Zu Strukturprinzipien und der Bedeutung des Spiels in "Drowning by Numbers" von Peter Greenaway


Hausarbeit, 1998

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

„Sehr viele Dinge sterben laufend auf sehr brutale Weise“

„Die Verschwörung der Frauen“ vs „Drowning by Numbers“

„Einhundert sind genug“ - die Zahlenreihe

Frau, Mann und das Zählen

„Spiele können sehr gefährlich sein“

Das Kino als Spiel

Zusammenfassung

Literatur

Einleitung

Seit nach nunmehr fast zwanzig Jahren ist das New Bri- tish Cinema als ein außergewöhnliches Phänomen aus der europäischen Kinolandschaft nicht mehr wegzudenken. Dank der finanziellen Unterstützung durch den 1982 eingerichteten Fernsehsender Channel 4 und das British Film Institute Production Board wurde es möglich, zahlreiche innovative und experimentelle Filme zu pro- duzieren und so einem großen Publikum zugänglich zu machen.

Neben den sozialkritischen Filmen eines Mike Leigh, Stephen Frears oder Ken Loach, Komödien und Experimentalfilmen, insbesondere die Derek Jarmans, sind es außerdem die Filme Peter Greenaways, die die Aufmerksamkeit der Kritiker und Kinobesucher auch außerhalb Europas auf sich ziehen.

In der Auseinandersetzung mit Greenaway scheiden sich die Geister. Die ambivalenten Positionen der Kritiker belegen dies; für die einen verkörpern seine Filme die Umsetzung der Wagnerschen Theorie des Gesamtkunstwer- kes, für die anderen hingegen scheinen sie sich in in- tellektuellem Exhibitionismus zu verlieren. Angesichts des beinahe hermetischen Charakters der Filme, der oftmals das Interpretieren unmöglich macht oder auch Greenaways Vorliebe für Zitate aus Malerei, Geschichte und Literatur, ist der Vorwurf des Elitarismus sicher- lich nicht gänzlich unbegründet.

Dennoch würde man Greenaway nicht gerecht werden, beließe man es bei diesen Vorwürfen. Seine Filme sind nicht für das einmalige Betrachten gemacht; um sie einordnen zu können, bedarf es eines näheren Blickes - eines Sich-Einlassens auf den Film. Nur im wiederholten Sehen wird es gelingen, einige Greenawaysche Rätsel zu entdecken und zu entschlüsseln. Es gilt also, aktiv am Prozeß teilzunehmen, am dem Spiel, das Greenaway mit seinem Publikum spielt.

Die folgende Arbeit versteht sich denn auch als eine Annäherung an den Film Greenaways, dessen Verfilmung bereits 1981 geplant war, die aber erst 1987 reali- siert werden konnte - „Drowning by Numbers“1. Dieser Film zeigt in exemplarischer Art und Weise Greenaways Vorliebe für Rätsel und bestimmte Ordnungsprinzipien, die seinem Werk eigen ist. Im Mittelpunkt der Betrach- tung wird daher insbesondere die Untersuchung des strukturellen Aufbaus des Filmes und die Bedeutung des Spiels für den Film und das Filmemachen an sich ste- hen.

„Sehr viele Dinge sterben laufend auf sehr brutale Weise.“

Diese Bemerkung Smuts, einer der Hauptdarsteller2 in DBN, widerspiegelt in komprimierter Form den Inhalt des Filmes, konkret also die Aneinanderreihung von Morden durch Ertränken.

Diese Morde werden ausgeführt von der Frauentriade Cissie Colpitt I, Cissie Colpitt II (Tochter von Cis- sie I) und Cissie Colpitt III (Enkelin von Cissie I und Nichte von Cissie II). Opfer des ´Trio Infernal` sind jeweils die Männer der Frauen. Grund für das Morden ist ganz offensichtlich die männliche Impotenz. Die Ehemänner vermögen es nicht, ihre Frauen zu befriedigen, sowohl in sexueller oder auch intellektueller Hinsicht, wie im Fall der Cissie Colpitt III. So scheint es im Film nur regelgerecht, wenn eine Frau nach der anderen ihren Gatten tötet.

Doch die Frauen sind nicht die einzig Schuldigen. In Henry Madgett, einem Leichenbeschauer, finden sie ei- nen Verbündeten. Madgett selbst ermöglicht unwissent- lich erst die Verschwörung. Indem er den ersten Mord an Jake, dem Mann von Cissie I, als Unfall auf dem Todesschein vermerkt und sich dadurch körperliche Ge- genleistungen Cissies erpressen will, öffnet er den anderen Cissies erst die Augen. Sie erkennen, daß er in seinem liebeshungrigen Zustand gefügig gemacht wer- den kann, verspricht man ihm als Gegenleistung für den gefälschten Todesschein körperliche Zuwendung. Dem Planen und Durchführen der Morde an den beiden verbleibenden Ehemännern steht also nichts mehr im We- ge.

Auch die Formierung einer Gegenverschwörung - die angeblichen Unfälle wirken schließlich recht dubios und wenig glaubhaft - vermag es nicht, den Frauen das Handwerk zu legen.

Letzten Endes wird es auch Madgett sein, der den Cis- sie Colpitts nicht entkommen kann, und der so das Schicksal der anderen Männer in diesem Film teilt, die sich auf das Spiel der Frauen eingelassen haben.

„Die Verschwörung der Frauen“ vs „Drowning by Numbers“ Hört man den Titel der deutschen Fassung des Filmes, so erscheint dieser - in Anbetracht des dargelegten Inhalts - zunächst folgerichtig. Setzt man sich mit dem Film jedoch näher auseinander, so wird deutlich, daß dieser Titel nur einen einseitigen Blick auf den Film zuläßt. Der Originaltitel „Drowning by Numbers“ hingegen beinhaltet zweierlei Deutungen. Zum einen steht dieses ‘Ertrinken nach Zahlen’ für den vorgege- benen Filmablauf - die Männer werden der Reihe nach ertränkt -, zum anderen aber verweist bereits der Ti- tel auf eine weitere Ebene im Film. Läßt sich nämlich der Zuschauer auf das Zahlensuchspiel (ein beim einma- ligen Sehen beinahe sinnloses Unterfangen) ein, so be- steht für ihn die Gefahr, „in Zahlen zu ertrinken“ und, derart abgelenkt, den Überblick über bestimmte Handlungsstränge zu verlieren. Der Titel sagt nicht nur Inhaltliches voraus, sondern introduziert - indem er als Wortspiel verstanden werden kann - bereits das zentrale Thema des Films - das Spiel.

Aber er gibt noch einen weiteren Hinweis. Das Wort ‘Numbers’ spielt auf das Mittel zur Strukturierung des Films an. Greenaway konstruiert seine Filme oftmals thematisch und schnittechnisch nach exakt festgelegten Ordnungsprinzipien. Diese Prinzipien äußern sich u.a. in der Verwendung mathematischer Systeme, Statistiken, Taxonomien usw. Diese Systembesessenheit findet sich in Greenaways frühen Experimentalfilmen, aber auch in den darauffolgenden Spielfilmen. So ist z.B. „A Zed & Two Noughts“ gegliedert nach den acht Stadien der Evo- lution bei Darwin, nach den 26 Bildern Vermeers und den ebensovielen Buchstaben des Alphabets. Die Chrono- logie von „The Belly Of An Architect“ oder aber orien- tiert sich an der 9monatigen Dauer Louisas Schwanger- schaft und zeigt u.a.im Entstehen (Geburt Kracklites Kindes) und Vergehen des Lebens (Kracklites Tod) gleichzeitig den zirkulären Charakter des Daseins. Der Film findet so wiederum die Verbindung zum Inhalt und Titel (Kreis Æ Kugel Æ Boulleé Æ Bauch des Architek- ten).

Einhundert sind genug - die Zahlenreihe

In DBN nun greift Greenaway auf ein einfaches mathematisches System zurück. Der Film folgt der Zahlenreihe 1-100 und findet in ihr sein Strukturprinzip. Vorgegeben wird diese Struktur breits zu Beginn des Filmes. In dem den drei „Akten“ vorangestellten Prolog sehen wir das seilspringende Mädchen Elsie, das während des Springens die Sterne zählt. Der vorbeigehenden Cissie Colpitts 1 erzählt Elsie, daß sie alle Sterne mit Namen kenne. Cissie fragt sie daraufhin:

Cissie 1: Wieviele Sterne hast du gezählt?

Elsie: Einhundert.

C1: Es gibt aber mehr als hundert.

E: Ich weiß.

C1: Warum hast du dann aufgehört?

E: Einhundert sind genug. Wenn man schon hundert ge- zählt hat, sind alle anderen hundert gleich.3

Wie bereits erwähnt, dient der Prolog der Einführung des Strukturprinzips; auf spielerische Weise wird dem Zuschauer das Gerüst des Films, um das herum er sich aufbaut, präsentiert. Doch die Wahl der Zahlenfolge 1- 100 vermag ebenfalls zu zeigen, daß Erzählungen einer bestimmten Willkürlichkeit folgend gegliedert werden können. In DBN wird mit der Zahlenreihe eine Spielre- gel vorgegeben, aus der zu entweichen unmöglich scheint. Sowohl die Handlung als auch die Charaktere sind in diesem begrenzten Rahmen ‘gefangen’ und haben sich so dem vorgegebenen Schicksal zu fügen. Aus den Charakteren werden Spielfiguren, die sich auf dem ‘Spielfeld Handlung’ bewegen.

Indem die Zahl 1 den Beginn des Filmes darstellt und die Zahl 100 entsprechend das Ende, wird offensicht- lich, daß Struktur und Filmhandlung in einem iro- nisch-spielerischen Verhältnis zueinander stehen. Greenaway versteht die Zahlenreihe als Ausdruck der einfachsten Form von Erzählung: „ Counting is the most simple and primitive form of narration. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 - a tale with a beginning, a middle and an end and a sense of progression - arriving at a finish of two digits - a goal attained, a denouement reached. “ 4 Die Konsequenz für den Film ist folgende; da sich Greenaway der Serie als Strukturprinzip bedient, tritt die Erzählung zwangsläufig zurück und das Zahlensystem wird zum dominierenden Element des Filmes. Nach Greenaway ist ‘ the narrative [ ... ] the interior skeleton and the number count is an exterior skeleton

- an endoskeleton and an exoskeleton. ’ 5 Die Linearität der Zahlenreihe ersetzt somit die Linearität des Plots, wie sie im klassischen Erzählkino zu finden ist. Dem Regisseur gelingt es so, die Künstlichkeit der Erzählstruktur zu bewahren und für jedermann sichtbar zu machen. Greenaway selbst sagte auf der Pressekonferenz anläßlich der Uraufführung des Films:

‘ Das beste Kino ist für mich ein artifizielles Kino, ein Kino, das sich seiner Künstlichkeit bewußt ist und nicht versucht, so etwas wie Realismus oder Naturalismus anzustreben, was, wie ich denke, ein Anspruch ist, der sich sowieso nicht einlösen l äß t. ’ 6

Neben der Einführung der chronologischen

Handlungsvorgabe, greift der Prolog außerdem weitere Merkmale auf, die im Verlauf des Films an Relevanz Dasi Mädchen springt Seil und zeichnet so eine Kreis- struktur. Diese kann sich sowohl auf die Zahlenreihe 1-100 und die Äußerung Elsies, daß von einhundert an, alles Zählen Wiederholung wäre, bezogen werden, als auch auf die dreifache Wiederholung der Handlung des Films. Die Kreisstruktur wird damit zum Merkmal von Erzählung schlechthin.

Frau, Mann und das Zählen

Ebenfalls im Prolog erfährt der Zuschauer bereits von der Obsession der Handlungsträger; dem Zählen, das of- fenbar essentielle Bedeutungen für die Zählenden ha- ben kann. Nicht nur der Zuschauer zählt permanent, sondern auch die Charaktere.

Es ist offensichtlich, daß zwischen dem weiblichen Zählen und dem männlichen ein erheblicher Unterschied zu finden ist. Die Zählweise der Frauen, eingeführt durch Elsie, ist begrenzt und daher methodisch über- legt (‘Einhundert sind genug’). Das Zählen in Dreier- rhythmen illustriert diese Begrenztheit (Anfang-Mitte- Ende). Die Drei, Zahl der Vollkommenheit und Vollen- dung, ist Instrument der Frauen, das gegen ihre Männer eingesetzt wird. Kein Mord geschieht, ohne daß vorher nicht bis drei gezählt wird. Die Troika der Frauen - Verkörperung der Zahl Drei - symbolisiert Überlegen- heit, ein Umstand, der sich im Überleben der Frauen artikuliert.

Das Zählen der Männer, repräsentiert durch Smut, hin- gegen ist nun gänzlich verschieden. Es handelt sich hier um ein endlosen Zählen, Sammeln und Katalogisie- ren. Exemplarisch sei die Szene erwähnt, in der Smut versucht, die Haare eines Hundes zu zählen, nur um e- ben zu erfahren, wieviele auf dem Körper des Tieres sind. Diese Art des ‘unvernünftigen’ Zählens, das noch dazu oftmals dem bloßen Rekordjagen dient (Great Death Game), wird denn auch mit dem Tod ‘bestraft’.

‘Spiele können sehr gefährlich sein’

Es klang ist bereits an, daß nicht die Handlung DBN strukturiert, sondern der äußere Rahmen. Die zu erken- nenden drei Akte sind kaum logisch miteinander ver- knüpft, vielmehr, wie oben erwähnt, durch die Zahlen- reihe 1-100 und, darüber hinaus, auch durch die Spiele Madgetts und Smuts. Einerseits verbinden also die Spiele die jeweiligen Szenen miteinander und geben so Form und Inhalt des Filmes vor; andererseits aber er- öffnen sie ebenfalls Möglichkeiten zur Reflexion über die Rolle des Filmemachers und filmische Konventionen

- doch dazu später.

Um im weiteren Verlauf der Arbeit auf die Funktion der Spiele eingehen zu können, erscheint es zunächst unumgänglich, einige von ihnen näher zu betrachten.

Im Ganzen sind es elf Spiele, die im Filmverlauf ge- spielt und jeweils von Smut mittels voice-over einge- führt werden (Schloß der Träume; Höhenflüge der Phan- tasie oder: Sprünge mit umgedrehtem Striptease; Schafe und Gezeiten; Hahn und Telefon; Das Todesspiel; Fang oder stirb; Biene und Baum; Henkercricket; Tauziehen der Krieger ; Hängen und die Schnitzeljagd). Schon die Spieltitel zeigen dem Zuschauer die enge Verbindung zwischen Spiel und Tod. In Folge sollen lediglich drei derjenigen Spiele genauer vorgestellt werden, die am auffälligsten mit ihrer Todesthematik den Film kommen- tieren oder aber dessen Verlauf vorhersagen.

Das Spiel, welches einen wichtigen Bestandteil in DBN ausmacht, ist das „Todesspiel“. Es wird immer dann ge- spielt, wenn Smut den Leichnam eines Menschen oder Tieres findet, der bzw. das eines gewaltsamen Todes gestorben ist und durchzieht den gesamten Film wie ein roter Faden. Die Regeln sind wie folgt: die besten Ta- ge für einen gewaltsamen Tod sind die Dienstage, die Tage der gelben Farbe. Samstage sind entweder die zweitbesten oder die schlechtesten. Sie sind die Tage der roten Farbe. Die Wahl dieser Tage erfolgte nicht willkürlich, sondern erst, nachdem Smut statistisch die Häufigkeit von gewaltsamen Toden an bestimmten Ta- gen der Woche ermittelt hatte. Das Todesspiel ist nun der Wettstreit zwischen den roten und gelben Tagen, wobei die Tage der gelben Farbe mit 31 zu 29 Leichen führen. Unabhängig von der Farbe, wird jeder gewaltsa- me Tod mit einem Feuerwerk gefeiert. Mittels dieses Rituals wird der Tod aus seiner Normalität gerissen. Ein weiteres Spiel ist ‘Fang oder stirb’. Smut, Hardy, Madgett und die drei Cissies stehen im Kreis um ein Leichentuch herum und werfen sich zwei Kegel zu. Die Spielregel lautet: Wenn ein Mitspieler einen Kegel fallen läßt, werden ihm eine Reihe von Handycaps auf- erlegt. Als erstes darf er nur mit einer Hand fangen, danach muß er sich auf ein Knie knien, danach auf bei- de und schließlich muß er mit einem geschlossenen Auge fangen. Wenn ein Spieler letztlich den Kegel mit zwei geschlossenen Augen fallen läßt, ist er tot und muß sich auf das Leichentuch legen.

Für ‘Fang oder stirb’ trifft in ganz besonderer Weise zu, daß es die festgelegte Struktur des Handelns her- vorhebt. Dies geschieht dadurch, daß das Spiel den weiteren Verlauf des Filmes vorwegnimmt. Die Verlierer von ‘ Fang oder stirb’ sind ausschließlich die Männer, die darüber hinaus in exakt der Reihenfolge ‘sterben’, wie es die Filmchronolgie für sie vorgesehen hat.

Den Höhe- und zugleich auch Endpunkt des Filmes bietet das Endspiel, daß sich wiederum aus zwei Spielen zu- sammensetzt. Zum einen gibt es das ‘Tauziehen der Krieger’, zum anderen das ‘Hängen’. Bei ‘Tauziehen der Krieger’ handelt es sich um eine Art Schicksalsspiel, dessen Ausgang die endgültige Entscheidung über Gewin- ner und Verlierer des ‘Film-Spiels’ bringen wird. Ver- treten sind daher sämtliche, noch lebende, Akteure des Filmes; auf der einen Seite die Gegenverschwörung, die die Colpitts ‘zu Fall bringen’ wollen, auf der anderen Seite befinden sich die Cissie Colpitts und Madgett.

Da Smut plötzlich das Seil losläßt und das Spielfeld verläßt, verliert seine Seite und es ist nicht schwer zu schlußfolgern, wer die nächsten Opfer des Filmes sein werden.

Das abschließende, letzte Spiel bringt die Gewissheit. Bei dem Spiel ‘Hängen’ ist der Gewinner zugleich der Verlierer, daher ist es das „ beste Spiel von allen “ . Die Regeln sind einfach: es geht darum, das Wagnis einzugehen, mit einer Schlinge um den Hals aus einer Höhe zu springen, die ausreicht, um durch den Fall er- hängt zu werden. Smut erklärt den Sinn des Spieles: „ Dieses Spiel bestraft diejenigen, die durch ihre selbstsüchtige Handlung großes Unglück verursacht ha- ben. “

Während Smut sich reumütig erhängt (durch seine Mit- schuld ist seine Freundin Elsie auf der Straße über- fahren worden), verliert an anderer Stelle Madgett das Spiel mit den Cissie Colpitts, die den Nichtschwimmer im sinkenden Boot auf dem See seinem Schicksal über- lassen.

An der Auswahl der Spiele zeigt sich exemplarisch, was bereits zu Beginn des Kapitels festgestellt wurde - die Spiele dienen der formalen Gliederung des Filmes, spiegeln die Filmhandlung und haben darüber hinaus me- taphorischen und symbolischen Charakter. Ein Spiel wie ‘Fang oder stirb’ vermag u.a. die Spiegelung der Mak- rostruktur des Filmes zu erreichen, indem diese mit- tels einer mikrostrukturellen Ebene vorweggenommen wird (Reihenfolge der Tode der Männer vorher spiele- risch bestimmt).

Ein letztes Spiel sei an dieser Stelle erwähnt, da es sämtliche o.g. Potentiale des Spieles für den Film in sich vereint; gemeint ist das „Henkercricket“. Es wird zeitlich gesehen in der Mitte des Filmes ge- spielt, was durch das Erscheinen der Zahl 50 verdeut- licht wird. Das „Henkercricket“ kommentiert außerdem den Film durch die retro- und auch prospektive Sicht auf die Filmhandlung. So sind die Spielfiguren des „Henkercricket“ zum Teil identisch mit ihrer Charakte- risierung im Film. Hardy ist sowohl im Spiel als auch im ‘Leben’ der Geschäftsmann; Cissie II wird zur roten Königin, entsprechend ihrer Vorliebe für rote Klei- dungsstücke usf. Die Rollen im „Henkercricket“ sind folglich Anspielungen auf die Rollen, die im Film ge- spielt werden oder auf charakteristische Merkmale der Protagonisten.

Wenn Smut zudem den Ausgang des Spieles erläutert:

„ Schließlich ist der endgültige Verlierer gefunden und mußsich dem Henker ergeben, der immer gnadenlos ist. “, verweist er damit bereits auf das Filmende und den eigenen Tod.

Das „Henkercricket“ kann demnach als die Versinnbild- lichung der Filmhandlung verstanden werden und gleich- zeitig als ‘innerfilmischer’ Kommentar zur Story. Es ist ein Höhepunkt, da es auf allen Ebenen der Spiel- kunst funktioniert. „Henkercricket“ schafft eine Kom- mentarebene zum Film, spiegelt die Filmhandlung, glie- dert diese zugleich und scheint darüberhinaus konsti- tutiv für den Plot. Desweiteren erklärt es die Motiva- tion der Charaktere und deren Beziehung untereinander.

Das Kino als Spiel

Es klang bereits an, daß das Spiel in DBN nicht nur konstituierenden Charakter für die Filmkomposition hat, sondern auch symbolischen Charakter in Bezug auf die Rolle des Filmemachers und das Verhältnis zwischen Filmemacher und Publikum.

Greenaway selbst definiert das Kino als Spiel: „ Cinema is an elaborate game with rules. The aim of the game is to successfully suspend disbelief. The audience has been well trained over some eighty years of practice. Necessary circumstances are darkness and a bright projection-bulb and a screen. The audience agree to enter a dark space and sit facing in one direction. They will be prepared to sit for some hours usually in the evenings. “ 7 Greenaway meint mit dem Kino, das er hier beschreibt offensichtlich das traditionelle Er- zählkino, dessen Ziel es ist, Illusionen aufzubauen und so dem Rezipienten Identifikationsmöglichkeiten anzubieten. Das dies seinen Intentionen beim Filmema- chen widerspricht, zeigt sein Kommentar auf der Pres- sekonferenz in Cannes 1988 (S.7). Vielmehr liegt Gree- naway an einem Bruch mit dieser dominierenden Kinokon- zeption. So hinterfragt er Regeln und Konventionen, denen sie folgt. Der rigide Charakter des Erzählkinos, der u.a. Handlungsträger verlangt, die genau psycholo- gisch definiert sind oder der eine Linearität des Plots erfordert, schränkt in starkem Maße den Freiraum des Regisseurs ein und somit seine Kreativität. Dem stellt Greenaway ein Kino entgegen, das mit dererlei Konventionen spielerisch umgeht. Indem er sich tra- dierten Regeln widersetzt, gewinnt er vermeintlich ei- ne Freiheit, die nötig ist, um sich auf das ‘Spiel des Filmemachens’ einzulassen. Zweifelsohne ist auch die- ser Freiraum in einem gewissen Ausmaß limitiert; DBN zeigt das exemplarisch. Allein durch die Wahl der Zah- lenreihenstruktur als äußeren Rahmen, sind von Beginn an die Grenzen des Filmes gesteckt, denen sich der Filmemacher und sein Werk unterordnen müssen. Der Re- gisseur kreiert ein Film/ Spiel, ist aber zugleich in seiner gewählten Struktur/ Spielregel gefangen. Be- trachtet man Smut und Madgett - beide Schöpfer und Schiedsrichter ihrer eigenen Spielwelt -, erkennt man Parallelen zur Figur des Filmemachers. Insbesondere Smut lenkt mit seinen Spielen und deren Erklärungen den Filmablauf, führt demnach Regie in seiner Spiel- welt. Die künstliche Spielwelt ähnelt mit ihren Bedin- gungen, Voraussetzungen und Regeln auch der Welt des Filmemachens.

Was das Spiel mit den Zuschauern betrifft, so wird von Filmbeginn an gefordert, daß sich das Publikum auf Greenaways Spiel mit ihm einläßt. Greenaway intendiert ein Bloßlegen des Illusionscharakters des Hollywood- Erzählkinos. Da die Betonung des Strukturprinzips ge- genüber der des Plots Priorität genießt, wird der Ar- tefaktcharakter von DBN umso mehr deutlich. Der Zu- schauer wird an keinem Punkt das Bewußtsein darüber verlieren, selbst Teil eines konstruierten Spieles zu sein. „ It is true that the games and the numbers are arranged to remind the audience that they are watching a film and doing nothing else - for this is not a window on the world or a slice of reality. “ 8

Aber Greenaway involviert den Rezipienten nicht nur in das Zahlensuchspiel. Schon in der Einführung wurde darauf eingegangen, daß Greenaways Filme scheinbar nicht ohne Querverweise und Zitate aus Literatur, Ge- schichte und Kunstgeschichte auskommen. Für DBN trifft dies insbesondere auf der Ebene der Kunstgeschichte zu. Greenaway antwortet auf die Frage nach den Einflüssen: „ The work of certain mid-Victorian painters was important to DBN. Not the work so much of the Pre-Raphaelites, but painters also working alongside them and influenced by them from about 1849- 1860 - Arthur Hughes, William Dyce, William Windus, Madox Brown. “ 9 In bereits zuvor zitiertem Buch „Fear of Drowning“ bietet Greenaway eine explizite Auflistung derjenigen Werke, die Eingang in die Filmbilder gefun- den haben. Greenaway betont, daß die Wahl auf die mid- Victorians fiel, da diese, ähnlich den holländischen Malern des 17. Jahrhunderts, es meisterhaft verstehen, Realismus und Allegorien miteinander zu verbinden. So dienen die Bilder nicht nur der einzigartigen Wieder- gabe der englischen Landschaft, sondern haben darüber hinaus die Aufgabe „ to work as moral lessons “ 10 . Diese Intention führt zur Verwendung von Symbolen und Meta- phern, die dem heutigen Betrachter nicht immer geläu- fig sind. Da Greenaway zum Teil auf diese Symbole zu- rückgreift, setzt er beim Zuschauer Wissen über iko- nographische Traditionen der westeuropäischen Malerei voraus. Da dieses Wissen nicht selbstverständlich vor- handen sein kann, erscheinen Angriffe der Kritiker an diesem Punkt gerechtfertigt. Greenaway, der doch den Zuschauer ins Spiel miteinbeziehen möchte, schließt ihn in diesem Falle aus. Um diesem Vorwurf zu begeg- nen, schrieb er FOD mit der Absicht, Klarheit in be- stimmte Belange von DBN zu bringen und so dem Zuschau- er die aktive Teilnahme am Spiel zwischen beiden Par- teien zu ermöglichen.

Neben den mid-Victorians nimmt Greenaway in seinem Film außerdem Bezug auf die Stillebentradition. Nach- dem, in Folge der Reformation, im protestantischen Norden die religiöse Malerei langsam verschwand, war es vor allem die Stillebenmalerei, die populär wurde. Für Greenaways Filme sind insbesondere die niederlän- dischen Vanitas-Bilder, die in der Barockzeit entstan- den relevant. Diese Bilder dienten der steten Verge- genwärtigung der Vergänglichkeit alles Irdischen. Hin- weise auf die Vergänglichkeit wurden einerseits direkt in Form von Totenschädeln geliefert oder aber mehr an- deutend in Gestalt umgestürzter Gläser, Sanduhren etc. In DBN sind es u.a. die kurzlebigen Insekten -Käfer, Spinnen, Schmetterlinge-, symbolisch für Tod und Ver- gänglichkeit stehend, die in Stilleben arrangiert wer- den. Mittels der Stilleben gelingt es dem Regisseur den Filmfluß ‘anzuhalten’, den Film still stehen zu lassen. In diesen Momenten hat der Zuschauer die Mög- lichkeit, das bereits Gesehene mit dem aktuell vor dem Auge erscheinenden Bild in Verbindung zu bringen. Er kann die Beziehung zwischen den Tod evozierenden In- sekten und der Handlung -der Ermordung der Ehemänner- herstellen. Über dieses Kommentieren des Filmes hin- aus, dienen diese Stilleben der Fortführung des Zah- lensuchspieles, verbergen sie doch nebenbei auch ge- suchte Ziffern.

Indem Greenaway mit diesen Stilleben in den Filmfluß eingreift, nutzt er sie ebenfalls zur spielerischen Reflexion über das Verhältnis Beziehung zwischen dyna- mischen Filmbild und statischem Gemälde. In FOD schreibt er dazu: „ It is an engaging game to transpose some of these ruminative definitions of the ‘ still- life ’ genre into ‘ moving ’ cinema. In the strict comprehension of the word - the ‘ lifes ’ are no longer ‘ still ’ (though the movement is minimal) and the nature is not ‘ morte ’ (though always short-lived) [ ... ] . “ 11

Zusammenfassung

Es ist deutlich geworden, daß Greenaways vierter Spielfilm ganz im Zeichen des Spieles steht. Diese Spiele funktionieren in der Auseinandersetzung mit dem Illusionscharakter des Hollywood-Erzählkinos, da mit ihrer Präsenz der Artefaktcharakter des Filmes an sich verdeutlicht wird (schaffen Kommentarebene und spie- geln Filmhandlung). So wird dem Zuschauer mittels der Serie als Strukturprinzip der, vom Autor konstruierte, Rahmen einer jeden Erzählung (ob in Literatur oder Film) vor Augen geführt. Letzlich zeigt Greenaway in der Verwendung von Zitaten aus der Kulturgeschichte etc., daß allein der Filmemacher die Regeln des Spiel- Filmes festlegt, daß es z. B. nur ihm obliegen kann, wie vieler Intertexte er sich bedient usf. DBN ermög- licht so eine umfassende Reflexion über das Medium Film und steht exemplarisch für europäische Beiträge des Art-Cinema.

Literatur

1.Christiane Barchfeld: Filming by Numbers: Peter Greenaway: ein Regisseur zwischen Experimentalkino und Erzählkino, Tübingen: Narr, 1993.

2.Peter Greenaway: Fear of Drowning, Règles du Jeu, Paris: Dis Voir, 1989.

3.Detlef Kremer: Peter Greenaways Filme: Vom Überleben der Bilder und Bücher, Stuttgart; Weimar: Metzler, 1995.

[...]


1 Der Filmtitel wird im folgenden mit DBN abgekürzt

2 zum besseren Verständnis befindet sich eine die Auflistung der Hauptdarsteller im Anhang

3 sämtliche Filmzitate werden der deutschen Fassung von DBN (Verschwörung der Frauen) entnommen

4 Peter Greenaway: Fear of Drowning, Règles du Jeu, Paris: Dis Voir, 1989. p.23 (im folgenden mit FOD abgekürzt)

5 ibid , p. 25

6 Pressekonferenz Cannes 1988 (Übersetzung Joseph Schnelle)

7 FOD, p. 83

8 FOD, p. 7

9 Alan Woods: Being Naked-Playing Dead: The Art Of Peter Green- away.Manchester University Press, Manchester, 1996.

10 ibid.

11 FOD, p. 45

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Zu Strukturprinzipien und der Bedeutung des Spiels in "Drowning by Numbers" von Peter Greenaway
Hochschule
Universität Potsdam
Note
1,0
Autor
Jahr
1998
Seiten
19
Katalognummer
V101887
ISBN (eBook)
9783640002962
Dateigröße
373 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Strukturprinzipien, Bedeutung, Spiels, Drowning, Numbers, Peter, Greenaway
Arbeit zitieren
Anja Dietrich (Autor:in), 1998, Zu Strukturprinzipien und der Bedeutung des Spiels in "Drowning by Numbers" von Peter Greenaway, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/101887

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