt werden, als Mittel zum Zweck einer höhe r- rangigen Idee, nämlich der Verfolgung einer pazifistischen, freiheitlichen Idealvorstellung.

- Als Psychologin und Soziologin weiß man, sagt Anke, dass im Normalfall die Hand, die eine Ware reicht oder entgegennimmt, nicht abgebissen wird.
- Und folglich müssen ethische Überlegungen nicht un- mittelbarer Bestandteil einer konkreten ökonomischen Kalkula- tion sein, um von dieser zu profitieren. Umgekehrt wird die Wirtschaft trotz ihrer utilitären Veranlagung den Zielen der ach- ten Erwägung dienen, wenn sie erkennt, dass nur ein freier Kon- sument ein guter Konsument ist und dass in Kriegszeiten die Produktion und Verteilung von Gütern ausgesprochen schwierig ist. Außer in einzelnen, ganz speziellen Sektoren.
- Backpulver, sagt Anke.
- Zum Beispiel, sage ich. Im demokratischen System gibt es also ein komplexes Verhältnis gegenseitiger Begünstigung zwischen politisch-moralischen Wertvorstellungen und wirtschaftlichem Interesse, und wo es zugunsten der einen oder anderen Seite versagt, lässt es sich durch relativ milde Re gulierungen wieder ins Gleichgewicht bringen.
- Was zunächst wie ein Widerspruch zwischen Werten und Wirtschaft aussieht, sagt Anke, entpuppt sich als eine Symbiose von Friede, Freude und Eierkuchen.
- Und deshalb stehen gerade stabilisierungsbedürftige europäische Systeme trotz vieler mit der Integration verbundener Probleme und zu Lasten der erstrebten Homogenität weiter auf der Kandidatenliste: Weil man sich von ihrer Aufnahme eine Sicherung der friedlichen wirtschaftlichen und freiheitlichdemokratischen Verhältnisse erhofft.
- Komisch nur, sagt Anke, dass man ausgerechnet von einer angeblich unzureichend demokratisch ausgestalteten Kör- perschaft wie der EU erwartet, sie werde im Rahmen einer rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Homogenisierung der neu aufgenommenen Systeme deren demokratische Funkti- onsfähigkeit stärken.
- Na gut, sage ich, aber das ist der letzte Widerspruch für heute.

MEHR UND WENIGER

ZUNÄCHST EINMAL: DIE DEMOKRATIE ist eine Staatsform, und die Europäische Union noch lange kein Staat. Diese einfache Feststellung mag geeignet sein, übersteigerte Erwartungen in Bezug auf die Beschaffenheit der Unionsorgane und -verfahren für den Moment zu dämpfen. Natürlich kann ein demokratisches Procedere auch zur Entscheidungsfindung innerhalb von Körperscha ften angewendet werden, die keine Staatsqualität besitzen, sei es im gern zitierten Kaninchenzüchterverein oder in einer Internationalen Organisation.

- Kann, sagt Anke. Muss es auch?
- Die Gemeinschaft wurde vor allem durch Übertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten, aber auch von Rechtsspre- chungs- und - in geringerem Umfang - Verwaltungskompeten- zen zur Trägerin autonomer Hoheitsgewalt, welche die Behö r- den, Organe und Bürger der Mitgliedstaaten unterwirft und im Konfliktfall die mitgliedstaatliche Hoheitsgewalt verdrängt. Da- bei liegen die Entscheidungszuständigkeiten in erster Linie beim Rat der Europäischen Union, der die Vertreter der Mitgliedstaa- ten auf ministerieller Ebene in sich vereint und somit keiner direkten Anbindung an die nationalen Parlamente unterliegt.

Dieser Mangel an demokratischer Legitimation wird von den seit Amsterdam verstärkten Mitwirkungsbefugnissen des Euro- päischen Parlaments nach wie vor nur unzureichend ausgegli- chen.

Die im Rahmen der Gemeinschaft stattfindenden Angleichungs- prozesse der Rechtsordnungen - sowohl auf vertikaler Ebene, also im Verhältnis der Mitglieder zum übergeordneten europäi- schen Recht, wie auch infolgedessen horizontal im Verhältnis der Staaten zueinander - stehen zwar nicht unmittelbar im Ver- dacht, die demokratische Qualität der nationalen Systeme Stück für Stück "wegzuharmonisieren". Die auf europäischer Ebene erlassenen Normen bleiben größtenteils den Mitgliedern zur selbständigen Umsetzung und Durchführung innerhalb ihrer demokratisch organisierten Gesetzgebungs- und Verwaltungs- verfahren überlassen. Dennoch sollten mit fortschreitendem Ü- bergang von Legislativkompetenzen diese auch demokratisch ausgeübt werden, wenn man vermeiden will, dass die graduell zune hmende Tendenz zur "Staatlichkeit" Europas langsam aber sicher die demokratisch ausgeübte Souveränität der Mitglieder auf undemokratischem Weg überholt.

- Mehr Demokratie, sagt Anke, wäre also nett.
- Das, sage ich, kommt überraschenderweise darauf an. Die Forderungen, die im Bereich der Verfahrensfragen an die Union gerichtet werden, sind häufig in sich widersprüchlich. Man will Flexibilität und schnelle Reaktionsmöglichkeiten, we- nig Bürokratie und nicht so viel redselige Unentschlossenheit und verlangt gleichzeitig eine stärkere demokratische Legitima- tion der Gemeinschaftsentscheidungen, vor allem durch Beteili- gung des Europäischen Parlaments. Hierin steckt ein Wahrneh- mungsproblem der öffentlichen Meinung, wie man es auch auf

nationaler Ebene kennt. "Nicht so viel reden, handeln!" ist eine beliebte Stammtischforderung, aber keineswegs eine demokrati- sche Maxime. Was häufig als bürokratische Umständlichkeit oder mangelnde Entscheidungsfreudigkeit empfunden wird, kann ganz einfach der regelmäßige Gang des parlamentarischen Rechtssetzungsverfahren sein, in dem die Anliegen von Interes- sengruppen gegen- und miteinander ausgeglichen und abgewo- gen werden, bis eine Kräfteverteilung erreicht ist, die eine Mehrheitsentscheidung möglich macht. Ein solches Verfahren ist in relativ hohem Maße durchlässig für Impulse von unten, von Seiten des originären Trägers aller staatlicher Gewalt: Dem Volk. Auf der anderen Seite aber ist es behäbig in seiner Ar- beitsweise und hat retardierenden Effekt. Das hochdynamische Tempo, mit dem die europäische Integration auf dringende wirt- schaftliche, aber auch politische und soziale Wandlungsbedür f- nisse in Europa reagiert hat, wäre nicht zu halten gewesen, wenn jede einzelne Entscheidung von einem repräsentativen parla- mentarischen Legislativorgan zu treffen gewesen wäre.

- Mehr Demokratie, sagt Anke, wäre also nur mehr oder weniger nett.
- Vergleicht man jedenfalls den gesamten bürokratischen Apparat in Brüssel, sage ich ausweichend, mit der Verwaltung des La ndesparlaments eines einzigen deutschen Bundesstaats, so verschieben sich ganz plötzlich die Maßstäbe des verwaltungstechnischen Schlankheitsideals.
- Mit einem Mal, sagt Anke, erscheint Brüssel als die Kate Moss unter den europäischen Verwaltungen.
- Auch wenn ich Brüssel trotz allem nicht gerade Mager- sucht bescheinigen würde, sage ich. Übrigens habe ich Hunger und löse deshalb unseren letzten Widerspruch auf: Die Fragen, wie viel Demokratie der Gemeinschaft abverlangt werden kann, und wie viel Demokratie die Gemeinschaft ihren Mitgliedern abverlangt, sind voneina nder zu trennen. Die EU kann ihre Mit- glieder auf die Einhaltung demokratischer Grundsätze sogar unter Androhung von Sanktionsmaßnahmen verpflichten (Art. 6 i.V.m. Art. 7 des Vertrags über die Europäische Union), und sie kann weiter ein funktionierendes demokratisches System zur zwingenden Voraussetzung der Aufna hme neuer Mitgliedstaaten machen (Art. 49 I i.V.m. Art. 6 I EUV); ihre Befugnis hierzu ergibt sich direkt aus den Verträgen. Ein Auftrag hingegen, et- was zugunsten der eigenen Demokratisierung zu unternehmen, findet sich ganz unabhängig davon in der fünften Erwägung der Präambel des EU-Vertrags, nämlich in dem "Wunsch, die De- mokratie [...] in der Arbeit der Organe weiter zu stärken". Der erhoffte stabilisierende Effekt einer EU-Mitgliedschaft auf die politischen Systeme der Teilnehmerstaaten ergibt sich also nicht als vertikales Harmonisierungsphänomen aus einer etwaigen demokratischen Verfasstheit der EU selbst, sondern aus dem beschriebenen begünstigenden Zusammenwirken von florieren- der Marktwirtschaft und gelingender Demokratie.
- Es schadet also nichts, sagt Anke, dass die EU, würde sie einen Be itrittsantrag an sich selber richten, diesen ablehnen müsste: Freie Marktwirtschaft voll befriedigend; Funktionieren demokratischer Institutionen und Verfahren, mangelhaft.
- Dieser Beitrittsantrag, sage ich, würde bereits unabhängig von allen politischen und wirtschaftlichen Kriterien an der fehlenden Staatsqualität scheitern, die nach Art. 49 EUV ebenfalls zwingende Vo raussetzung ist.
- Ich fasse zusammen, sagt Anke, während sie sich von der Couch erhebt. Die EU produziert, ohne sich selbst beitreten zu müssen, eine aufgehende Mischung von Freude und Eierku- chen bei ausschließlich zweckgemäßer und friedlicher Verwen- dung von Backpulver, wobei sie selbst nicht wesentlich dicker werden will als Kate Moss, sondern lieber weit und tief wie der Atlantik. Wunschzettel schreibt sie nicht nur in der Vorweih- nachtszeit, und darüber freuen sich ihre steinewerfenden Geg- ner, die untereinander eigentlich nichts miteinander zu tun ha- ben, sich aber trotzdem ganz gut verstehen, so dass nach alle- dem kein Anlass zum Weinen besteht, es sei denn aufgrund ei- ner akuten Bindehautreizung.
- Äh ja genau, sage ich. Und was kochen wir heute zum Abendessen?
- Am besten einen Eierkuchen, sagt Anke schlau, den man zugleich essen und behalten kann. Wie ich dich kenne, weißt du das Rezept.

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Detalles

Título
Der Eierkuchen, oder: Leitbilder der Europäischen Union im Widerspruch
Autor
Año
2000
Páginas
16
No. de catálogo
V102063
ISBN (Ebook)
9783640004560
Tamaño de fichero
366 KB
Idioma
Alemán
Notas
Bei dieser Arbeit handelt es sich um einen Essay, der sich auf nicht-wissenschaftliche Weise mit der Entwicklung der Europäische Union vor allem in Bezug auf Erweiterungsfähigkeit und -bedürftigkeit auseinandersetzt.
Palabras clave
EU-Gipfel von Nizza, Osterweiterung, Europarecht
Citar trabajo
Juli Zeh (Autor), 2000, Der Eierkuchen, oder: Leitbilder der Europäischen Union im Widerspruch, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102063

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