Bleib, mein Freund - Zugänge zu Ralf Rothmanns Roman "Flieh, mein Freund!"


Facharbeit (Schule), 1998

25 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


INHALT

1. DER BEGINN EINER WUNDERBAREN FREUNDSCHAFT
MEIN ERSTER KONTAKT MIT DEM ROMAN

2. ÜBER DIESE ARBEIT

3. WORUM ES IM ROMAN GEHT
INHALTSANGABE

4. DIE WICHTIGSTEN FIGUREN

5. DIE ZEITSTRUKTUR DES ROMANS

6. INTERPRETATION EINER SCHLÜSSELSZENE

7. DER BEGINN EINER WUNDERBAREN FREUNDSCHAFT? MEIN URTEIL ÜBER DEN ROMAN

8. WENN ICH DEN ROMAN VERFILMEN WÜRDE
UMSETZUNG DES WERKES IN DAS MEDIUM FILM

9. ANHANG

BIBLIOGRAPHIE

DANKE

ERKLÄRUNG

1. DER BEGINN EINER WUNDERBAREN FREUNDSCHAFT

MEIN ERSTER KONTAKT MIT DEM ROMAN

Es war ein Abschiedstag. Abschied von der Sonne, Abschied vom Meer, Abschied vom Süden. Es war der Tag, an dem wir auf dem Weg von Frankreich nach Hause waren. Nach drei Wochen Südeuropa würden wir heute Abend die Grenze nach Deutschland überqueren.

Es lag eine eigenartige Stimmung in der Luft, wie wir so zwischen Urlaub und Alltag dahinfuhren. Eigentlich waren die freien Tage noch nicht vorbei, aber je dunkler es draußen wurde, desto häufiger begegneten uns Autos mit deutschen Kennzeichen und desto klarer wurde uns: Es ist vorbei. Dabei hatte das durchaus gute Seiten. Es wartete ein Bett und kein Schlafsack auf uns. Wir würden wieder ohne Hindernisse einen Kaffee bestellen können. Wir würden wieder verstehen können, was zwi- schen den Liedern im Radio gesprochen wird. Um genau das testen zu können, schaltete ich das Au- toradio ein und suchte einen deutschen Sender. Und tatsächlich, es fand sich einer. Kein wirklich gu- ter, weil keine Musik gespielt wurde, aber das was da zu hören war, war in der uns vertrauten Spra- che gesprochen.

Es war eine Lesung. Allerdings hatte sie schon begonnen, und wir wußten daher nicht, was und vor allem wen wir da hörten. So lauschten wir also, während wir uns stetig der Grenze näherten, den Worten eines uns unbekannten Mannes.

Und was wir da hörten, war richtig gut. Es war humorvoll, ohne lächerlich zu sein. Es war unter- haltsam, ohne flach zu sein. Und es war vor allem poetisch, ohne kitschig zu sein. Ich beschloß, mir die Namen des Autors und des Werkes zu merken, falls sie am Ende der Lesung genannt werden würden.

Sie wurden: Ralf Rothmann, "Flieh, mein Freund!".

Es war ein Abschiedstag. Und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

2. ÜBER DIESE ARBEIT

In dieser Arbeit werde ich mich mit dem Roman "Flieh, mein Freund!" von Ralf Rothmann, der 1998 in Frankfurt/Main erschienen ist, beschäftigen. Ich werde, nach einer kurzen Zusammenfassung des Inhalts und der Vorstellung der wichtigsten Figuren, eines der entscheidendsten Kompositionsprinzipien des Werkes, nämlich die Zeitstruktur analysieren. Danach werde ich den Roman mithilfe einer Interpretation einer kürzeren Textstelle auch im Detail untersuchen, um mir am Ende ein Urteil über die literarische Qualität des Werkes bilden zu können. Zum Abschluß werde ich mir einige Gedanken über eine eventuelle filmische Umsetzung des Romans machen.

Ich habe mir bewußt ein Werk ausgesucht, daß so neu ist, daß bis jetzt noch keine Sekun- därliteratur erschienen ist. Mich hat die Vorstellung gereizt, einen Roman zu analysieren, ohne vorher von anderen Kritikern Meinungen und Urteile über den Roman zu rezipieren und vielleicht (zum Teil unbewußt) zu übernehmen. Ich wollte mich bei meiner Arbeit nicht hinter Namen von anderen Inter- preten verstecken. Deshalb wird meine Literaturliste am Ende der Arbeit ausschließlich Werke ent- halten, die ich zu Hilfe genommen habe, um mit einigen literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen beim Analysieren eines Romans besser arbeiten zu können, nicht jedoch, um Behauptungen in meiner Arbeit zu untermauern.

Schließlich liegt mir noch die Feststellung am Herzen, daß ich, wenn ich in meiner Arbeit vom Leser spreche, natürlich auch die Leserin meine.

3. WORUM ES IM ROMAN GEHT

INHALTSANGABE

Ralf Rothmanns Roman "Flieh, mein Freund!" ist aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geschrieben. Im Mittelpunkt steht die Figur Louis Blaul, genannt Lolly. Es ist die Geschichte seines bisherigen Lebens, die Geschichte seiner ersten großen Liebe, die Geschichte seiner Selbstzweifel und Ängste. Und nicht zuletzt auch die Geschichte einer ungewöhnlichen Mutterliebe. Der Roman spielt in Berlin Mitte der neunziger Jahre. Im Jetzt sozusagen.

Bei dem Ich-Erzähler handelt es sich um den scheuen und ängstlichen Lolly. Lolly ist Anfang zwanzig und im Ruhrgebiet bei seinen Großeltern aufgewachsen. Seit einiger Zeit lebt er jedoch in Deutschlands Hauptstadt, die er nicht mag und die ihn auch nicht zu mögen scheint. Zunächst ist Lolly mit sich und seinem derzeitigen Leben ziemlich unzufrieden.

Um den Protagonisten herum reigen sich die weiteren Figuren des Romans. Zu nennen ist sein Vater Martin, ein Ex-Hippie, der in seiner Werbeagentur seine Seele verkauft (vgl. Roth. S. 34) und seine Mutter Mary, eine Weltenbummlerin. Die Familie lebt aus Gründen, die noch deutlich werden nicht zusammen und tat dies auch nie. Eine weitere wichtige Figur ist Lollys Freundin Vanina, die unter anderem durch ihre goldener Stimme und ihr ausladendes Hinterteil charakterisiert wird. All diese Figuren erschließen sich dem Leser fast ausschließlich aus den rückblickenden Erläuterungen des Erzählers. Auch auf diesen Punkt werde ich später noch ausführlich eingehen.

Diese Erläuterungen beziehen sich auf eine Zeitspanne, die vor der Zeugung Lollys beginnt und durch eine Art Nachtrag erst nach dem Jetzt endet, aus dem heraus der gesamte Roman erzählt ist. Dabei sind die Erläuterungen keinesfalls chronologisch aufgebaut, sondern folgen fast immer als Erklärungen, Erinnerungen oder als Beispiele den Meinungen, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten die der Erzähler äußert. Auf dieses Kompositionsprinzip werde ich unter der Überschrift "Die Zeitstruktur des Romans" im einzelnen eingehen.

Am Ende des Buches hat der Protagonist einige seiner Ängste überwunden. Er springt über sei- nen eigenen Schatten und löst zumindest ein paar der Konflikte, die im Laufe des Buches entstanden sind. Andererseits endet das Buch jedoch auch offen, mit einer Anregung zum Weiterdenken und weiter denken.

4. DIE WICHTIGSTEN FIGUREN

4.1. Lolly

Der zwanzigjährige Lolly ist, wie bereits dargestellt worden ist, die Hauptfigur des Romans und fungiert gleichzeitig als Ich-Erzähler. Nur über ihn bekommt der Leser also den gesamten Roman vermittelt. Nach Jochen Vogt bedeutet ein Ich-Erzähler für einen Roman, daß die Ereignisse unmit- telbarer und emotionaler, aber auch aus einer eingeengten Erzählperspektive geschildert werden, als etwa bei einem Roman mit einem auktorialen Erzähler.1 Ein weiterer wichtiger Aspekt in vielen Ro- manen, in denen ein Ich-Erzählers auftaucht, ist das zweimalige Erscheinen des Erzählers. Zum einen tritt er als derjenige auf, der dem Leser berichtet, und zwar von vergangenen Zeiten, von Vorgängen, die lange schon abgeschlossen sind. Zum anderen ist er auch eine handelnde Figur in eben jenen Er- eignissen. Durch dieses doppelte Auftreten im Roman entsteht oft eine Identitätsproblematik, die für Franz K. Stanzel das "echte typenbildene Merkmal des Ich-Romans"2 ist.

In Rothmanns "Flieh, mein Freund!" gibt es jedoch keine zwei Ichs. Es gibt nur den jungen Mann Lolly, der aber auch so schon genug Identitätsprobleme hat. Denn er beschreibt sich nicht nur fast ausschließlich mit negativen Eigenschaften und Charakterzügen, sondern deutet auch Aussagen seiner Umwelt über sich negativ um. An seiner eigenen Person scheint ihm gar nichts zu gefallen. So be- hauptet er etwa, eine dünne Stimme und keine Handschrift zu haben, ein nur mäßiger Liebhaber und ein großer Angsthase zu sein:

"Ich finde, ich hab eine mickrige Stimme. Überhaupt nicht männlich. Irgendwie dünn. Wenn ich das Diktiergerät einschalte, spricht ein anderer. Hört sich jedenfalls so an. - Doch eine Handschrift hab ich auch nicht, noch nie gehabt. Was ich mir morgens notiere, guckt mich abends mit fremden Augen an." (Roth. S. 9)

Noch viel schlimmer steht es um sein Äußeres. Daß er eine schlaksige Figur hat, blaß und kurz- sichtig ist, hält er noch für halbwegs normal. Ein Schulfreund weist ihn jedoch eines Tages darauf hin, daß er schielt und über diese Behauptung kommt Lolly lange Zeit nicht hinweg. Dem Leser bleibt bis zum Ende des Romans unklar, ob diese Behauptung wirklich stimmt oder nicht. Lolly deutet jeden- falls auch hier die Aussagen anderer Personen, wie die seiner Mutter, seiner Großeltern und sogar seiner Freundin Vanina, immer so um, daß sie ihm die Diagnose des Freundes bestätigen. Um sein angebliches Schielen zu verbergen, trägt er die ohnehin nötige Brille mit einer 95 %igen Tönung.

4.2. Der Vater

Außer der eigenen Person gibt es nur eine einzige weitere Figur im Roman, die vom Protagonisten durchweg negativ beschrieben wird, die seines Vaters Martin Blaul. Ihn beschreibt er mit Attributen wie ungeschickt, plump und fett (vgl. z.B. Roth. S. 11f.) Für Lolly ist sein Vater ein Versager, einer, der seine Träume verraten hat, bei dem die langen Haare das einzige sind, was aus seiner Hippie- Zeit übrig geblieben ist:

"Das einzige, was so einer wie Onkel Umsatz wirklich verkauft, ist seine Seele. Und wenn er es nie besser gewußt, wenn er nie von etwas anderem geträumt hätte, wäre es vielleicht sogar in Ordnung. Aber mein Vater war ein echter Hippie, Mensch! Der mußte zu Hause um seine Haarlänge kämpfen und ist mit so geilem Zeugs wie den Beatles, den frühen Stones und Jim Morrison groß geworden! Der hat Trips geschmissen und auf Open-Air-Konzerten rumgevögelt." (Roth. S. 34)

Der Vater vereint alle Eigenschaften, die der Protagonist an seiner Umwelt verachtet. Er ist für Lolly ein Vertreter einer Generation, die ihre Chancen, eine bessere Welt zu schaffen, vertan hat. (vgl. Roth. S. 110) Er verdient sein Geld nicht mit handwerklicher, sondern mit geistiger Arbeit. (vgl. Roth. S. 32f, 38f) Und er ist ein Mann. Auch das läßt ihn im Ansehen seines Sohnes, für den alles Weibliche das Göttliche verkörpert, kaum steigen.(vgl. z.B. Roth. S. 22f)

4.3. Die Mutter

Die Figur der Mary, der Mutter des Ich-Erzählers, nimmt neben Lolly die wichtigste Rolle im Roman ein. Das ist schon allein daran zu erkennen, daß fast ausschließlich sie es ist, die neben Lolly in der ersten und wichtigsten Zeitebene eine Rolle spielt. Auf diesen Punkt möchte ich später noch genauer eingehen.

Die Mutter wird als eine kleine, labile, sprunghafte und zum Teil auch unentschlossene Person mal mit langen blonden, mal mit kurzen schwarzen Haaren dargestellt. Sie wird jedoch ebenso als schön und intelligent charakterisiert. Lolly jedenfalls hebt in seinen Beschreibungen immer wieder ihre Schönheit hervor. Dem Leser bleibt nicht verborgen, daß Mary auch eine erotische Anziehung auf ihren Sohn ausübt. (vgl. z.B. Roth. S. 41) Auch Mary läßt ihren Sohn immer wieder spüren, daß sie ihn durchaus anziehend findet:

"Blitzschnell, als hätte sie geahnt, daß ich die Tür öffnen würde, griff sie mir in die Haare, drängte sich an mich und schnappte, die Augen fast schon geschlossen, nach meinem Mund. Sie sog die Unterlippe etwas ein, wobei sie einen kleinen, wohligen Laut von sich gab ..." (Roth. S. 41)

Diese beiderseitige Anziehung gipfelt in einer eindeutig erotischen Begegnung der beiden, nach der zumindest die Figur Lolly sich wandelt.

Mary hat ähnlich wie der Vater eine Hippie-Jugend hinter sich. Sie hat jedoch etwas ganz an- deres daraus gemacht. Als sie mit Lolly schwanger war, wurde sie aus Liebe zu einem anderen Mann zur Drogenschmugglerin, was einen 6jährigen Gefängnis- und Psychiatrieaufenthalt nach sich zog.

Die Mutter weiß aufgrund ihrer häufigen Reisen, die sie im Anschluß an diese sechs Jahre unternahm, viel über fremde Kulturen und Religionen. Sie kommt häufig auf skurrile Geschichten und Erlebnisse zu sprechen, die alle in einer exotisch-fremden Welt spielen:

"Warte mal, wer sagte das. Irgend so ein weiser Feuerschlucker. Ein Mädchen, daß dich mag, ist ja nur scheinbar ein Mädchen, das dich mag. In Wahrheit verkörpert es die reinste und leidenschaftlichste Form der göttlichen Liebe, die dir auf Erden zuteil werden kann. Amen." (Roth. S. 122)

Solche Äußerungen und daß die fast immer, wenn sie im Buch auftaucht, einen Joint raucht, also fast immer im bekifften Zustand ist, lassen die Figur fremd, zum Teil wie von einer anderen Welt wirken. Sie scheint ihre Umwelt nur zeitweilig und unwirklich wahrzunehmen und die Dinge sehr viel leichter und unernster zu nehmen, als ihr Sohn. Dem geht dieses Vor-sich-Hindösen seiner Mutter zuweilen sehr auf die Nerven. Er fühlt sich unverstanden und nicht ernst genommen (vgl. Roth. S. 124f), wirft vor allem ihr, jedoch auch seinem Vater vor, ihm nie eine Familie und Geborgenheit gegeben zu haben. Jedoch verzeiht er seiner Mutter ihre Vergangenheit und Gegenwart eher als seinem Vater. Wohl auch, weil ihre Welt ihm Geheimnisvolles und Fremdes zeigt.

4.4. Vanina und Mara

Vanina, die Freundin Lollys, ist die große Sympathieträgerin des Romans. Über sie wird nicht ein negatives Wort geschrieben. Und sogar ihr größtes Makel, ein recht großes Hinterteil, mit dem bzw. mit den Äußerungen anderer darüber vor allem Lolly einige Probleme hat, wird vom Autor am Ende des Romans in ein positives Licht gerückt. Denn auch hier bestätigt sich die Vermutung des Lesers, daß der Protagonist während des Romans eigentlich wertfreie oder sogar positive Äußerungen seiner Umwelt ins Negative umdeutet. (vgl. Roth. S. 260f)

Über Vaninas Äußeres erfährt der Leser von allen Figuren am meisten. Sie wird als kleine burschikose Person mit halblangem, dunkelblondem Haar und großen zartblauen Augen beschrieben. Außerdem schwärmt Lolly von ihrer Stimme, die wie ein "Silberhämmerchen" (Roth. S. 64) klingt, und von ihren atemberaubenden Waden und Lippen.

Vanina scheint die einzige Figur im Roman zu sein, die keinen mehr oder weniger großen seelischen Schaden hat. Sie begeht keine schwerwiegenden Fehler und wird von allen gemocht. "... und wie sie Vanina, 'unsere Vanina', immer nur 'putzig', 'niedlich', 'lieb' und handlich fanden..." ( Roth. S. 98) Sie, Krankenschwester von Beruf, ist hilfsbereit und ohne Argwohn, ohne dabei naiv zu wirken. Über ihr näheres Umfeld wird wenig berichtet, nur, daß sie zuerst in einer Frauen-WG wohnt und später mit ihrer Freundin Mara zusammen zieht. Mara stellt das genaue Gegenteil zu Vanina dar. Ein rotgelockter Männertraum mit eiskalter, berechnender Seele und völlig skrupellosem Charakter. Den Protagonisten scheint sie jedoch mit ihrer Schönheit nicht blenden zu können:

"Lag es an der sommersprossigen, irgendwie alabasternen Haut, oder daran, daß die Körperhaare fast die selbe Farbe, wie das Parkett hatten - in dem großen Raum war ih- re Nacktheit so unspektakulär wie eine angeknipste Glühbirne im Sonnenschein." (Roth. S. 233)

Dennoch läßt er sich von ihr verführen, wobei er den Sex mit ihr fast mit Ekel beschreibt. Am En- de des Romans möchte er genau diesen Fehler wieder gutmachen und sich mit Vanina, die sich auf- grund seiner Untreue von ihm getrennt hat, wieder versöhnen. Es bleibt offen, ob es ihm gelingt.

5. DIE ZEITSTRUKTUR DES ROMANS

5.1.

Nach Jochen Vogt ist die Zeit ein, wenn nicht sogar das wichtigste Element eines Romans. Der greifbarste Aspekt der Zeitgeststaltung ist das Zusammenspiel von Erzählzeit, der Zeit, die es braucht, um den Roman zu lesen bzw. erzählt zu bekommen, und erzählter Zeit, die Zeitspanne, die

im Roman beschrieben wird.3 In Rothmanns Roman umfaßt, wie in den meisten anderen Romanen auch, die erzählte Zeit außer bei der direkten wörtlichen Rede eine größere Zeitspanne, als die Er- zählzeit. Laut Lämmert ist es in einem Roman sehr wichtig, daß das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit möglichst abwechslungsreich variiert.4 Dies ist in "Flieh, mein Freund!" sehr klar der Fall. So gibt es einerseits Passagen, in denen Ereignisse ausführlich und detailliert beschrieben werden (vgl. z.B. Roth. S. 111ff) und andererseits Abschnitte, in denen Vorgänge in einem Zeitrah- men über Jahren hinweg stark zusammengerafft werden (vgl. z.B. Roth. S. 126f). Daß er Roman auf den Leser so lebendig und bunt wirkt, hat jedoch nicht nur mit den wechselnden Verhältnissen von Erzählzeit und erzählter Zeit zu tun. Der Autor nutzt ein weiteres Element der Zeitgestaltung noch viel intensiver. Er durchzieht den Roman mit drei Zeitebenen. Auf diese Ebenen möchte ich im folgenden einzeln eingehen.

5.2.

D??ie erste Zeitebene ist, wenngleich nicht die umfangreichste, so doch die wichtigste, da aus ihr heraus die beiden anderen erzählt werden. Im Vergleich zu den beiden anderen Ebenen umfaßt sie die kürzeste Zeitspanne, nämlich den Verlauf eines Tages im Mai vom Nachmittag bis zum Morgen des darauffolgenden Tages.

Lolly möchte vor Beginn dieses Zeitverlaufs seinen Freund Kosta besuchen, findet aber nicht ihn, sondern seine Mutter Mary in dessen Wohnung vor. Im Laufe des nun folgenden, im Grunde ge- nommen nicht sehr gehaltvollen Gespräches, fordert Mary ihren Sohn auf, ihnen beiden etwas zu Es- sen zu besorgen. Daher verläßt Lolly die Wohnung vorübergehend. Nachdem er einen Tausend- markschein, den ihm seine Mutter zwecks Bezahlung der Speisen mitgegeben hat, in einer Bank wechseln läßt, - es kommt hier, nachdem er in der Bank sehr gemein behandelt wurde, zu einem brutalen Tagtraum des Protagonisten - lädt Lolly über die Sekretärin auch den zu diesen Zeitpunkt nicht persönlich zu erreichenden Vater zum Essen in die Wohnung ein. Als der Protagonist die Woh- nung wieder betritt, ist seine Mutter eingeschlafen. Während er auf ihr Erwachen wartet, wird es A- bend und Nacht. Nachdem Mary wieder erwacht ist, bekommt Lolly im weiteren Verlauf des Ge- sprächs einen Tränenausbruch und seine Mutter tröstet ihn. Infolgedessen und einer Rauferei kommt es zu einer erotischen Begegnung zwischen Mutter und Sohn. Diese ist jedoch nur angedeutet, und es bleibt dem Leser verborgen, ob es zum Inzest kommt oder nicht. Am nächsten Morgen ist die Mutter verschwunden. Statt dessen steht der Vater auf einmal in der Küche, um am angekündigten Familientreffen teilzuhaben. Auch zwischen Vater und Sohn entspinnt sich ein Gespräch.

Die zweite Zeitebene beginnt ca. 5 Monate vor der ersten Ebene, genauer gesagt am Silve- sterabend des Vorjahres. An diesem Abend lernt der Protagonist Lolly seine spätere Freundin Vani- na kennen. Erzählt wird der Beginn ihrer Liebe, ihr Glück und ihre Verliebtheit, aber auch ihre an- fänglichen sexuellen Schwierigkeiten, die Probleme mit Vaninas Wohngemeinschaft und ihr Umzug in eine neue Wohnung mit der Freundin Mara. In dieser Wohnung betrügt Lolly seine Freundin mit Mara, woraufhin sie ihn verläßt und mit Mara nach Rom reist.

Der Zeitfaden erstreckt sich über das Frühjahr bishin zu jenem Mai, in dem die erste Zeitebene beginnt. Im Vergleich zu dieser ist die zweite sehr viel gröber, insofern zwischen den erzählten Ereig- nissen mehr Abstände liegen. Trotzdem nimmt sie im Buch ungefähr doppelt so viel Platz ein, wie die erste Ebene.

Die dritte Zeitebene umfaßt in groben Zügen Lollys gesamtes bisheriges Leben. Und mehr noch, die am weitesten zurückliegende Episode beginnt vor seiner Geburt Anfang der siebziger Jahre, als Mary neunzehnjährig aus Ostberlin nach Westdeutschland kommt.

Während die ersten beiden Zeitebenen in der Regel chronologisch erzählt werden, treten die Teile der dritten Ebene episodenhaft als Erinnerungen des Protagonisten auf. Sie werden zumeist als Bei- spiele oder Bekräftigungen an Aussagen und Meinungen des Ich-Erzählers angehängt (vgl. z.B. Rothmann S. 74ff). Erinnerungen aus der Kindheit tauchen ebenso auf, wie Erlebnisse, die vor einer Woche passiert sind.

Die dritte Ebene macht im Vergleich mit den beiden anderen Ebenen den größten Anteil des Ro- mans aus. Während die ersten beiden Ebenen ungefähr 45 bzw. 70 Seiten umfassen, nimmt sie den Rest der knapp 280 Seiten der Romans ein, also mehr als das Doppelte der beiden ersten Ebenen zusammen.

5.3.

Der Roman ist zum größten Teil in zwei Zeitformen, nämlich im Präteritum und im Präsens geschrieben. Nach Jochen Vogt vermittelt das epische Präteritum dem Leser eine "fiktionale Gegenwärtigkeit"5. Im Gegensatz zum historischen Präteritum, das in der Regel für die Wiedergabe wirklich passierter, abgeschlossener Vorgänge verwendet wird, dient das epische Präteritum dazu, weder reale, noch vollendete Ereignisse zu beschreiben. Der Leser hat so das Gefühl, während seiner Lektüre am fiktionalen Geschehen beteiligt zu sein.

Rein grammatikalisch unterscheiden sich historisches und episches Präteritum nicht voneinander. Daß es sich in einem Roman um ein episches Präteritum handelt, läßt sich vielmehr daran erkennen, daß dem Leser innere Zustände der Figuren offengelegt werden (z.B. er wünschte sich) und daß je- des beliebige Zeitadverb mit Verben im Präteritum kombiniert werden kann. Läßt sich mit den Wörtchen war im historischen Präteritum nur ein gestern oder allenfalls noch ein heute verknüpfen, so ist im epischen Präteritum eines Roman auch ein morgen war möglich.6 Wenn jedoch ein Ich- Erzähler durch den Roman führt, sieht die Sache etwas anders aus, insofern der Leser nur dessen in- nere Zustände vermittelt bekommt. In diesem Punkt unterscheidet sich das in solchen Romanen ver- wendete Präteritum nicht von seinem historischen Pendant. Und trotzdem erhebt ein Roman mit einem Ich-Erzähler keinen Anspruch auf Realität. Daher nennt Käthe Hamburger nennt diese Form des Präteritums auch "fingiertes historisches Präteritum"7.

Rothmann verwendet in seinem Roman jedoch, wie oben schon erwähnt, nicht nur das eben beschriebene Präteritum, sondern zu einem fast ebenso großen Teil auch das Präsens. Man könnte nun vermuten, daß der Autor diese zwei Tempusformen dazu genutzt hat, die drei Zeitebenen voneinander zu trennen. So ist es aber nicht. Wie die Zeitformen im Roman tatsächlich genutzt werden, werde ich später beschreiben. Sie sind im Roman so sehr ineinander verschachtelt, daß sich die eigentliche Zeitstruktur dem Leser erst bei genauerem Hinsehen erschließt.

Einen ersten Hinweis auf die erste Zeitebene, die, wie oben schon gezeigt, damit beginnt, daß Lolly Kostas Wohnung betritt, findet man bereits auf der ersten Seite des Romans, einen zweiten ca.

15 Seiten später (vgl. Roth. S. 7, 21). Natürlich weiß der Leser an diesen Stellen davon noch nichts. Das Buch beginnt nämlich mit einer Szene, in der Lolly beschreibt, wie er darauf wartet, daß Mary, von der der Leser noch nicht weiß, daß sie seine Mutter ist, aufwacht. Der Leser bekommt die zu- sätzlichen Informationen, daß es ein Abend im Mai ist. Erst auf Seite 187, als die Szene noch einmal beschrieben wird, können ihm diese Zusammenhänge auffallen. Und erst an dieser Stelle weiß der Leser, daß es sich um eine eigene Zeitebene handelt. Zu Beginn des Buches wird also eine Szene mitten aus der ersten Zeitebene herausgegriffen. Die eigentliche Geschichte der ersten Zeitebene be- ginnt jedoch erst auf Seite 111 mit den Worten "Als ich endlich mal wieder mit ihm [Kosta] sprechen wollte, wars schon Mai, ein verdammt heißer Mai und in den Straßen stank es wie im Arsch der Endzeit." (Roth. S. 111). Von dieser Stelle an wird die Handlung dieser Ebene chronologisch erzählt, wobei allerdings mehr oder weniger große Einflechtungen der zweiten und dritten Zeitebene zu finden sind. So endet diese eigentlich nur 45 Seiten lange Handlung erst auf Seite 270.

Die beiden anderen Zeitebenen werden, wie oben bereits von mir angedeutet, aus der ersten Zeitebene heraus erzählt. Der Leser befindet sich also in einer eigentlich in sich geschlossenen Erzählung, bekommt aber vom Protagonisten noch zwei weitere Handlungsstränge vermittelt. Den größten Teil, jedoch nicht alles, dieser beiden anderen Ebenen erzählt Lolly während er auf das Erwachen seiner Mutter wartet. Wie es jedoch zum Beispiel zur Trennung von Vanina kommt, scheint sich dem Leser hingegen durch eine Erinnerung Lollys während eines Gesprächs mit seiner Mutter über Vanina zu erschließen. Es ist, als ob der Leser in die Gedanken des Protagonisten sehen kann. Und auf dieser gedanklichen Ebene spielen sich die beiden anderen Zeitebene ab.

Auch bei der zweiten Zeitebene, der Geschichte von der Liebe zwischen Lolly und Vanina also, nimmt der Autor zuerst ein Ereignis, welches erst viel später passiert, vorweg. Mit diesem leitet er die Ebene ein. Er beginnt mit Mara, der Freundin Vaninas, und mit einem Vorgriff darauf, daß die beiden zusammenziehen (vgl. Roth. S. 59). Anders als bei der ersten Zeitebene stehen hier im Ro- man Vorgriff und eigentlicher Beginn direkt hintereinander. Die Handlung wird also mit der Voraus- deutung direkt eingeleitet, und zwar vor dem eigentlichen Beginn der ersten Zeitebene, aus der her- aus die zweite ja geschildert wird. Und um die Ebenen noch mehr ineinander zu verstricken, läßt der Autor sowohl die Handlung der zweiten Zeitebene, als auch die der dritten erst nach Abschluß der ersten enden. Nach der erotischen Begegnung mit seiner Mutter, die die erste Ebene quasi abschließt, hat sich der Protagonist soweit gewandelt, daß er den Konflikt der zweiten Zeitebene, nämlich die Trennung von Vanina, zu lösen versucht.

Die Struktur der dritten Zeitebene weicht insofern von den beiden anderen ab, als sie keine mehr oder weniger kurze Episode enthält, sondern viele kleine oder größere Ereignisse aus Lollys Leben. Die Episoden sind auch keineswegs chronologisch erzählt, so spielt eine Episode am Anfang des Romans eine Woche vor dem Zeitpunkt des Erzählens (vgl. Roth. S. 10) und eine darauffolgende als Lolly zwölf Jahre alt war (vgl. Roth. S. 24ff).

5.4.

Ein besonders wichtiger Teil des Romans ist die Geschichte von Lollys Zeugung, der Schwan- gerschaft Marys und der Geburt. Dieser Abschnitt, der zusammenhängende Ereignisse chronologisch beschreibt und eine in sich völlig geschlossene Handlung darstellt, nimmt etwa die mittleren 50 Seiten des Romans ein. Nach einem kurzen Einschub aus der ersten Zeitebene schließt sich noch ein kürze- rer Nachtrag an. Die Ereignisse um Lollys Zeugung und Geburt entspringen also aus der Mitte des Buches. Auch sie werden dem Leser, obwohl sie sich vor seiner Geburt ereigneten, vom Ich- Erzähler Lolly berichtet. Er erklärt:

"Was ich hier erzähle, weiß ich übrigens aus ihren chinesischen Kladden, die sie mir mal zur Aufbewahrung gegeben hat und die bei irgendeinem Umzug verschütt gegangen sind." (Roth. S. 129f)

Dieser Mittelteil beginnt mit einer kurzen Schilderung von Marys Jugend und ihren politischen Aktivitäten in den 70ern und 80ern. Bei der Großdemonstration gegen das Atomkraftwerk in Brokdorf wird sie zusammen mit Martin Blaul verhaftet. Es kommt zu einem One-Night-Stand und Lolly wird gezeugt. Mary, die lange nichts von ihrer Schwangerschaft ahnt, beginnt ein Studienjahr in Barcelona. Hier trifft sie die Ärztin Susanna und den attraktiven, aber, wie sich herausstellt, heroinabhängigen Claudio. Für ihn soll sie, inzwischen hochschwanger, aus Mexiko reines Heroin in die Schweiz schmuggeln. Nach einem sehr aufreibenden Aufenthalt in Mexiko, wird sie auf dem Zürcher Flughafen verhaftet und zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt.

Im bereits erwähnten Nachtrag erfährt der Leser von Lollys Geburt im Gefängnis und Marys Beschluß zu sterben. Es folgt ein jahrelanges Dahinsiechen der Mutter. Doch ein Psychotherapeut schafft es nicht nur, Mary aus ihrer Lethargie herauszuholen, sondern erwirkt auch eine Wiederaufnahme des Verfahrens und eine daraus resultierende Überweisung in eine geschlossene Psychiatrie. Mary kann die Schweiz nach insgesamt sechs Jahren verlassen.

Im Vergleich zu allen anderen Geschichten und Episoden des Romans, seien sie auf der ersten, zweiten oder dritten Zeitebene angesiedelt, erscheint diese Geschichte dem Leser sehr viel märchenhafter und unwirklicher. Diesen Effekt erzielt Rothmann einerseits durch zum Teil sehr wenig faßbare, manchmal fast surrealistische Sätze und Abschnitte, wie zum Beispiel "'Pilze im Morgenquatsch. Bleiben sie weg! Mein Fleisch ist um.'" (Roth. S. 195). Ein weiteres Beispiel:

"Doch die Stille verstopft dir die Ohren, du liegst und starrst die Decke an, die Stubenfliege, und der Hausmeister in der Tür öffnet den Mund, schließt und öffnet den Mund. Zeigt auf seine Armbanduhr und schließt den Mund." (Roth. S. 131)

Zum anderen wird dem Leser Unwirklichkeit dadurch suggeriert, daß einige rätselhafte Ereignisse auf poetisch-märchenhafte Weise beschrieben werden. Als Beispiel kann eine Szene in einem Café in Barcelona dienen, die am Tag nachdem Mary Claudio und Susanna kennengelernt hat, spielt:

"In seiner kraftvollen Gelassenheit kommt ihr Claudios Gang wie eine handschriftliche Zeile in einem Druckwerk vor, und Susanna hockt sich lächelnd auf die Kante des freien Stuhls, zeigt auf ihre Tennis-Treter und sagt: 'Wir sehen dich immer nur in diesen Schu- hen ... die sind nicht gut, schmeiß sie weg. Davon kriegt man giftige Füße.' Und zieht ein Paar Ledersandalen aus ihrer Tasche, dem Einkaufsbeutel einer teuren Boutique. 'Te gusta?' [...] Und wie am Vortag ist, als sie zahlen will, alles beglichen."(Roth. S. 135f)

Dieser Teil des Romans nimmt in der Zeitstruktur des Romans eine wichtige Rolle ein, insofern er gewissermaßen einen Scheitelpunkt darstellt. Während alle Ereignisse in der ersten Hälfte des Romans, also vor dem Mittelteil, im fingierten historischen Präteritum geschrieben sind wobei Beschreibungen von Personen, Orten und Zuständen im Präsens stehen, wandelt sich dies mit Beginn des Mittelteils. Ab dieser Stelle und bis zum Ende des Werkes werden die Tempi auf eine ganz andere Weise genutzt. Diese und fast alle folgenden Episoden aus der zweiten und dritten Zeitebene beginnen nämlich im fingierten historischen Präteritum und wechseln dann unvermittelt ins Präsens. Dieser Wandel findet manchmal sogar mitten im Satz statt (vgl. z.B. Roth. S. 216). Der Leser erhält so den Eindruck, viel dichter am Geschehen dran zu sein als zuvor.

Auch die Geschichte von Lollys Geburt wird gleich nach Beginn der ersten Zeitebene erzählt. Der Leser ist also bereits während er die Geburtsgeschichte liest mit dem Protagonisten zusammen in der Zeitebene angekommen, aus der heraus alle Ereignisse des Romans erzählt werden. Es scheint so, als ob der Leser, hat er die Ereignisse vor der Geburtsgeschichte von Lolly erzählt bekommen, den Protagonisten nun während seiner Erinnerungen begleitet und sie mit ihm zusammen noch einmal durchlebt. Im übrigen fallen auch die Personenbeschreibungen im Präsens, die sich zu Beginn des Romans häuften, in der zweiten Hälfte weg. Dies läßt sich wohl durch die Tatsache erklären, daß der Leser an dieser Stelle bereits alle wichtigen Personen kennt.

5.5.

Ein weiterer interessanter Aspekt der Zeitstruktur betrifft die Verknüpfungen der einzelnen Teile des Werkes miteinander. Sie spielen in diesem Roman eine besonders wichtige Rolle, weil sie es sind, aus den einzelnen, zumeist nicht chronologisch sondern assoziativ aneinandergefügten Textstücken der unterschiedlichen Zeitebenen einen verständlichen, das heißt nachvollziehbaren Text zaubern. Der Autor hat sich vor allem drei Arten der Textverknüpfung bedient.

Zum einen finden sich im Text häufig Verknüpfungen von Handlungselementen, so daß sich der Leser fast immer im klaren darüber ist, in welcher Zeitebene und welcher Episode er sich gerade be- findet. Ein Beispiel hierfür ist der Beginn des 16. Kapitels. Hier beginnt, nach dem zuvor in einem ei- genen Kapitel die Handlung der ersten Ebene fortgesetzt wurde, der Nachtrag zur oben schon ge-

nauer behandelten Geschichte von Marys Schwangerschaft. Das 14. Kapitel endet nach der Festnahme Marys mit dem Satz "Elf Jahre Zuchthaus." (Roth. S. 179). Das 15. Kapitel, dessen Handlung auf der ersten Zeitebene liegt, endet damit, daß Lolly seine Mutter schlafend in Kostas Wohnung vorfindet. Um den Leser darauf hinzuweisen, daß es sich beim nun folgenden Kapitel um eine Fortsetzung des vorletzten Kapitels handelt, schreibt der Autor in den ersten Zeilen:

"Die Zeit zog sich hin, aus Fahndungsgründen wurde der Termin der Hauptverhandlung immer wieder verschoben, und mit der Schneeschmelze setzten die Schmerzen ein." (Roth. S. 188)

Der Leser erfährt also im ersten Satz des neuen Kapitels, daß die Verhandlung Marys wegen des Drogenschmuggels oft verschoben wurde und daß noch vor ihrer Verurteilung die Wehen einsetzten. Eine weitere Art der Verknüpfung ist das Einleiten eines neuen Abschnittes mit dem letzten Satz des vorigen. So gesteht Lolly zum Beispiel in den ersten Tagen ihrer Beziehung Vanina den Grund, warum er immer eine Sonnenbrille trägt: er schielt. Die Szene und gleichzeitig das Kapitel endet mit Vaninas Satz "Wer um alles in der Welt hat dir gesagt, daß du schielst ?!" (Roth. S. 74). Im nächsten Kapitel wird dem Leser vom Protagonisten berichtet, wie, wann und von wem er erfuhr, daß er schielt, und auch, welche Konsequenzen dies für ihn hatte (vgl. Roth. S. 75ff). Es handelt sich hier al-so nicht nur um eine Verknüpfung zwischen zwei Episoden, sondern auch zwischen zwei Zeitebenen. Denn die Szene mit Vanina gehört zur zweiten und die der Erkenntnis über Lollys Silberblick zur dritten Zeitebene. Interessant ist auch, daß der Leser zu Beginn der Geschichte des siebten Kapitels nicht weiß, daß es um das Schielen geht. Der eigentlichen Episode wird nämlich eine andere, kleinere vorangestellt. Dieser Möglichkeit der Textverknüpfung hat sich der Autor auch an anderen Stellen des Romans bedient. (vgl. z.B. S. 24ff)

An dritter Stelle sind Voraus- und Rückverweise zu nennen. Sie sind im Roman die mit am häu- figsten vorkommenden Verknüpfungen von verschiedenen Textstücken. So gibt es zum Beispiel mehrere Rückverweise auf die erste Seite des Romans, also auf Lollys Beschreibung davon, wie er auf dem Fußboden liegend darauf wartet, daß seine Mutter wach wird. So ist auf Seite 187 von je- ner Kastanie und auf Seite 205 von jener Kerze, die zu Beginn erwähnt werden, die Rede.

Ein weiteres Beispiel für einen Rückverweis findet sich im großen Mittelteil des Romans: "Es ist doch seltsam: Man kennt sich nicht, man spritzt sich etwas Zitrone in den Wein, und plötzlich hat man Verwandtschaft" (Roth. S. 193) Es ist eine Verknüpfung mit der bereits erzählten Episode, wie Mary und Martin sich kennengelernt haben und Lolly zeugten. (vgl. Roth. S. 128f)

Darauf, daß Rom am Ende des Romans eine wichtige Rolle spielen wird, gibt es gleich mehrere Vorausdeutungen. Die erste Erwähnung der Stadt taucht im 21. Kapitel auf, als Mara Vanina dazu überreden will, mit ihr dorthin zu fliegen (vgl. Roth. S. 238). Die zweite Erwähnung findet sich auf Seite 259. Hier erfährt Lolly, daß Vanina tatsächlich geflogen ist. Den Hinweis darauf, daß Lolly ihr folgen will, erhält der Leser mit der Frage "'Was kostet ein Tic??ket nach Rom?'" (Roth. S. 270), die Lolly seinem Vater stellt. Auf der letzten Seite des Romans ist er dann auf dem Weg nach Rom zu Vanina, um ihre Liebe zu retten.

6. INTERPRETATION EINER SCHLÜSSELSZENE

Im 23. Kapitel findet sich folgende Szene, die ich in folgenden interpretieren werde, um auch einen Blick auf ein Detail des Romans geworfen zu haben.

"In der Nacht flennte ich wie ein Blöder. Mary nahm mir die Sonnenbrille ab, legte ihre Arme um mich und küßte mir die Stirn, und ich weinte ihr das halbe T-Shirt voll und schämte mich wohl auch. Aber dann dachte ich, daß sie schließlich meine Mutter ist, die verrückte Kuh, und heulte noch mehr. Es war wie in der Kindheit, wo du wieder und wieder geschüttelt wirst und die Tränen nur so herausstürzen, vielleicht weil dir die Schaukel an den Kopf geknallt war, und der Schmerz ist längst vorbei, aber du heulst immer noch weiter, wie um dein Leben, und es ist eine Erleichterung, wie sich das raus- spülen läßt, dieses Seelensalz, zu dem alle Kränkungen, Beleidigungen und Zerknir- schungen kristallisiert sind mit der Zeit, und nachher ist alles ganz wundersam still um dich herum, ein andächtiger, weder kindlicher, noch erwachsener Ernst hat dich erfüllt, der Juniwind kühlt dir das Gesicht, die Gräser und Blätter sind viel behutsamer grün und du atmest leicht und frei und tief ein und japsend aus und fühlst dich wie eine junge Kat- ze, kurz vorm Ertrinken aus dem Bach gefischt.

'Blöde Liebe...', sagte Mary. Sie zog die Decke hoch. Ich hatte den Kopf an ihre Schul- ter gelegt und konnte und wollte nichts sagen, schniefte nur und trocknete mir die Augen mit einer ihrer Haarsträhnen ab. und dann dachte ich plötzlich daran, daß ich zum ersten Mal seit zwanzig Jahren, zum allerersten Mal in meinem Leben, bei meiner Mutter im Bett lag... Sie summte leise, als wollte sie mich beruhigen, und obwohl sie nach Rauch und Alkohol und altem Parfüm roch, war das ein völlig reiner Moment, unverletzt von allem Wünschen oder Wissen, und ich schloß die Augen und legte eine Hand unter ihre Brust, um den Herzschlag zu spüren. Doch sie schob sie weg und langte nach den Ziga- retten." (Roth. S. 261f )

Nachdem der Leser zuvor aus der zweiten Zeitebene heraus davon erfahren hat, daß sich Vanina von Lolly getrennt hat, wird wieder in die erste Zeitebene, also in Kostas Wohnung, zurückgeschal- tet. Die Trauer Lollys scheint sich unmittelbar auf das zuvor berichtete Ereignis zu beziehen. Der Pro- tagonist weint sich in Gegenwart seiner Mutter aus und läßt sich von ihr trösten. Diese mütterliche Geste und die plötzliche körperliche Nähe scheinen Lolly sehr zu überwältigen. Hier ist deutlich ein Zwiespalt der beiden zwischen Mutter-Sohn-Liebe und erotischem Prickeln zu erkennen. Das Über- handnehmen des erotischen Aspekts verhindert Mary jedoch zumindest vorerst mit einer abrupten Geste. Kurz nach diesem Ereignis kommt es allerdings noch ein weiteres Mal zu einer noch deutli- cheren erotischen Spannung zwischen den beiden, deren Ausgang dem Leser ungewiß bleibt.

Durch einen zweimaligen Tempuswechsel, vom Präteritum ins Präsens und wieder zurück, läßt sich der Textauszug in drei Teile gliedern. Diese Teile unterscheiden sich nicht nur durch die ver- schiedenen Tempusformen, sondern auch durch andere strukturelle und inhaltliche Merkmale von- einander. Während die beiden Teile im Präteritum die Handlung der Szene wiedergeben, stellt der Mittelteil eine Art Abschweifung dar. Er enthält, obwohl zum größten Teil im Präsens geschrieben, eine Kindheitserinnerung des Protagonisten, jedoch keine konkrete, sondern eine eher allgemeine Erzählung über Lollys frühere Tränenausbrüche. In den Zeilen, die im Präsens geschrieben wurden, vermischen sich Kindheitserinnerungen und Gegenwart zu einer allgemeinen, sehr poetischen Be- schreibung eines Tränenausbruchs. Dieser Tempuswechsel verursacht, und hier ist der Auszug ein gutes Beispiel für das gesamte Werk, eine Art Zeitöffnung. Dies führt zu einer Mehrschichtigkeit der Textstelle, die wiederum dazu führt, daß der Leser, obwohl es sich letztendlich nur um eine Seite Text handelt, das Gefühl hat, unglaublich viele Informationen zu bekommen.

Auffällig ist, daß der Autor an dieser Stelle des Romans wenige Adjektive verwendet hat. Im ersten und dritten Teil sind es insgesamt lediglich vier. Im Mittelteil jedoch häufen sie sich. Wörter wie "wundersam still", "andächtig" oder "leicht und frei" vermitteln dem Leser Ruhe bzw. Beruhigung und Frische. Und nachdem Lolly im ersten Teil einfach fürchterlich weint, hat er sich nach dem zweiten beruhigt und es geht im dritten Teil deutlich ruhiger zu als im ersten.

Besser noch als an den Adjektiven, ist diese Entwicklung an den Verben zu erkennen. Während im ersten Teil Verben wie "flennen", "heulen" und "schämen" starke und aufwallende Emotionen des Protagonisten erkennen lassen, an die sich zu Beginn des zweiten Teils laute Verben wie "knallen", "rausstürzen" und "schütteln" anschließen, wendet sich das Bild mit "kristallisieren", "erfüllen", "atmen" und "kühlen" zu jener oben beschriebenen Ruhe. Im dritten Teil wurden Verben wie zum Beispiel "murmeln", "summen", "liegen" und "schließen" verwendet. Sie alle beschreiben zwar Tätigkeiten, wirken jedoch sehr viel ruhiger und behutsamer als der Beginn der Szene.

Auch in Hinblick auf die Substantive des Textauszuges läßt sich meine Untergliederung in drei Teile aufrechterhalten. Denn auch hier lassen sich Unterschiede zwischen den Teilen erkennen. Ins- gesamt enthält der Textauszug mehr konkrete Substantive als abstrakte. Im ersten Teil fallen dem Leser die Worte "Arme" und "Stirn", also Körperteile, neben den Worten "Sonnenbrille" und "T- Shirt", also Bekleidungstücke zumeist für die erwähnten Körperteile, ins Auge. Während hier also noch vom Körper im bekleideten Zustand die Rede ist, wandelt sich dies im letzten Teil. Auch hier kommen einzelne Körperteile wie "Schulter", "Haarsträhnen", "Kopf" und - in dieser Reihenfolge in kürzestem Abstand- "Augen", "Hand" und "Brust" zur Sprache, die alle lediglich in den Duft von "Rauch", "Alkohol" und "Parfüm" und einer "Decke" eingehüllt sind. Im dritten Teil geht es also viel erotischer zu als im ersten. Der zweite Teil sticht auch hier hervor. In dessen Mitte ist gleich ein gan- zer Schwall von abstrakten Substantiven wie "Schmerz", Erleichterung", "Kränkung" und "Ernst" ein- gebettet. Sie alle drücken starke Emotionen, positive wie negative, aus. Dies ist auch nicht ganz ver- wunderlich, denn Lolly beschreibt an dieser Stelle den Akt des Weinens, welcher bekanntermaßen eine besonders starke Gefühlsaufwallung bedeutet. Als Lolly den Zustand danach umschreibt, wer- den die Substantive "Juniwind", "Gräser", "Blätter" und "Katze" genannt. Dies alles sind Wörter, die Natur, wenn man so will, Mutter Natur beschreiben. Hier wird das Bild einer Mutter ohne jede ero- tische Anziehung vermittelt, - eine Mutter, die lediglich ihr weinendes Kind tröstet. Im Gegensatz hierzu steht natürlich die eben schon beschriebene hocherotische Spannung, die zwischen den beiden Figuren im dritten Teil entsteht und die vom Protagonisten pathetisch als "reiner Moment, unverletzt von allem Wünschen oder Wissen" umschrieben wird. Als abrupte Unterbrechung dieses "Momen- tes" und im krassen Gegensatz zu diesen abstrakten Substantiven steht am Ende des Textauszuges: "Zigaretten". Ein Zeichen für das zumindest vorerste Zögern der Mutter.

Dieser Gegensatz, wird in der Darstellung der beiden Figuren auch durch andere Mittel manifestiert. Auf der einen Seite steht der Protagonist und Ich-Erzähler Lolly. Er weint, ist voller Emotionen, die ihn erschüttern. Dennoch erlaubt er sich, ein Kind seiner Mutter zu sein, das Trost und Schutz sucht. Als er ihn findet, wird er zuerst poetisch, dann pathetisch. Dieser Pathos wird von der anderen Seite, der Mutter Mary, als erotische Zuneigungsbekundung mißverstanden, oder verstanden, was genau, wird dem Leser nicht verraten. Sie gibt Lolly den gesuchten Trost und Schutz, ist für ihn in diesem Moment die Mutter, die sie eigentlich schon sein gesamtes Leben lang hätte sein sollen. Als dies durch den erotischen Aspekt, der den beiden im Umgang miteinander viel geläufiger ist, zerstört zu werden droht, unterbricht sie die Situation jäh. Ein Gegensatz zwischen Mutter und Kind, der zu verwischen droht, wird noch rechtzeitig aufrechterhalten.

Ein Textauszug also, der eine mehrfache Wandlung durchmacht, und damit sehr lebendig und vielseitig wirkt. Auch in der Syntax ist das zu erkennen. Neben vielen Schachtelsätzen sind einige Hauptsätze und auch eine kurze wörtliche Rede mit einer Ellipse enthalten. Eine bunte Mischung also, die Bewegung, eben Wandlung erkennen läßt.

Der Auszug ist also einerseits eine Begegnung zwischen Mutter und Sohn auf einer her- kömmlichen Mutter-Kind-Ebene und andererseits eine kribbelnd-erotische Vorahnung auf einen baldigen, vom Autor zumindest angedeuteten Inzest. Eine Wandlung vom Kind zum Mann und von der Mutter zur Frau.

7. DER BEGINN EINER WUNDERBAREN FREUNDSCHAFT?

MEIN URTEIL ÜBER DEN ROMAN

Als ich den Roman zum ersten Mal gelesen habe, gefiel er mir im großen und ganzen gut. Es gab jedoch einige Szenen, die mich geärgert haben. Den angedeuteten Inzest zwischen Sohn und Mutter fand ich zum Beispiel aufgesetzt und völlig unnötig. Ich fragte mich, was diese Szene, die mich zudem auch als Leserin und nicht nur als Analytikerin unangenehm berührte, in einem Roman zu suchen hat, in dem es doch eigentlich um einen jungen Mann geht, der Probleme mit seiner Umwelt, mit seiner Freundin und vor allem mit sich selbst hat. Ich war der Meinung, daß die Aussage des Buches auch ohne eine solch intensive Szene, die mit einem der obersten moralischen Grundsätze unserer Gesell- schaft bricht, auskommt.

Als ich das Buch zum zweiten Mal las, und anfing, es in seine Bestandteile zu zerlegen, änderte sich meine Meinung. Es dauerte eine Weile, bis ich herausfilterte, welche Zeitstruktur dem Roman zugrunde liegt. Spätestens in dem Augenblick, in dem sie sich mir offenbarte, mußte ich mir selber eingestehen, daß eben jene von mir so kritisch beäugte Textstelle eine, wenn nicht sogar die wichtigste Schlüsselszene im Buch darstellt. Im Moment dieser Erkenntnis stieg Herr Rothmann mit seinem Roman noch höher in meiner Wertschätzung.

Mit Beginn des Schreibprozesses, der sicherlich den wenigsten wirklich ohne Mühe von der Hand geht, begannen auch für mich einige Stunden des Zweifels, ob es mir überhaupt möglich ist, den Roman und speziell seine Zeitstruktur verständlich zu erklären. Doch je länger ich mit dem Buch arbeitete, desto mehr Hochachtung bekam ich vor seinem Autor. Mir fiel auf, wie geschickt Roth- mann die ineinander verstrickten Zeitebenen zusammenstellt. Er schafft es, daß der Roman mit sei- nem Netz aus Kindheit, jüngerer Vergangenheit und Gegenwart des Protagonisten einerseits und dessen Meinungen, Wünschen und Hoffnungen andererseits selten verwirrt. Rothmann machte es mir mit seinem Roman, der so leicht zu lesen ist, der sich, bei genauerem Hinsehen, fast von selbst er- klärt, leicht, über ihn zu schreiben. Ich finde, daß der zweifelsohne riskante Versuch des Autors, ei- nen Roman mit so komplexem Aufbau zu schaffen, wirklich gut gelungen ist.

Und noch eine weitere Leistung Rothmanns beeindruckt mich. Er schafft es, das Pathos des zwanzigjährigen Protagonisten nicht lächerlich, sondern poetisch darzustellen. Selbst so heikle Sze- nen wie sein Tränenausbruch (vgl. Roth. S. 261f) werden sensibel erzählt, ohne aus Lolly eine Witz- figur zu machen. Meiner Meinung nach ist "Flieh, mein Freund!" ein zeitgemäßer, frischer Roman, der mit seinem leisem Humor ebenso zu schmunzeln, wie er durch seine ernsthaften Auseinandersetzun- gen mit der Lebenssituation eines jungen Mannes im ausgehenden 20. Jahrhundert zum Nachdenken einlädt.

Ich kann also, auch wenn ich mir zeitweise nicht ganz sicher war, zum Abschluß durchaus behaupten, daß es eine Freundschaft war, die mit jener Radiosendung begann. Und ich kann jedem nur raten, genau wie ich, nicht vor ihr zu fliehen.

8. WENN ICH DEN ROMAN VERFILMEN WÜRDE

UMSETZUNG DES WERKES IN DAS MEDIUM FILM

Meiner Meinung nach eignet sich Rothmanns Roman sehr gut für eine Verfilmung. Ich würde so- gar soweit gehen, zu behaupten, daß der Roman leichter zu verfilmen ist, als er zu schreiben war, da sich die verschiedenen Zeitebenen durch visuelle Mittel klarer herausarbeiten lassen als mit literari- schen. Zum Beispiel könnte man die drei Zeitebenen in verschiedene Farben tauchen. Wenn das zu bunt ist, gäbe es auch die Möglichkeit, die erste Zeitebene in Farbe zu zeigen und die zweite und dritte, die sich in vielen Merkmalen ähneln und die man gut zu einer einzigen Zeitebene zusammenfas- sen könnte, in schwarzweiß.

Ich würde versuchen, aus dem Roman einen langsamen Film zu machen. Die besten Mittel hierzu wären vermutlich lange Einstellungen, viele ruhige Bilder und langsames Übergleiten der einzelnen Szenen ineinander. Außerdem würde ich den Hauptdarsteller viel aus dem Off sprechen lassen. Ich denke, daß die verschiedenen Zeitebenen und die vielen wechselnden Szenen schon genug Lebendigkeit vermitteln. Wenn man also zusätzlich auch noch viele schnelle Schnitte und grelle Farben einbringen würde, könnte es meiner Meinung nach schnell passieren, daß der Zuschauer überfordert ist und dem Geschehen nicht mehr folgen kann.

Natürlich kann man einen Film nicht eins zu eins auf die Leinwand bringen. Ich müßte solche Szenen herauskürzen, von denen ich meine, daß der Film auch ohne sie seine Hauptaussage behält. Ich denke zu diesen Szenen gehören einige aus dem Mittelteil. Die Reise von Mary nach Mexiko könnte sich auf Ankunft und Abflug beschränken. Auch Marys Aufenthalt in Gefängnis und Psychiatrie könnte gekürzt werden. Dasselbe gilt für einige Szenen mit Vanina. Die Szene, in der Lolly und Vanina Kosta auf der Straße treffen wäre hierfür ein Beispiel (vgl. Roth. S. 228f).

Der Hauptdarsteller sollte meiner Ansicht nach genauso aussehen, wie im Roman beschrieben, - groß, schlank, dunkelhaarig, blaß und mit Sonnenbrille. Die erste Szene des Films würde die gleiche sein wie im Buch. Die erste Einstellung wäre das geschlossene Auge von Lolly in Großaufnahme und aus dem Off würden die ersten Worte des Buches "Ich will nicht mehr kämpfen. Ich bins leid. Sollen sie mich einkassieren. Sollen sie mich doch Lolly nennen. Ich hab keine Lust mehr. Schluß. Oder so ähnlich." (Roth. S. 7) erklingen. Mit dem letzten Satz würde sich das Auge öffnen, und die Kamera würde langsam wegzoomen, bis der ganze Körper Lollys im Halbdunkel liegend auf dem Fußboden zu erkennen ist. Dann würde die Stimme wieder einsetzen und die Stimme, die die des Protagonisten ist, würde aus dem Off erklären, daß er darauf wartet, daß Mary wach wird. Danach würde wie im

Buch die Überleitung zur ersten Episode der dritten Zeitebene zu hören sein, und es würde eine Umblendung in die erste Episode folgen. Diese würde dann im Gegensatz zur eben beschriebenen Szene in schwarzweiß zu sehen sein.

Ich würde versuchen, auch die anderen Figuren so zu besetzen, daß sie den Beschreibungen im Roman gerecht werden. Mary wäre klein, schlank und quirlig und der Vater wäre untersetzt mit schulterlangem Haar, das, wenn er in seiner Agentur zu sehen ist, ordentlich zu einem Zopf gebunden ist, in Privatleben hingegen etwas strähnig herunterfällt. Vanina und Mara würde ich, wie auch im Buch, nicht nur im Charakter, sondern auch äußerlich als starke Gegensätze darstellen. Die Freundin Lollys wäre klein, rund, mit gütigem Gesicht, sehr angenehmer Stimme und immer in Jeans und Pul- lover gekleidet, Mara hingegen groß, schlank, ihren Körper immer in Designerkleidung gehüllt, mit langen roten Locken und wiegendem Gang.

Die beiden jungen Frauen tauchen im Buch nicht in der ersten Zeitebene auf. Dennoch denke ich, daß zumindest Vanina auch einen Auftritt in Farbe verdient. Deshalb würde ich am Ende des Filmes, der genau wie im Roman mit einer Einstellung enden würde, in der Lolly das Flugzeug nach Rom besteigt, den Protagonisten einen letzten Erinnerungsfetzen an einen glücklichen Moment mit Vanina denken lassen. Dieser sollte nur sehr kurz, ungefähr eine halbe Sekunde, eingespielt werden. Ich stelle ihn mir wie ein kurzes Aufflackern mit einem ebenso kurzen rauschendem Geräusch vor. Diese kurze Szene würde dann in Farbe zu sehen und der einzige Hinweis für den Zuschauer sein, daß Lolly Vanina nach Rom folgt. In der letzten Einstellung wäre der Protagonist auf dem Weg zum Flugzeug unter freiem Himmel mit immer heller werdender Überbelichtung der Bilder zu sehen. Hat der Film im Halbdunkel begonnen, würde er in einem grellen Weiß enden.

9. ANHANG

BIBLIOGRAPHIE

Hamburger, Käthe: Die Logik der Dichtung, 2. Aufl. Stuttgart 1968. Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens, 2. Aufl. Stuttgart 1967. Rothmann, Ralf: Flieh, mein Freund!, Frankfurt/Main 1998. Stanzel, Franz K. : Typische Formen des Romans, Göttingen 1964. Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa, 4. Aufl. Opladen 1976.

DANKE

LATINO, danke für Dein unermüdliches Korrekturlesen, das endlose Hin- und Hergefaxe, die nächtlichen Diskussionen und dafür, daß Du mich in den Tiefs immer wieder aufgebaut hast.

GERLIND, danke für Deine Unterstützung von Anfang an, Deine vielen guten Ratschläge und für Deine vielen aufmunternden Worte.

MAMA, danke fürs Bekochen und das viele Traubenzucker.

ABA, danke fürs Korrekturlesen und für Dein großes Verständnis.

BEN, danke für die ablenkenden Abende und vor allem für die großartige technische Unter- stützung.

RALF, danke für das tolle Buch.

Hiermit versichere ich, diese Arbeit eigenständig verfaßt und keine anderen Hilfsmittel als die angegeben verwendet zu haben.

Bielefeld, den 22. Januar 1999

Marlen Jacob

[...]


1 vgl. Vogt, S. 33f

2 Stanzel, S. 33

3 vgl. Vogt, S. 40

4 Lämmert, S. 23

5 Vogt, S. 17

6 vgl. a.a.O. S. 16ff

7 Hamburger, S. 222

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Bleib, mein Freund - Zugänge zu Ralf Rothmanns Roman "Flieh, mein Freund!"
Note
1.0
Autor
Jahr
1998
Seiten
25
Katalognummer
V101648
ISBN (eBook)
9783640000616
Dateigröße
553 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ralf Rothmann, Literatur, Deutsch, Frund, Literaturwissenschaft
Arbeit zitieren
Marlen Jacob (Autor:in), 1998, Bleib, mein Freund - Zugänge zu Ralf Rothmanns Roman "Flieh, mein Freund!", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/101648

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