Der Spaziergang bei Robert Walser


Hausarbeit, 2001

28 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung
1.1. Der Spaziergänger Robert Walser
1.2. Die semantische Bedeutung von „Spaziergang“
1.3. Die Bedeutung der Arbeit im gesellschaftlichen Wertesystem

2. Der Spaziergang bei Robert Walser
2.1. Zugeständnisse: Der von der Gesellschaft eingestandene privilegierte Rang des Künstlers
2.2. Der Spaziergang als Arbeit
2.3. Die Natur im Werk Robert Walsers: Vom „Studiersaal“ zur „Geliebten“
2.4. Der Spaziergang als Suche nach Kommunikation

3. Exkurs: Der „Spaziergang“ als Chiffre des curriculum vitae ?

4. Zusammenfassung und Schluß

Literaturverzeichnis

„Wenn wir einen Gehenden genau beobachten, wissen wir auch, wie er denkt. Wenn wir einen Denkenden genau beobachten, wissen wir auch, wie er geht. Wir beobachten einen Gehenden längere Zeit auf das genaueste und Kommen nach und nach auf sein Denken, auf die Struktur seines Denkens (...). Gehen und Denken stehen in einem ununterbrochenen Vertrauensverhältnis zueinander (...).“1 Thomas Bernhard

„Nur die ergangenen Gedanken haben Wert.“2 Friedrich Nietzsche

1. Einleitung:

Bei Kenntnis der Biographie Walsers und der gleichzeitigen Lektüre seiner Schriften offenbart sich dem Leser die oftmals verwirrende Übereinstimmung zwischen dem Menschen und dem Schriftsteller Walser. Die Realität wird ins Dichterische umgesetzt, während die literarischen Vorsätze oftmals in der Wirklichkeit verwendet werden. Diese Beziehung hat er selber in plakative Worte zu fassen vermocht: Stets ist er bereit, sich seinen „ Prosastückkittel, also eine Art Schriftstellerjacke3 anzuziehen.

Walser besucht zum Beispiel wirklich eine Dienerschule. Der literarische Niederschlag seiner dortigen Erfahrungen spiegelt sich in seinem Roman „Jakob von Guten“ wieder. Die existierenden Parallelen zwischen dem Roman „Geschwister Tanner“ und den „realen“ Geschwistern Walsers sind ebenfalls evident. Am signifikantesten sind die Übereinstimmungen jedoch beim Spaziergang. Der Drang nach Bewegung und die Lust am Flanieren sind fast allen Figuren Walsers gemein.4

Das Motiv des Ganges in Robert Walsers Schriften ist für sein Schaffen stets von tragender Bedeutung, ja die eigentliche Konstante in seinem Werk. In der Forschung ist das „Gehen“ zunächst als physischer Fortbewegungsmodus untersucht worden. Von dort aus entwickelte sich zunehmend das Thema der Beziehung zwischen der mentalen Dynamik der Figuren Walsers und dem Schreibprozeß des Autors selber zum Gegenstand der Betrachtung.

Das Thema „Bewegung im Walserschen Werk“ geriet zunehmend in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.5

In der vorliegenden Arbeit soll die Beziehung zwischen Schreiben und Spazierengehen bei Robert Walser näher beleuchtet werden. Dabei werden gewisse wiederkehrende Grundmotive in der Darstellung und der Erzählweise untersucht. Darüber hinaus soll die Verknüpfung zum Leben Robert Walsers stets gewahrt bleiben, um so beweisen zu können, daß Spazierengehen quasi als Leitmotiv für die gesamte schriftstellerische Existenz dieses Autors steht. Anhand einiger exemplarischer Textstellen aus der Prosa, der Erzählung „Der Spaziergang“ und den „Wanderungen mit Robert Walser“ von Carl Seelig werden Walsers Vorliebe für das Spazierengehen und die damit verbundene Bedeutung für seine Existenz als Autor erarbeitet. Das stärkste Gewicht wird bei der Textauswahl die Erzählung „Der Spaziergang“ einnehmen, die für die Fragestellung zentrale Bedeutung besitzt.

1.1. Der Spaziergänger Robert Walser:

Für den Autor Robert Walser war das Spazierengehen über seine gesellschaftliche Form der Freizeitgestaltung und Erholung eine zentrale Konstante in seinem Leben. Schon in seiner Jugend liebte er das Wandern, suchte die Begegnung mit der Natur und scheute sich nicht vor großen Entfernungen. Er hatte stets ein nahes Verhältnis zur Natur. Dieses wurde durch frühe Wanderungen ausgeprägt. Die Umgebung seiner Geburtsstadt Biel bot Walser für Spaziergänge und Naturgenuß eine Fülle von Möglichkeiten. Aus seiner Biographie weiß man, daß er als junger Kommis zu Fuß von Zürich nach Berlin wandern wollte, jedoch nach einem Marsch von vielen Kilometern nicht mehr weiter konnte, weil ihm die Füße bluteten.6 Die Strecke München - Würzburg, die immerhin 180 Kilometer umfaßt, hat er, eigenen Angaben zufolge, innerhalb von nur 10 Stunden zurückgelegt.7 Es gibt unzählige Beispiele, die belegen, daß Walser ein leidenschaftlicher Spaziergänger war.8 Für ihn ist der Spaziergang, wie er selbst einmal gesagt hat, geradezu eine Existenzform: „ Uns ist es nun einmal beschieden, spazieren zu gehen.“9 Walsers Passion für den Spaziergang begleitet ihn sein gesamtes Leben. Carl Seelig beschreibt in seinen „Wanderungen mit Robert Walser“ die gemeinsamen Ausflüge mit diesem in der Anstaltszeit Walsers. Der Schriftsteller wird von Seelig später als „König der Spaziergänger“ und als „wahres Bummelgenie“ bezeichnet.10 Treffender kann man Walser und seine Leidenschaft nicht charakterisieren. Allerdings sind diese Äußerungen für einen Erklärungsversuch, der die Bedeutung des Spazierganges für Walser erreichen soll, mit Vorsicht zu genießen. Allzu leicht wird hierdurch die eigentliche Bedeutung eher verharmlost als erklärt.

Der Spaziergang erfährt bei Walser einen immensen Bedeutungszuwachs. Zuerst noch als einfaches Vergnügen angesehen oder als notwendige Bedingung für einen Ortswechsel, entwickelt er sich zum Mittel für das geistige Überleben, zum Kommunikationsmittel mit der Außenwelt und schließlich zum literarischen Thema. Man kann im Spaziergang so etwas wie ein Leitmotiv im Leben Walsers erkennen. Die literarische Aufnahme und Verarbeitung der Spaziergängerthematik durchzieht sein gesamtes Werk. Die Gründe für die tragende Bedeutung des Autors für das Spazierengehen sind unterschiedlich beantwortet worden.

Am treffendsten scheint mir die Erklärung Stefanis zu sein, der von einer „schicksalshaften Disposition des Künstlers zur ruhelosen Unstetigkeit“11 spricht. Diese Interpretation wird durch biographische Details aus Walsers Jugendjahren nur bestätigt: Die häufigen Stellen- und Wohnungswechsel während seiner Züricher Zeit zeigen eine stete Unrast in der Person Walsers: Allein in Zürich wechselt er mindestens vierzehnmal die Adressen. Einer Anstellung geht er nur so lange nach, bis er genügend Geld hat, um einige Zeit lang als Dichter zu leben. Dieses „Nomadenleben“ führt er zehn Jahre lang, in denen er bei zahlreichen Firmen oder Personen oft nur für Monate gearbeitet hat.12 Mit seiner 1906 unternommenen Reise nach Berlin ändert sich sein Lebensstil. Er ist nunmehr fest entschlossen, nur noch ausschließlich von seiner Prosa zu leben.13

Die Übereinstimmung zwischen Leben und Werk des Autors wird an dieser Stelle deutlich. Es zeigt sich vor allem im Typus des Spaziergängers die Verquickung zwischen poetischen Motiv und persönlicher Passion. An dieser Stelle werden die Grenzen zwischen Biographie und literarischen Werk verwischt. Für die Interpretation des Spaziergängermotives in Walsers Schriften ist somit eine Bezugnahme auf die Biographie dieses Autors unerläßlich. Im folgendem wird anhand einiger exemplarischer Textstellen aus Walsers Oeuvre die Bedeutung des Spazierganges untersucht. Zunächst soll aber der Versuch einer Definition des Begriffes „Spaziergang“ vorgenommen werden.

1.2. Die semantische Bedeutung von „Spaziergang“

Spazierengehen im streng wörtlich genommenen Sinne ist eine entspannte, ohne Zeitdruck unternommene Tätigkeit, die dazu dient, meist kleinere Strecken zurückzulegen. Aus etymologischer Sicht entstammt das Verb „spazieren“ dem 13. Jahrhundert und ist dem italienischen „ spaziare “ entlehnt, das in seiner älteren Bedeutung soviel heißt wie: „sich räumlich ausbreiten, sich ergehen“. Das lateinische „spatiari“ in der Bedeutung von: „einherschreiten, sich ergehen, lustwandeln“ trägt bereits Züge der heutigen Bedeutung des Verbs. Das Substantiv „Spaziergang“ ist erstmals im 15. Jahrhundert belegt.14 Die zwanglose Bedeutung des „Spazieren“ hat demnach eine historische Absicherung. Ebenfalls erkennt man hier bereits die deutliche Differenzierung zwischen „Spazieren“ und „Wandern“, ist doch der Spaziergang eher darauf ausgerichtet, kleinere Strecken zurückzulegen. Hinzu kommt, daß ein „Lustwandeln“ schwerlich mit der fast sportlichen Aktivität des Wanderns gleichgestellt werden kann.

Ein Spaziergang wird meist in der Freizeit unternommen, dies in der Absicht, Entspannung und Zerstreuung zu finden. Der Spaziergang findet im zeitlichen Freiraum statt, am Abend eines Arbeitstages oder am Wochenende. Dadurch gewinnt der Spaziergang an gesellschaftlicher Legitimation. Er gehört zum Leben eines arbeitstätigen Menschen. Der Spaziergänger, der sich am Abend oder am Wochenende durch die Stadt oder in der

Landschaft bewegt, hat ein gesellschaftlich verbürgtes Recht dazu. Er hat es sich verdient, als Ausgleich für seine Arbeitstätigkeit.

1.3. Die Bedeutung der Arbeit im gesellschaftlichen Wertesystem

Um die scheinbare Diskrepanz zwischen „Spazieren“ und „Arbeit“ verstehen zu können, soll hier kurz auf die Stellung der Arbeit im damaligen gesellschaftlichen Wertesystem eingegangen werden.15 Die Stellung der Arbeit im Mittelalter ging nicht über eine reine Zweckerfüllung zum Verdienst des Lebensunterhaltes hinaus. Dies änderte sich im Zeitalter der Reformation. Eine grundlegend andere Bedeutung erfuhr der Begriff „Arbeit“ unter dem Einfluß des Kalvinismus.16 Der Begriff erhielt eine starke Stellung für die gesellschaftliche Moral. Die Arbeit wurde zu einem Wert an sich. Der früher vorherrschende Charakter des Mittels zum Zweck verschwand im Hintergrund. Arbeit war von nun an eine soziale Verpflichtung, die dazu beitrug, soziale Ordnung und moralischen Wert des Individuums zu gewährleisten. Man arbeitete nicht nur, weil es für den Lebensunterhalt notwendig war, sondern auch, weil es sich so gehörte, weil man sich durch Arbeit zur Gesellschaft zugehörig fühlen durfte. Arbeitsscheu kam einen Verbrechen gleich, denn hierdurch wurde man nicht nur aus der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern schadete der Wirtschaft des eigenen Landes und war damit ein wirtschaftliches Negativum. Menschen, die keiner geregelten Beschäftigung nachgingen, stellten eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Von da aus war es ein leichtes, eine Linie zwischen Arbeitslosigkeit und Verbrechen zu ziehen.17 Dieser Hintergrund ist wichtig, um einige Stellen in Walsers Werk unter dem Aspekt der Konfrontation zwischen dem Spaziergänger und der Gesellschaft zu betrachten. Im folgenden wird dieser Punkt näher untersucht.

2. Der Spaziergang bei Robert Walser:

Im entgegengesetztem Sinne zur vorherigen Definition des Typus des Spaziergängers verhalten sich die meisten spazierenden Figuren in Walsers Werk. Oft blickt der Leser durch die Erzählerperspektive des Vaganten, der durch die Gegend streift und dabei seine Umwelt beobachtet.18 Dieser flaniert durch Landschaften, Dörfer und Städte und betrachtet sein Herumstreifen als Tätigkeit, um den sozialen Zwängen zu entrinnen. Er scheint von jeglichen gesellschaftlichen Zwängen gelöst und gibt sich den vielfältigen Impressionen seiner Umwelt hin.19

So schildert Walser in der kleinen Erzählung „Wanderung“20 aus der Perspektive eines Flaneurs dessen Wanderung im Sommer. Ausgestattet mit „ einem hellen, billigen Kleid amLeib, dunkelblauen Hut auf dem Kopf und Wanderpaket in der Hand“21 , wird er bei einer Begegnung mit „einigen kecken Burschen“ Opfer einer spöttischen Bemerkung über seine Wanderausrüstung. Doch diese scheint ihm nichts anzuhaben:

„Ohne mich indessen um die Spötteleien zu bekümmern, die keine sonderliche Bedeutung habenkonnten, ging ich munter weiter, und indem ich so marschierte, kam es mir vor, als bewege sich dieganze Welt leicht mit mir fort. Alles schien mit dem Wanderer zu wandern: Wiesen, Felder, Wälder,Äcker, Berge und schließlich noch die Landstraße selber.“22

Die Präsenz der Natur läßt jedes Ärgernis, das von der Gesellschaft kommt, verschwinden. Die Natur bietet einen idealen Ausgleich, sie spendet Kraft und verleiht Mut, besitzt sogar eine heilende Funktion:23

„Mir wurde es himmlisch frei zu Mut und wohl ums Herz. Tapfer lief ich immer weiter, behaglich und zugleich eilig an allerlei Leuten vorbei, die mich jungen, fröhlichen Reisenden, vagabundierenden Vaganten hin und wieder freundlich grüßten, was mich verpflichtete, ebenfalls artig zu sein.“24

Das angeführte Zitat zeigt allerdings auch, daß zwischen verschiedenen „Typen“ der Gesellschaft unterschieden werden muß: Der Spaziergänger wird eben nur „ hin und wieder “ gegrüßt. Er wird also zum einen mit Menschen konfrontiert, die ihn und sein Tun akzeptieren.

Andererseits gibt es eben auch Leute, die sein Tun mißbilligen und ihn als Vagabunden und Landstreicher ansehen. Diese Leute scheinen eher der konservativen Schicht zugehörig.

Dieser Tatsache bewußt ist sich auch der Erzähler: Die hier vorgenommene Selbstbeschreibung zeigt, daß sich die Erzählerfigur klar von der übrigen Gesellschaft abgrenzt. Ein „vagabundierender Vagant“ rückt in die gefährliche Nähe des gesellschaftlichen Abseits. Denn der Vagabund, in der Bedeutung von „Landstreicher, Herumtreiber“, erfüllt nicht die gesellschaftliche Funktion des Arbeitens, ist nicht produktiv, nicht förderlich für die Wirtschaft und damit für die Gesellschaft an sich. Damit steht er in einer Außenseiterposition. Interessant ist, daß sich dieses Motiv durch viele Texte und Erzählungen Walsers zieht. Exemplarisch sei hier auf das kleinere Prosastück „Kleines Landstraßenerlebnis“ und die längere Erzählung „Der Spaziergang“ verwiesen, anhand denen Parallelen aufgezeigt werden sollen.

Zunächst das Prosastück:

Der Erzähler sieht sich aufgrund seines Verhaltens, welches den gesellschaftlichen Normen zuwiderläuft, nämlich am Tage spazieren zu gehen, in eine Rechtfertigungssituation gedrängt. Beim Durchwandern einer Ortschaft wird dieser von einem Landjäger zur Rede gestellt:

Einem scharfsichtigen, vorsichtigen Landjäger, der mir in einer Ortschaft begegnete, gefiel ich jedoch bedauernswerterweise weniger gut...“25

Der Grund für den Verdacht scheint in dem Umstand zu liegen, daß man ihn mit einem herkömmlichen Vagabunden verwechselt, der am hellichten Tage durchs offene Land streift. Dem Vorgesetzten des Landjägers wird der Erzähler als „mutmaßlicher anmutlicher Tunichtgut“ vorgestellt.26 Der Verdacht kann erst nach einer langen Unterredung aus dem Weg geräumt werden.

Noch deutlicher erscheint der Rechtfertigungsdruck in der Erzählung „Der Spaziergang“. Hier sieht sich der Erzähler gezwungen, gegenüber dem Präsidenten der Steuerkommission einen wahren Rechtfertigungsmonolog, ja sogar im gewissen Sinne eine Apologie, zu halten.27 Nachdem der Erzähler den Vorsteher der Steuerkommission darum ersucht hat, ihn von der Last einer Steuererhöhung zu befreien, gerät er in eine mißliche Lage. Der entrüstete Ausruf des Taxators lautet: „Man sieht sie aber immer spazieren!“28 In dieser Aussage steckt die versteckte Anklage, man habe es mit einem arbeitsscheuen Nichtsnutz zu tun, der sich durch sein ständiges Herumspazieren als ein wirtschaftliches Negativum entpuppt.

Man erkennt an den hier angeführten Beispielen die stets präsente Konfrontation des Spaziergängers mit den gesellschaftlichen Normen. Der Spaziergänger sieht sich ständig dazu genötigt, Rechtfertigung für sein Verhalten leisten zu müssen. Der Erwartungskodex der Gesellschaft zwingt ihn dazu.

In diesem Sinne ist der bei Walser geschilderte Spaziergängertypus nicht mit der eigentlichen Bedeutung des Spaziergängers kongruent. Für ihn ist Spazierengehen eine Tätigkeit, die er ständig ausüben kann. Er muß nicht darauf warten, Feierabend zu haben oder das Wochenende ersehnen, um seiner geliebten Tätigkeit nachgehen zu können. Doch mit dieser Haltung steht er in einem ständigen Rechtfertigungsdruck gegenüber der Gesellschaft. Im Unterschied zu einem wirklichen Vagabunden oder Obdachlosen besitzt der Spaziergänger nun aber die für ihn legitimierende Form der Produktivität und Inspiration. Gerade in dieser Hinsicht liegt der fundamentale Unterschied zum Spazierengehen, das der bloßen Zerstreuung und dem Zeitvertreib dienen soll.

2.1. Zugeständnisse: Der von der Gesellschaft eingestandene privilegierte Rang des Künstlers

Der strenge Erwartungskodex der Gesellschaft kann jedoch von der Figur des Künstlers durchbrochen werden. Allein ihm ist es gegönnt, einen Lebensstil zu führen, der sich von den gewöhnlichen Lebensentwürfen abhebt. Mit Neid wird ihm zugestanden, ein bohemehaftes Leben zu führen. Bedingung für dieses Privileg ist allerdings der Erfolg. Wenn dieser ausbleibt, fällt es schwer, die Trennlinie zwischen einem schaffenden Künstler und einen bohemehaften Möchtegern zu ziehen.29 In dieser Hinsicht sind Walsers Figuren auch gefährdet. Denn in ihrem Kleidungsstil ähneln sie keineswegs einem wohlhabenden Künstler. Vielmehr weckt ihr Aufzug Assoziationen an einen Bauernburschen oder einen Landstreicher:

In der Erzählung „Der Spaziergang“ ist der Spaziergänger zunächst äußerst gepflegt gekleidet, so daß er sich selber wie „ein Grandseigneur, im Park auf- und abspazierenderMarquis“ vorkommt.30 Im weiterem Verlauf der Erzählung sucht er seinen Schneidermeister auf, um sich dort aufs äußerste über den schlechtsitzenden Anzug zu empören:

„An solchem Anzug klebt etwas Erbärmliches, Klägliches, Kleinliches und haftet etwas Albernes,Ängstliches und Hausbackenes.“31

Mit diesem Anzug bewegt er sich weiterhin auf seinem Spaziergang fort. Claudia Albes erkennt einen Wendepunkt in dem Wechsel des Anzuges bei Schneidermeister Dünn. Demnach sei der Spaziergänger in seiner Imagination ein anderer Mensch. Ist er sich vorher noch als feiner, würdevoller Herr mit englischem Anzug vorgekommen, so ist er nach dem Wechsel jemand, der mit einem schlechtsitzendem Anzug einem bucklickem, mithin häßlichem Menschen ähnelt.32

Doch auch Robert Walser selber legte bei seinen Spaziergängen kein Wert auf das äußere Erscheinungsbild. Für einen Bekannten Walsers ist dies Anlaß zur Sorge:

„Dieser Dichter, der zehn Bücher geschrieben hat, worunter zwei von besonderer Schönheit, leidet Mangel, trägt die Garderobe eines Vaganten, obgleich er nicht selten wie ein Besessener arbeitet.“33

Damit ist der Spaziergänger für die Gesellschaft in zweifacher Hinsicht Anstoß für Kritik. Zum einen erregt er durch den Spaziergang am hellichten Tage Aufmerksamkeit. Hinzu kommt, daß er in der Kleidung selber einem Vaganten gleicht.

2.2. Der Spaziergang als Arbeit

Dem „erzählenden Spaziergänger“ ist oft bewußt, daß er durch sein Tun Anstoß erregt. Da er selber Mitglied der Gesellschaft ist und von ihr geprägt wird, verwundert es nicht, daß er sich Vorwürfe über seinen Mangel an Arbeitsgeist und Produktivität macht. Allerdings räumt er ein, daß er als Künstler einen anderen Lebensstil besitzt und zu anderer Zeit produktiv ist als die gewöhnlichen Menschen:

„Eine Arbeiter- gefüllte Metallgießerei verursacht hier links vom Landschaftsweg auffälliges Getöse.Bei dieser Gelegenheit schäme ich mich aufrichtig, daßich nur so spaziere, wo viele andere schuftenund schaffen. Allerdings schufte und arbeite dann ich vielleicht zu einer Stunde, wo alle diese fleißigen Arbeiter ihrerseits Feierabend haben und ausruhen.“34

Entscheidend für die Rechtfertigung seines scheinbaren Müßigganges ist, daß er dem Spaziergang eine andere Funktion beimißt, als dies gewöhnlich der Fall ist.

Er stellt das Spazierengehen in den Zusammenhang seiner Arbeit: die des Künstlers, des Schriftstellers. Die Erzählung „Der Spaziergang“ gibt Aufschluß darüber, inwieweit ein funktioneller Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Spazierengehen und der Schriftstellerexistenz des Vaganten herzustellen ist.

Bereits die Eingangsszene gibt einen ersten Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Spaziergang und Arbeit: Anlaß für den plötzlichen Aufbruch war offenbar eine Schreibhemmung:

„Eines Vormittags, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, setzte ich den Hut auf denKopf, lief aus dem Schreib- oder Geisterzimmer weg und die Treppe hinunter, um auf die Straße zu eilen. (...) Rasch vergaßich, daßich oben in meiner Stube soeben noch düsterüber ein leeres BlattPapier hingebrütet hatte.“35

Das Hinaustreten in die Welt, die Aussicht auf einen Spaziergang lassen beim Erzähler gleich die düsteren Gedanken verfliegen:

„Trauer, Schmerz und alle schweren Gedanken waren wie verschwunden, obschon ich einen gewissenErnst noch vor und hinter mir lebhaft spürte. Freudig war ich auf alles gespannt, was mir etwabegegnen oder entgegentreten könnte.“36

Für den Erzähler ist der Spaziergang damit Mittel zur Erfahrung der Welt. Spazieren und Schreiben greifen ineinander, Kreativität und Sein verbinden sich. Das Spazieren ist Teil des kreativen Prozesses. In einem Gespräch erläutert dies der Spaziergänger selbst:

Spazieren“, gab ich zur Antwort,„mußich unbedingt, damit ich mich belebe und die Verbindung mitder Welt aufrechterhalte, ohne deren Empfinden ich weder einen halben Buchstaben mehr schreiben,noch ein Gedicht in Vers oder Prosa hervorbringen könnte.“37

Doch darf nicht unerwähnt bleiben, daß der Spaziergang durchaus als Ort dienen kann, der dem Spaziergänger die Möglichkeit gibt, Erlebtes und Erfahrenes zu verarbeiten. Damit dient dieser auch der Reflexion und Verarbeitung.

Am Ende der Erzählung zeigt sich die Frucht des Spazierganges: Der Spaziergänger setzt sich intensiv mit seiner Umwelt auseinander. Er verfällt einer Entdecker- und Beobachterlust, die sich darin zeigt, daß er angeregt aufzählt und beschreibt, welche Geschäfte und Häuser im auf seinem Wege begegnen:

„Ferner an Läden: Papier-, Fleisch-, Uhren-, Schuh-, Hut-, Eisen-, Tuch-, Kolonial-, Kolonialwaren-,Spezerei-, Galanterie-, Mercerie-, Bäcker- und Zuckerbäckerläden. Undüberall, auf allen diesen Dingen, liebe Abendsonne. Ferner viel Lärm und Geräusch, Schulen und Schullehrer, letztere mitGewicht und Würde im Gesicht, Landschaft, Luft und etliche Malerei.“38

Noch deutlicher zeigt sich die rege Anteilnahme an der Umwelt in der intensiven Erörterung einer Reklametafel. Nachdem der Leser über den Inhalt derselben unterrichtet wurde, macht sich der Erzähler Gedanken über Form, Aufbau und Inhalt dieser Werbetafel. Dies geschieht nicht ohne Bezugnahme auf seine Schriftstellerexistenz:

„Da und dort mögen Wiederholungen vorgekommen sein, doch möchte ich bekennen, daßich Natur undMenschenleben als eine ebenso ernste wie reizende Flucht von Anlehnungen anschaue, was mir eineErscheinung zu sein dünkt, wovon ich glaube, daßsie schön und segensreich sei. (...)“39

„(...) Der ernsthafte Schriftsteller kann sich keineswegs berufen fühlen, Anhäufungen des Stofflichen zubesorgen, unruhiger Gier behender Diener zu sein; er fürchtet sich folgerichterweise vor einigen Wiederholungen absolut nicht, wiewohl er sich selbstverständlich stets emsig Mühe gibt, häufigeÄhnlichkeiten fleißig zu verhüten.“40

Diese ausgesprochen intensive Erörterung eines doch scheinbar belanglosen Reklameschildes zeigt, wie angespannt sich der Erzähler nach geistiger Betätigung sehnt. Die Inspirationsquelle Spaziergang hat ihn dahingehend begleitet und war ebenso Auslöser für eine Gedankenflut.

Auch an weiteren Textstellen wird die Bedeutung des Spazierganges in dieser Hinsicht deutlich:

„(...) währenddessen mich immer allerlei Gedanken stark beschäftigten, weil sich beim Spazieren viele Einfälle, Lichtblitze und Blitzlichter ganz von selber einmengen und einfinden, um sorgsam verarbeitet zu werden, (...)“41

Der Spaziergang dient der Inspiration. Er ist das Stimulans für die Arbeit des Dichters:

„Auf weitschweifigem Spaziergang fallen mir tausend brauchbare Gedanken ein, während ich zu Hause eingeschlossen jämmerlich verdorren, vertrocknen würde. Spazieren ist für mich nicht nur schön, sondern auch nützlich. Ein Spaziergang fördert mich beruflich, macht mir zugleich aber auch persönlich Spaß;...“42

Und weiter:

„Geheimnisvoll schleichen dem Spaziergänger allerlei Einfälle und Ideen nach, derart, daßer mitten im fleißigen, achtsamen Gehen stillstehen und horchen muß, weil er,über undüber von seltsamen Eindrücken, Geister- Gewalt benommen, plötzlich das bezaubernde Gefühl hat, als sinke er in die Erde hinab (...)“43

Der Spaziergang ist also eine künstlerische Aktivität. Er dient dem Spazierenden zur Produktion von Ideen und Einfällen, die für seine Arbeit von Nutzen seien könnten.44 Mit dieser Auslegung schafft sich der Dichter auch eine gesellschaftliche Legitimation für sein Verhalten. Durch das scheinbar provokative Spazieren am Tage soll den „anderen“ bedeutet werden, daß auch er arbeitet. Denn durch das Gehen gelang er ins Innerste Wesen seines dichterischen Anliegens: Er findet Inspiration und Belebung für seine Wahrnehmungen und Empfindungen. Dieser Tatsache gewiß, scheint es ihn auch nicht zu stören, wenn er vorwurfsvoll von einigen Arbeitern angerufen wird:

„Beiläufig ruft mir ein Monteur zu:‚Du spazierst wieder einmal, wie mir scheint, am hellen Werktag.‘Lachend grüße ich ihn und gebe mit Freuden zu, daßer recht hat. Ohne mich im geringsten zuärgern,was ganz dumm gewesen wäre, spazierte ich fröhlich weiter.“45

Den engen Zusammenhang zwischen Dichten und Spazieren hat auch Walser selber stets betont. So äußert er sich in einem Gespräch mit Carl Seelig wie folgt:

In Bern war ich manchmal wie besessen. Ich jagte wie der Jäger hinter dem Wild den poetischenMotiven nach. Am fruchtbarsten erwiesen sich die Promenaden durch Straßen und lange Spaziergängein die Umgebung der Stadt, deren gedanklichen Ertrag ich dann zuhause aufs Papier brachte. Jede gute Arbeit, auch die kleinste bedarf der künstlerischen Inspiration.“46

Der Spaziergang ist für Walser demnach unbedingte Voraussetzung für seine Schriftstellerexistenz. Darüber hinaus besitzt er eine lebenserhaltende Funktion. Er ist ein Phänomenen existentieller Art:

„Ohne Spazieren wäre ich tot, und meinen Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, hätte ich längstpreisgeben müssen. Ohne Spazieren und Bericht- Auffangen vermöchte ich nicht den leisesten Berichtabzustatten, ebensowenig einen Aufsatz, geschweige denn eine Novelle zu verfassen.“47

Aus dieser Aussage spricht die Bedeutung des Spazierganges: Das Spazieren ist Anregung für die Arbeit des Dichters und somit unmittelbare Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg. Hinzu kommt die reflexive Kraft, die der Spaziergang beinhaltet. Genau so wie der Spaziergang als Inspirationsquelle gebraucht wird, kann er auch als Ort der Ruhe zur Verarbeitung und Reflexion von Gedanken, Erlebtem etc. dienen.

In dieser Hinsicht besitzt er eine lebenserhaltende Funktion. Die angeführten Textstellen stammen zum Teil aus der bereits erwähnten Verteidigungsrede gegenüber dem Steuerbeamten.48 So kann man diese Rede auch als eine apologia pro sua vita lesen. Eine Apologie, die für Verständnis wirbt. Verständnis für die enge Beziehung zwischen Spazieren und wirtschaftlichen Überleben. Diese Lebensweise steht allerdings außerhalb der gesellschaftlichen Normalität. Aus diesem Grunde ist aber die Verteidigungsrede des Spaziergängers nicht nur an den Taxator selber gerichtet, sondern eben auch an die Öffentlichkeit.49 Somit ist sie ein Werben um Verständnis für einen gesellschaftlichen „abnormalen“ oder eher: ungewöhnlichen Lebensentwurf.

Die Problematik dieses Lebensentwurfes liegt allerdings auf der Hand: Solange sich der Spaziergänger durch die Notwendigkeit seines Tuns für die künstlerische Tätigkeit rechtfertigen kann, ist der Druck der gesellschaftlichen Erwartung gemildert. Sobald jedoch Zweifel am eigenen Werk entstehen, vereint sich der öffentliche Druck mit der eigenen Verunsicherung.

Eine andere Textpartie zeigt, daß der Spaziergang nicht nur für den beruflichen Erfolg von Nutzen ist, sondern auch persönlichkeitsrelevant:

„Ein Spaziergang fördert mich beruflich, macht mir aber zugleich auch persönlich Spaß; er tröstet,freut, erquickt mich, ist mir ein Genuß, hat aber auch zugleich die Eigenschaft, daßer mich spornt undzu fernerem Schaffen reizt,...“50

Für den Spaziergänger ist seine Bewegung durch die Natur gleichzeitig Mittel zur Weltbegegnung. Durch diese wird der fehlenden Kontakt zur Außenwelt ausgeglichen. Allerdings ist dieser Ausgleich gewollt. Er zieht die Begegnung mit der Natur den menschlichen Begegnungen vor. Das Herumstreifen ist somit zugleich eine Tätigkeit, die es ermöglicht, den sozialen Zwängen zu entrinnen. Gerade in dieser Hinsicht bestehen viele Parallelen zu Walsers Leben. Der ständige Freiheitsdrang, das gewollte Ausbrechen aus bereits bestehenden Bindungen und die stete Angst davor, sich Verpflichtungen hinzugeben, sind Motive, die sich auch in Walsers Biographie finden lassen.51

Die bedeutende Stellung der Natur in seinem Leben und die Reflexion dieser in seinem Werk soll im folgendem dargestellt werden.

2.3. Die Natur im Werk Walsers: Vom „Studiersaal“ zur „Geliebten“

Der Akt des Spazieren ist stets getrennt vom künstlerischen Part, dem Schreiben. Denn letzteres würde nur störend wirken beim Sich- Öffnen für die Welt, beim Wachsein für die Wirklichkeit. Der Spaziergänger ist bei Walser meist passiver Rezipient. Er registriert bzw. studiert die Ereignisse und Dinge, die sich dem wachsamen Auge darbieten. Dabei läßt er sich von diesen anregen und inspirieren. Der Akt des Gehens selber ist hierbei von besonderer Bedeutung. Dadurch, daß man flaniert bzw. spaziert, ist man gleichermaßen ohne Hast und Unruhe. Man hat Zeit, die Natur und die Umgebung auf sich wirken zu lassen. Dabei stehen die Bewegungen und die Gedankenflüsse in einem unmittelbarem Zusammenhang: Man geht an Dingen vorbei, die dem Denken eine bestimmte Richtung geben, einen Gedanken heraufbeschwören. Dabei verzögert bzw. beschleunigt man den Gang gemäß der Intensität des Gedankenflusses. Im extremsten Fall kann es vorkommen, daß man in der Gedankenwelt so aufgeht, daß die Umwelt gar nicht wahrgenommen wird. Die Folge neuer Sinneseindrücke geben ein reiches Bild und Erfahrungsmaterial ab. Sie sind Auslöser von Assoziationen, Gedanken, Phantasien und Träumen:

, währenddessen mich immer allerlei Gedanken stark beschäftigten, weil sich beim Spazieren viele Einfälle, Lichtblitze und Blitzlichter ganz von selber einmengen und einfinden, um sorgsam verarbeitet zu werden,..“52

Das Interesse an außergewöhnlichen Erscheinungen kann die Träumerei - und sogar in einem gewissen Maße- die Schauspielerei auslösen: So kommt der Spaziergänger in der Erzählung „Der Spaziergang“ an einem Herrschaftshaus vorbei, das sogleich Interesse hervorruft:

„Mit beinah an Entzücken grenzender Neugierde schaute ich als Natur- und Altertumsforscher in denverträumten, alten, sonderbaren Garten hinein...“53 und weiter:

„Indem ich den persischen Pavillon sorgsam studierte, fiel mir ein zu denken: Wie schön mußes hier des Nachts sein, wenn von undurchdringlichem Dunkel umflort, alles ringsherum still und schwarz und lautlos wäre, Tannen aus dem Dunkel zart hervorragen, mitternächtlicher Schauer den Wanderer festhält, und eine Lampe, die süßen, gelblichen Schein verbreitet, nun in den Pavillon von einer reizgeschmückten Frau hineingetragen wird, die dann, von eigentümlichem Geschmack und seltsamer Seelenanwandlung bewogen, auf dem Piano, womit in diesem Fall unser Gartenhaus natürlich ausgestattet zu sein hätte, Lieder zu spielen beginnt, wozu sie, insofern der Traum erlaubt sein sollte, mit entzückender Stimme singen würde, daßman lauschen und träumen undüber die Nachtmusik glücklich seien müßte“54

Der Spaziergänger lebt seine Phantasien aus, angeregt durch zufällige Entdeckungen auf seinem Wege. Zuweilen kann er - wie mit dem obigen Zitat verdeutlicht wurde - sogar eine Art Rollenspiel beginnen, welches es ihm erlaubt, für kurze Zeit eine andere Identität anzunehmen.

Gestört wird seine Träumerei nur durch menschliches Auftreten. In diesem Falle ist es eines der „unhöflichsten, unritterlichsten, barschesten, impertinentesten Automobile“, die den Betrachter unwillkürlich aus seiner „ Schloßpoesie und Vergangenheitsträumerei“ heraus werfen.55

Auf das Phantasieren begünstigend wirkt die Stille der Natur, das Fehlen jeglicher vom Menschen produzierten Laute. Obwohl es in der Natur keineswegs ruhig zugeht, sind diese Geräusche nicht störend im Inspirationsprozeß. Ein vom Menschen herrührender Laut würde allerdings den sich bildenden Rhythmus der Sprache einschränken oder gar verhindern.

Bei Walser werden Phantasieren, Träumen und Dichten gleichgesetzt. Durch den Spaziergang wird diese Tendenz noch verstärkt: Die Natur ist der eigentliche Ort des Traumes bei Walser. Die Stille in der Natur, aber auch ihre Weite und Unbegrenztheit begünstigen die Träumerei. Das hiermit verbundene Gefühl der Freiheit verschafft der Phantasie freien Lauf.56 Vor allem ist es der Wald in dem die Träumerei stark betrieben wird:

„Weg und Waldboden glichen einem Teppich. Hier im Waldinnern war es still wie in einer glücklichen Menschenseele, wie in einem Tempel oder Zauberschloßund verträumten Märchenpalaste, wie im Dornröschenschloß, wo alles schläft und schweigt seit Hunderten von langen Jahren. Tiefer drang ich hinein, und rede vielleicht ein wenig schön, wenn ich sage, daßich mir wie ein mit goldenem Haar und kriegerischer Rüstung bedeckter Prinz erschien. Es war so feierlich im Wald, daß köstliche Einbildungen sich wie von selber des empfindlichen Spaziergängers bemächtigten. Wie macht mich die süße Waldesstille glücklich !“57

Man erkennt an dieser Textstelle auch deutlich die für Robert Walser typische Ironie. Doch trotz der Tendenz zur Übertreibung und der reichen Eloquenz wird deutlich, daß Träumen und Spazieren in der Natur sich gegenseitig bedingen.

So scheint es, daß eine intime Verwandtheit zwischen Dichten und Laufen besteht.58 Die Natur ist somit die Quelle der Inspiration, die Anregung für Gedanken, die der Spaziergänger verwenden kann. Die Bedingung für diese Funktion ist allerdings, daß die Bereitschaft da ist, sich völlig für das Phänomenen zu öffnen und darin aufzugehen. Nur dann kann die Natur ein anregender „Studiersaal“ sein.59

Es besteht damit eine Wechselbeziehung zwischen der Natur und der Kunst. Die Natur ist unentbehrlicher Stofflieferant für den Schriftsteller, aus diesem Grunde wird sie aufgesucht. Oder anders ausgedrückt: Die Natur führt zur Kunst und die Kunst zur Natur. Diese Konstellation ist eine Grunderfahrung der Figuren Walsers.60 Darüber hinaus ist der Spaziergang nicht nur eben jene Inspirationsquelle, sondern dient genauso als Verarbeitungsort und Reflexionsvoraussetzung. Denn die Kunst ist ja auch die Formung der Erlebnisse und Erfahrungen.

Diese enge Beziehung des erlebendem Subjekts zur Natur führt zwangsläufig dazu, daß die Natur als Substitution für fehlende menschliche Beziehungen angesehen wird.61 Das Künstlerleben führt es mit sich, daß eine Notwendigkeit für das künstlerische Schaffen die Einsamkeit ist. Wie oben bereits erläutert wurde, ist das Alleinsein in der Natur bei Walser Voraussetzung für die künstlerische Produktivität. Leben und Dichten standen für Walser stets in einem engem Zusammenhang. Der Konflikt zwischen Kunst und Leben, damit auch zwischen Kunst und Liebe, ist auch Walser eigen. Der Dichter lebt ganz für die Kunst, geht in ihr auf und baut seinen Lebensentwurf auf diese Beziehung auf. Diese einseitige Hingabe impliziert aber zugleich einen Verzicht auf die Hingabe an einen anderen Menschen.62 Interessant für diesen Zusammenhang ist, daß Walsers Beziehung zu Frauen stets problembeladen gewesen ist. Nach eigenen Bekenntnissen hat er nie eine sexuelle Beziehung zu einer Frau gehabt.63 Die einzige längere Beziehung hielt er mit Frieda Mermet aufrecht, einer Bekannten von Walsers Schwester Lisa, allerdings blieb auch sie nur platonisch.64

So erstaunt es nicht, wenn Walser seine problematische Beziehung zu den Frauen auch in seinem Werk reflektiert. Viele seiner Figuren erfahren eine problematische oder unerfüllbare Liebesbeziehung. Oftmals ist es dann die Natur, die dem Leidenden Trost und Kraft spendet. So geschieht es auch dem Erzähler des Prosastückes „Der Brief“. Nachdem er einen Brief von seiner Angebeteten erhalten hat, aus dem er erfahren muß, daß sie hn nicht liebt, kommt es zu folgendem Ausruf:

„Ich falte den Brief, der so Trauriges und Niederschlagendes enthielt, langsam zusammen, und indemich das tat, rief ich aus:‚Wie bist du gut, freundlich und süß, Natur! Deine Erde, deine Wiesen undWälder, wie sind sie schön! Gott im Himmel, und wie sind deine Menschen hart.‘Ich war erschüttert,und noch nie kam mir der Wald so schön vor.“65

Offensichtlich ist hier die Trost bringende Funktion, die der Natur zugeschrieben wird.

Man hat wiederholt versucht, diese „Ersatzfunktion“ der Natur für die fehlenden menschlichen Beziehungen auf Walsers Mutterproblematik zurückzuführen.66

Dieser Hintergrund ist wichtig, um verstehen zu können, daß Walser der Natur als Ausgleich für die fehlenden sozialen Bindungen in seinem Werk einen so bedeutenden Rang einräumt. Besonders aufgrund der Randstellung und Isolation des Spaziergängers werden der Natur nun Funktionen übertragen, die ihr sonst nicht zustehen. Die Natur bietet für den Spaziergänger Trost und Geborgenheit im Gefühl der Verlassenheit und Isolation. Insbesondere in Bezug auf das andere Geschlecht zieht er oft die Begegnung mit der Natur vor, vielleicht aus Angst davor, seine Freiheit durch die Verpflichtungen, die eine Beziehung mit sich bringt, zu gefährden. Catherine Sauvat sieht in der Natur sogar ein „Ersatzmittel für den Sexualtrieb und darüber hinaus die Aussicht auf eine totale, sinnliche und emotionelle Verschmelzung.“67

Richtig ist, daß Walser der Natur in seinem gesamten Werk oft menschliche Züge verleiht. Oftmals wird sie als Bruder, Freund oder Geliebte bezeichnet.68 Der Grund dafür liegt mit Sicherheit in der Isolation seiner Hauptfiguren von der Gesellschaft.

Man muß hierbei noch einige Ergänzungen vornehmen: Robert Walser hat gewiß kein konventionelles Verhältnis zu Frauen gehabt. Die Natur ist aber nicht nur Substitution für fehlende erotische Beziehungen. Vielmehr ist sie oft Plattform zur Darstellung seiner Sehnsüchte, Begierden und Wünsche: Auf den Spaziergängen die der Erzähler unternimmt, findet eine Suche nach Kommunikation - mehr noch: nach Liebe statt. Der Spaziergang ist somit ein Versuch, die menschliche Getrenntheit zu überwinden.

Es soll hier nicht versucht werden, Walsers Werk auf Textstellen hin zu untersuchen, die seine erotischen Vorstellungen und die Problematik derselben repräsentieren. Vielmehr wird kurz aufgezeigt, daß ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Natur als inspirierende und stimulierende Kraft für die erotischen Träumereien besteht. Die Naturbegegnung wird durch das Spazierengehen ausgelöst, so ist diese auch in diesem Sinne Arbeit, Produktion. Es wurde bereits auf eine Textstelle verwiesen, aus der ersichtlich wird, daß der Spaziergänger seinen Träumereien nachgeht.69 Dabei erscheint ihm auch eine Frauengestalt, die Sinnbild seiner eigenen erotischen Phantasien ist. Hier ist es abermals die Natur, die diesem Traum Raum bietet und die erotischen Gedanken auslöst.

keine normale Beziehung zu ihr aufbauen konnte. - Vgl.: Naguib, Nagi, Robert Walser. Entwurf einer Bewußtseinsstruktur. München 1970; Holderegger, Hans, Robert Walser. Eine Persönlichkeitsanalyse anhand seiner drei Berliner Romane. Philologische Studien und Quellen, Heft 69, Berlin 1973. - Diese beiden Werke befassen sich ausführlich mit der Mutterproblematik Walsers.

Noch deutlicher wird dieser Umstand in der Erzählung „Sommerleben“ aufgezeigt.70 Der Erzähler trifft inmitten eines nächtlichen Spazierganges auf eine Figuration seiner erotischen Phantasien:

„... trat mir eine fabelhafte Nachtgestalt, Unholdin, berückend schön gekleidete, großgewachsene Frau mit phantastisch schwarzem Haar und langer Schleppe entgegen. Die Schleppe war wie aus Rosen gewoben; der hochaufgeraffte Rock ließdie schönen Beine bis zu denüppigen Oberschenkeln frei. Haar und Augen waren schwärzer wie die Nacht, die Strümpfe schneeweiß.„Kommst du mit?“fragte sie. Es bedurfte keiner Frage. Die schöne Sommernacht und das reizende nächtliche Frauenbild mit seinem sonderbaren Wesen und seiner hinreißenden Austaffierung waren in diesem Augenblick für mich nur noch eines, ein einzig Schönes;...“71

Man erkennt die Zusammenführung von Erotik und Natur. Für den Erzähler ist die Sommernacht und die erotische Erscheinung eins geworden. Eine Verschmelzung auf sinnlicher Ebene. Unabdingbar ist eine Existenz beider Erscheinungen getrennt voneinander.

2.4. Der Spaziergang als Suche nach Kommunikation

Die Spaziergänge der Walserschen Figuren sind oft Teile einer Pendelbewegung. Sie begeben sich aus der Einsamkeit heraus zur Natur oder in menschliche Umgebung. Nach Beendigung des Spazierganges führt der Gang wieder zurück in ihre Welt. Damit auch wieder in die Einsamkeit.

Die Suche nach Begegnung mit der Außenwelt trägt vertraute Züge. Der Spaziergänger nimmt die Natur als Partner an, läßt sich von ihr inspirieren und gibt sich der Natur als Wesensraum hin. Die auf den Spaziergänger einströmenden sinnlichen Eindrücke sind meist zufällig und unvorhersehbar. Aber dennoch gewollt und begehrt. Das erlebende Subjekt agiert in einer passiven Rezeptionshaltung. Den aktiven Part in dieser Zweierbeziehung trägt jedoch die Natur. Das schauende Subjekt ist von der Schönheit der Natur überwältigt, seine Sinne sind offengehalten, um das auf sie Zukommende ganz einfließen zu lassen. Der Spaziergänger wähnt sich alsbald durch die Vielzahl der Eindrücke in einem Theater:

„Das Laufen auf der wundervollen Straße bereitete mir mehr und mehr Vergnügen, bald ging esaufwärts und bald stürzte es wieder nieder. Die Berge waren groß, sie schienen sich zu drehen. Dieganze Gebirgswelt erschien mir wie ein gewaltiges Theater.“72

In diesem Sinne ist die sinnliche Aufnahme der Natureindrücke mit dem Schauen und Registrieren bei einer Theatervorstellung vergleichbar. Der Spaziergänger erlebt die Natur in einem theatrum mundi, einem Welttheater. Es besteht somit eine Wechselbeziehung zwischen dem erlebendem Subjekt und der Natur als Schauplatz. Auf diese Weise entsteht ein Austausch, wenn auch stark einseitig, aber eben doch eine Kommunikation.

Das Erlebnissubjekt ist passiv rezeptiv, es gibt sich dem momentanen Eindruck hin und wird weder von einem zweckgerichteten Denken, noch von einem entsprechendem Handeln von der Unmittelbarkeit des Erlebens abgehalten. Die Natur wird als Kunstobjekt betrachtet, oft ist das Subjekt ja selber Künstler.73 Diese Relation spiegelt sich in der Erzählhaltung wieder: Die Wiedergabe der Natur korreliert mit der Wahrnehmung. Oft sind die beschriebenen Natureindrücke voller Staunen, Bewunderung, Ehrfurcht und Schwärmereien. Die Phantasie wird angeregt, Vergleiche werden angestellt:

„Das zarte Land mit seinen lieben, bescheidenen Wiesen, Häusern, Gärten erschien mir wie ein süßesAbschiedslied. Aus allen Seiten drangen uralte Klagen leidenden, armen Volkes tönend daher. Geistertauchten in entzückenden Gewändern groß, weich, gestaltenhaft auf. Die zarte, schöne Landstraßestrahlte blau, weißund goldig.Über die gelblich gefärbten, rosig angehauchten Armutshäuser, die derSonnenschein kindlich-zärtlich umarmte, flogen, gleich Engelsbildern, die aus dem Himmelniederstürtzen, Rührung und Entzücken (...).“74

In dieser zitierten Passage zeigt sich aber, daß sich die Naturwahrnehmung und der Spaziergang nicht auf die bloße passive rezeptive Aufnahme des Spaziergängers reduzieren lassen. Es sind nicht nur aufs Schauen bezogenen Aktionen, die der Spaziergänger auf seinen Gängen unternimmt, sondern oft auch Annahme von Anregungen, Auslöser von Inspirationen und reflexiven Gedankengängen. In diesem Sinne findet eben auch Kommunikation statt.

Ergänzend ist an dieser Stelle ein allgemeines Merkmal der Darstellungstechnik Walsers hinzuzufügen: Gemein ist den Figuren in Walsers Werk bei den Schilderungen der Naturund Landschaftswahrnehmung der Verzicht auf die Objektivität.75 Die Natur- und Landschaftsdarstellung sind ein Ergebnis der künstlerischen Verarbeitung von subjektivem Erleben, Phantasie und künstlerisch- literarischen Einflüssen.76

Ein besonderes Augenmerk soll nun auf die direkte Kommunikation geworfen werden, die der Spaziergänger mit den Personen führt, die ihm auf seinem Wege begegnen. Im allgemeinen sind die Gespräche, die der Spaziergänger mit Menschen führt, von der Tendenz geprägt, einer verbindlichen Kommunikation auszuweichen. Oft fällt die Wahl der Gesprächspartner auf ältere Menschen oder Kinder. So auch im „Spaziergang“:

„Amärmlichen Vorstadtfenster stand nämlich im hellen Kleid ein junges Mädchen, das fast noch Schulmädchen und doch auch schon schlank und großwar, und in die helle Luft hinaus einfach zum

Entzücken sang. (...) Als das Mädchen mit dem ebenso einfachen, wie reizenden Gesang, Mozart- oder Hirtinnenlied zu Ende gekommen war, trat ich zu ihr hin, grüßte sie, bat sie um Erlaubnis, ihr zu der schönen Stimme gratulieren zu dürfen und machte ihr wegen ungewöhnlich seelenvollen Vortrages mein Kompliment.“77

Ein anderes Mal spricht derselbe Erzähler eine Frau an, die ihn an eine Schauspielerin erinnert:

„Vor einem hübschen, bildsauberen Haue saßauf einer Bank, hart an der Straße, eine Frau, und kaumhatte ich sie erblickt, so erkühnte ich mich, sie anzusprechen, indem ich unter möglichst artigenWendungen folgendes hervorbrachte: (...)“78

Diese Beispiele sollen den Drang des Erzählers nach einer Begegnung mit der Außenwelt belegen. Über die Gespräche, die er mit den Menschen führt, kommt er auch ihrer Welt näher und verschafft sich einen Einblick in diese.

Doch entwickeln sich -gerade in der Erzählung „Der Spaziergang“- keine wirklichen Gespräche. Vielmehr tritt oft ein Monolog an die Stelle eines normalen, austauschenden Gespräches.79 Hinzu kommt, daß die angesprochenen Personen oft „Randerscheinungen“ in der Gesellschaft sind, also keine arbeitenden Menschen. Aus diesem Grund muß der Spaziergänger von dieser Seite auch keine Anklagen erwarten.80 Durch die gewählte Form des Monologs entzieht sich der Erzähler den möglichen Verpflichtungen eines Gespräches. Somit wird ein Austausch über private Details erst gar nicht stattfinden können. Dem Aufbau einer Vertrauensbasis wird durch diese Handlungsweise ebenfalls der Nährboden entzogen.

In eben diesem Sinne ist der Spaziergänger eigentlich unfähig zu kommunizieren. Der Spaziergang wird mit seiner bewußten Natur- und Weltbegegnung Mittel zur Kommunikation mit sich selbst. Der kommunikative Austausch mit seinen Mitmenschen bleibt im Grunde genommen aus. Die häufigen Monologe zeigen eine nicht sehr ernstgemeinte Auseinandersetzung mit dem Gesprächspartner. Durch die Dominanz im Sprechanteil während des Gespräches wird dem Gegenüber eine zweitrangige Stellung zugewiesen. So kann der Gesprächspartner auch imaginär erscheinen. Die Form des Monologs ist -anders ausgedrückt- ein freies Verfügen über einen imaginären Gesprächspartner.

Man kann diese Verhaltensweise mit dem Wort „Autismus“ umschreiben. Bezogen auf Walsers Leben können hier bestimmte Parallelen gezogen werden. Gerade der Umgang mit der Gesellschaft war für ihn oft ein schweres Unterfangen. Seine Liebe zur Einsamkeit und die Lust an der „Verbrüderung“ mit der Natur beweisen dies.

Überdies ist der Hang zum Monologisieren eben auch eine Attitüde Walsers gewesen.81

3. Exkurs: Der „Spaziergang“ als Chiffre des Curriculum vitae ?

Bei näherer Betrachtung der inneren Struktur der Erzählung „Der Spaziergang“ fällt auf, daß die berichteten Ereignisse in keinerlei logisch- kausaler Beziehung zueinander stehen.

Das Aufeinanderfolgen der Szenen gleicht einem zufälligen Anführen. Dies geschieht in einem Maße, die der Erzähler immer wieder selber vorgibt und dem Leser vorstellt.82 Damit wird die Illusion des Lesers, Teilhabe an einem imaginären Spaziergang zu haben, geschickt durch dieses narrative Mittel verstärkt.83 Doch zeigt sich eben in jener zufälligen Anordnung der Ereignisse auch die Miteinbeziehung des Faktors Ungewißheit und des Zufalls. So ist- vorerst- eine Parallele zum Leben an sich zu ziehen. Auch im realen Leben gibt es nichts wirklich Steuerbares, Vorhersehbares. Man kann in der Wahl dieser Erzählweise eine Relation zum Lebenslauf herstellen. Ein langes Leben gleicht auch einem Spaziergang, geprägt von Zufälligkeiten und unvorhersehbaren Begegnungen. Die einzige Gewißheit ist final: So wie das Ende eines Spazierganges feststeht, ist es der Tod, der dem Leben ein Ende setzt.

Auch die temporale Organisation des Spaziergangs ist eng mit der Erzählhaltung verknüpft. Der lineare Tagesablauf zeigt sich jedoch nicht nur in der Erzählung „Der Spaziergang“. In anderen Texten findet sich dieselbe Strukturierung. Oft liegt der Grund für die Beendigung der Wanderung in einem äußeren Faktum, wie dem Hereinbrechen der Dämmerung oder einem plötzlichen Wetterumschwung.84

Im „Spaziergang“ ist es der hereinbrechende Abend, der dem Spaziergang ein Ende setzt. Der Erzähler weist wiederholt auf die ständig voranschreitende Tageszeit hin.85

In diesem Sinne sind auch die Aussagen des Erzählers zu den Figuren zu deuten. Hier treten zahlreiche Antagonismen auf: Jugend vs. Alter und schließlich Tod vs. Leben. Die Jugend wird durch das Auftreten der jungen Sängerin verkörpert,86 das Alter wird zum einen durch die „ einstmals gefeierte, große Bühnenkünstlerin “ personifiziert. Zum anderen zeigt sich die stete Präsenz des Alters und des nahenden Todes in einer vom Erzähler gedanklich hervorgerufene Erscheinung:

„Da trat mir die zweite Gestalt vor die Augen, und plötzlich sah ich den alten, verlassenen armen Mannwieder, den ich vor einigen Tagen, und zwar so erbärmlich, blaß, leidvoll, todesmatt, zum Sterbenkläglich am Boden liegen gesehen hatte, daßmich der seelenbeengende Anblick tief erschreckte. Denmüden Mann schaute ich jetzt im Geiste, wovon mir beinahübel wurde.“87

In dem Erschrecken über den Anblick des sterbenden, alternden Mannes liegt zugleich das Wissen um den eigenen unausweichlichen Tod.

Überhaupt ist der Spaziergang in der gleichlautenden Erzählung selbst als Allegorie auf Leben und Tod zu lesen. Der Beginn findet am frühen Vormittag statt. Der Erzähler durchläuft einige Stationen, bis er zur Mittagszeit, dem eigentlichen Höhepunkt, ein Essen im Hause Aebi einnimmt.88 Zum Ende der Erzählung wechselt nicht nur die Tageszeit, sondern auch das Wetter:

„Während ich in der Umgebung, teils in einem Wäldchen, teils im Felde Blumen suchte und sammelte, fing es leise an zu regnen, wodurch das zarte Land noch zarter und stiller wurde. Da ich auf den Regen lauschte, der sanft auf die Blätter herabrieselte, war mir, als weine es. Wie ist ein schwacher, warmer Sommerregen süß!“89

Der gesamte Schlußteil ähnelt, nicht nur durch den aufkommenden Abend und dem Umschwung des Wetters, dem Lebensabend eines Menschen. Es scheint, als ob der Leser den Spaziergänger nun im „Herbst“ seines Lebens erfährt. Denn die Identifizierung des Spaziergängers mit der Prozeßhaftigkeit der Natur ist offenkundig:

„Auf meinem Spaziergang will es, wie mirübrigens scheint, allmählich anfangen zu abenden. Das stille Ende, glaube ich, sei nicht mehr gar so fern.“90

Im weiteren Verlauf der Erzählung zeigt sich vor allem in der reflektierenden Betrachtung des Spaziergängers über sein bisher geführtes Leben die Nähe zum „Lebensabend“ des Menschen:

„Alte, längst vergangene Verfehlungen fielen mir ein, Treuebruch, Trotz, Falschheit, Hinterlist, Haßund vielerlei unschöne, heftige Auftritte, wilde Wünsche, ungezügelte Leidenschaft. Deutlich stieg mirauf, wie ich manchen Leuten weh getan und Unrecht zugefügt hatte. Im ringsum flüsternden feinenGeräusche steigerte sich meine Nachdenklichkeit bis zur Trauer. Wie eine Schaubühne voll spannenderdramatischer Szenenöffnete sich vor mir das ehemalige Leben, derart, daßichüber meine zahlreichenSchwächen, mannigfaltigen Unfreundlichkeiten sowieüber die vielen Lieblosigkeiten, die ich hattefühlen lassen, unwillkürlich staunen mußte.“91

Der Text ist demnach durch eine steigende und fallende Bewegung gegliedert. Hierdurch drängt sich die Vorstellung auf, Walser habe aufgrund dieser Darstellungsweise einen allegorischen Lebensweg aufgezeichnet.

In diesem Sinne kann der Spaziergang bei Robert Walser durchaus als Chiffre des Curriculum vitae gelesen werden. Es hat sich ja in der Apologie des Spaziergängers gegenüber dem Taxator die auffallende Kongruenz zwischen Spazieren und Leben gezeigt.92 Es ist aber auch anhand der hier zitierten Stellen deutlich geworden, daß der Spaziergang bei Robert Walser als Folie oder Chiffre für den Lebensweg angesehen werden kann.

4. Zusammenfassung und Schluß:

In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, die Bedeutung des Spaziergangsmotivs im Werke Robert Walsers näher zu untersuchen. Dabei wurde vor allem der Erzählung „Der Spaziergang“ ein starkes Gewicht eingeräumt. Desweiteren waren kleinere Prosastücke Walsers und die Aufzeichnungen Carl Seeligs „Wanderungen mit Robert Walser“ Gegenstand der Betrachtung.93

Das Motiv des Spazieren durchzieht das gesamte schriftstellerische Werk von Robert Walser. Dennoch konnte mit der vorliegenden Arbeit nur ein kleiner Teil untersucht werden. Die Thesen dieser Arbeit sollen als gedanklicher Anstoß für die Interpretation und Betrachtung des restlichen Werkes Robert Walsers dienen. Ich behalte mir vor, die Behauptung aufzustellen, daß sich der Großteil dieser Thesen mit dem restlichen Werk als kompatibel erweisen. Diese Aufgabe soll hier aber nicht vorgenommen werden, hat doch bereits Guido Stefani in seinen Studien einen zusammenfassenden Überblick über dieses Thema geben können.94

Es ist anhand meiner Darstellungen gezeigt worden, daß eine intensive Beziehung zwischen Leben, Schreiben und Spazierengehen bei Robert Walser besteht. Diesen ihm so eigenen Charakterzug hat er oft zum literarischen Thema und poetischem Motiv verarbeitet. Der Problematik des Spazierengehen in Bezug auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen war sich Walser stets bewußt. Es zeigt sich die stete Konfrontation und der Rechtfertigungsdruck gegenüber einer Gesellschaft, in der die Arbeit ein moralischer Begriff ist. Entscheidend ist nun, daß dem Spaziergang eine andere Bedeutung zugemessen wird. Durch die Emporhebung des Spazierganges zu einem unerläßlichen Instrument des Dichters gelingt es dem Spaziergänger, auf die gegen ihn erhoben Vorwürfe angemessen zu antworten. Der Spaziergang gilt zunächst als Tätigkeit, bei dem Reflexionen und Verarbeitungen des Erlebtem geführt werden.. Dazu kommt, daß der Spaziergang, über seine Funktion als Stimulans und Inspirationsquell hinaus, geradezu ein Phänomenen existentieller Art ist. Er erfüllt nicht nur den Drang der persönlichen Passion, sondern fungiert gleichermaßen als „Studiersaal“ wie auch als Ersatzmittel für fehlende menschliche Beziehungen. In dem Maße wie Gesellschaft und Natur ein Gegensatzpaar bilden, erhalten die Kunst und die Natur eine kompensative Funktion. Insbesondere in dieser Hinsicht zeigt sich die immense Bedeutung der Natur im Werke, wie auch im Leben Robert Walsers. Der Spaziergang führt hinaus in die Natur und läßt eine Kommunikation zu, die sich, obwohl einseitig, doch als sehr fruchtbar erweist. Es ist die Suche nach Einsamkeit, nach Freiheit und nach Abgeschiedenheit von der Welt, die den Spaziergänger immer wieder antreibt. In diesem Sinne ist eine Lebensparallele zu der Person Robert Walser zu ziehen. Auf Walsers schwieriges Verhältnis zur Gesellschaft wurde ja bereits eingegangen.95

Darüber hinaus hat sich gezeigt, daß dem Spaziergang eine lebenswichtige Funktion zukommt. Sowohl in ökonomischer als auch in persönlicher Hinsicht. Gerade die persönliche Komponente erscheint wichtig, ist doch die Natur als Kommunikationspartner stets kontrollierbar. So ist die Begegnung mit der Welt auf den Spaziergängen auch eine scheinbare Überwindung des eigenen Autismus.

Es hat sich nicht nur in der existentiellen Unrast der Figuren Walsers eine Parallele zur Biographie des Autors ergeben. Der Spaziergang kann generell als Metapher des Lebensweges gelesen werden. Die Analysen der verschiedenen erzählerischen Darstellungsmuster haben dies gezeigt.

Abschließend kann also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den spazierenden Personen in Walsers Werk und dem Autor selber gezogen werden. Der Spaziergang gehörte essentiell mit zum Lebensentwurf Robert Walsers. Sowohl als persönliche Passion wie auch als poetisches Motiv. Alle notwendigen Weiterungen, die dieser ungewöhnliche Lebensentwurf mit sich gebracht hat, werden in seinen Schriften gezielt reflektiert und als literarisches Thema behandelt. So kann der Spaziergang als Leitmotiv im Leben und im Werk Robert Walsers bezeichnet werden.

Literaturverzeichnis:

A: Primärquellen

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Walser, Robert: Der Spaziergang, Zürich 1998 (Suhrkamp).

Walser, Robert: Kleine Wanderung. Geschichten. Stuttgart 1995 (Reclam).

Walser, Robert: Poetenleben. Frankfurt am Main 1998 (Suhrkamp).

B: Sekundärliteratur

Albes, Claudia: Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean- Jaques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard, Tübingen und Basel 1999.

Avery, George C., Inquiry and Testament, A Study of the Novels and Short Prose of Robert Walser, Philadelphia 1968.

Thomas Bernhard, Gehen, Frankfurt am Main 1971.

Der Duden: das Standardwerk zur deutschen Sprache, hrsg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion, 7. Band, Duden „Etymologie“ Herkunftswörterbuch zur deutschen Sprache, Mannheim, Wien, Zürich, 1989.

Holderegger, Hans: Robert Walser. Eine Persönlichkeitsanalyse anhand seiner drei Berliner

Romane. Philologische Studien und Quellen, Heft 69, Berlin 1973.

Kerr, Katharina: Über Robert Walser, 3 Bände, Frankfurt am Main 1978-1979.

Kießling- Sonntag, Jochem: Gestalten der Stille. Untersuchungen zur Prosa Robert Walsers. Heidelberg 1996.

Krebs, Gerhard: Die Natur im Werk Robert Walsers. Eine Untersuchung mit Vergleichen zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Helsinki 1991.

Kurscheidt, Georg: „Stillstehendes Galoppieren“ - der Spaziergang bei Robert Walser. Zur Paradoxie einer Bewegung und zum Motiv des „stehenden Sturmlaufs“ bei Franz Kafka, in: Euphorion 81, 1987, S.131-155.

Naguib, Nagi: Robert Walser. Entwurf einer Bewußtseinsstruktur. München 1970.

Nietzsche, Friedrich, Werke, Band 2, München 1955.

Pleister, Michael: Das Bild der Großstadt in den Dichtungen Robert Walsers, Rainer Maria Rilkes, Stefan Georges, Hugo von Hoffmansthal. Hamburger Philologische Studien 53. Hamburg 1982.

Sauvat, Catherine: Vergessene Weiten, Eine Robert Walser-Biographie. Köln und Saignelégier 1995.

Stefani, Guido: Der Spaziergänger. Untersuchungen zur Robert Walser. Zürich, München 1985.

[...]


1 Thomas Bernhardt, Gehen, Frankfurt am Main 1971, S.85f.

2 Friedrich Nietzsche, Werke, Band 2, München 1955, S.947.

3 Vgl.: Sauvat, Catherine, Vergessene Weiten. Eine Robert- Walser Biographie, Köln und Saignelégier, 1995, S.10f.

4 Vgl.: hierzu etwa die Texte „Abendspaziergang“, „Die Straße“, „Fußwanderung“, „Kleines Landstraßenerlebnis“, „Nächtliche Wanderung“, „Sonntagsausflug“ etc. - In Walsers Gesamtwerk, vor allem in der Prosa, finden sich unzählige Titel und Geschichten, die mit der Spaziergängerthematik verwandt sind.

5 Vgl. zu diesem Komplex: Kießling- Sonntag, Jochem, Gestalten der Stille. Untersuchungen zur Prosa Robert Walsers, Heidelberg 1996, S.41.ff.

6 Vgl.: Sauvat 1995, S.126.

7 ebd.

8 Vgl. etwa seine Äußerung gegenüber Carl Seelig am 23. April 1939, mit der er rückblickend seine Zeit nach dem Berlin- Aufenthalt beschreibt: „ Ich ging Tag und Nacht allein spazieren; dazwischen betrieb ich mein Schriftstellergeschäft.“ - Vgl.: Seelig, Carl, Wanderungen mit Robert Walser, Frankfurt am Main 1987, S.25.

9 Walser zu Carl Seelig am 2. Januar 1944. - Vgl. hierzu: Kurscheidt, Georg, „Stillstehendes Galoppieren“ - der Spaziergang bei Robert Walser. Zur Paradoxie einer Bewegung und zum Motiv des „stehenden Sturmlaufs“ bei Franz Kafka, in: Euphorion 81 (1987), S.131-155, S.131.

10 Vgl.: Seelig, Carl, Robert Walser, Zum 60. Geburtstag am 15. April, in: Kerr, Katharina, Über Robert Walser, 3 Bände, Frankfurt am Main 1978-1979, Bd. 1, S.193. - Bänzinger spricht sogar davon, daß Walser aus dem Spaziergängertum einen „Kultus“ gemacht hätte. - Vgl.: ebenda, S.166.

11 Vgl.: Stefani 1985, S.12.

12 Nur durch kurze Aufenthalten in Berlin unterbrochen, sind dies im wesentlichen die Jahre 1896-1906.

13 Vgl.: Sauvat 1995, S.42ff.

14 Vgl. zu diesen Ausführungen: Der Duden, Band 7: Duden „Etymologie“, Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim, Wien, Zürich 1989.

15 Gemeint ist der Zeitraum der ersten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen Walser den Großteil seiner Schriften verfaßt hat. Daß einige Feststellungen zum Teil heute noch im gesellschaftlichen Wertesystem gültig sind, ist nicht auszuschließen. -Vgl. für die folgenden Ausführungen: Stefani, Der Spaziergänger, S.28ff.

16 Die kalvinistische Lehre ging davon aus, daß Sparsamkeit, Fleiß und harte Arbeit Formen moralischer Tugend darstellten und wirtschaftlicher Erfolg ein Zeichen für Gottes Gnade sei.

17 Vgl.: Stefani, Der Spaziergänger, S.29.

18 Der Begriff „Vagant“ wird hier nicht in dem Sinne gebraucht, wie es die mittelalterliche Vaganten- Lyrik getan hat. Vielmehr bedeutet Vagant in der hier verwendeten Bedeutung: Flaneur, unstetes Leben führende Person. - Vgl. hierzu: Pleister, Michael, Das Bild der Großstadt in den Dichtungen Robert Walsers, Rainer Maria Rilkes, Stefan Georges, Hugo von Hoffmansthals, in: Hamburger Philologische Studien 53, Hamburg 1982, S.25f.

19 Inwieweit Walser eine Betrachtung der eigenen Gesellschaft von außen -ganz im Sinne Foucaults als „Ethnologe der eigenen Kultur“-, unternimmt, wäre ein weiterer interessanter Aspekt den man untersuchen könnte. Dies führt in meiner Zielsetzung allerdings zu weit.

20 Vgl.: Walser, Poetenleben, S.7-10.

21 ebd. S.7

22 ebd.

23 Auf die Bedeutung der Natur als Trostspenderin wird im folgenden noch genauer einzugehen sein. - Vgl.: unten S. 17f.

24 Vgl.: Walser, Poetenleben, S.7f.

25 Vgl.: Walser, Poetenleben, S.10f.

26 ebd. S.11

27 Vgl.: für eine intensive Interpretation der Apologie und die Aufdeckung der paradoxen Struktur derselben: Kurscheidt, Stillstehendes Galoppieren, S. 137ff.

28 Vgl.: Walser, Der Spaziergang, S.54.

29 Vgl.: Stefani 1985, S.30.

30 Walser, Der Spaziergang, S.19.

31 ebd. S.51.

32 Vgl.: Albes, Claudia, Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean- Jaques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard, Tübingen und Basel 1999. S.234.

33 Vgl.: Sauvat, Verwirrende Weiten, S.131.

34 Walser, Der Spaziergang, S.18f.

35 ebd. S.7.

36 ebd.

37 ebd. S.54f.

38 ebd. S.77.

39 ebd. S.81f.

40 ebd.

41 ebd. S.29f.

42 ebd. S.55

43 ebd. S.58.

44 George Avery hat Walser treffend als „Artist Wanderer“ bezeichnet. - Vgl.: Avery, George C., Inquiry and Testament, A Study of the Novels and Short Prose of Robert Walser, Philadelphia 1968. - Das Zitat findet sich auf S.204.

45 ebd. S.19.

46 Seelig, 1987, S.13.

47 Walser, Der Spaziergang, S.55.

48 Vgl.: oben, S.9.

49 Vgl.: Kurscheidt, Stillstehendes Galoppieren, S.137.

50 Walser, Der Spaziergang, S.55.

51 Auf den häufigen Wohnungswechsel während seiner Zeit in Zürich wurde bereits hingewiesen. Aber auch in späterer Zeit ist die Unruhe sein steter Begleiter. So schreibt er etwa 1921 in Bern an Frieda Mermet: „Nést ce pas, je suis un vrai vagabond, parce que je change si rapidement mes pensions. Mais cette manière de vivre me fait plaisir“- Die Freiheitsliebe vermischte sich mit einer Art Nomadentum, einem stetem Wechsel seiner Aufenthaltsorte. Eine wesentliche Gewähr seiner Freiheit war es, sich nicht der Sicherheit eines Bleibens verschreiben zu müssen. Seine Unrast wird genährt durch die Angst, ein zu eintöniges Leben zu führen. - Vgl. hierzu: Sauvat, Verwirrende Weiten, S.131f.

52 Walser, Der Spaziergang, S.29f.

53 ebd. S.69f.

54 ebd.

55 ebd.

56 Vgl. zu diesen Ausführungen: Krebs, Gerhard, Die Natur im Werk Robert Walsers. Eine Untersuchung mit Vergleichen zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Helsinki 1991, S.153f.

57 Walser, Der Spaziergang, S.32. -Vgl. für weitere Belege: Krebs, Die Natur, S.155ff.

58 Die Verwandtschaft von Gehen und Dichten kann auch, wie Stefani bemerkt, in dem sowohl dem Gehen als auch der Sprache innewohnenden Rhythmus gesehen werden. - Vgl.: Stefani, Der Spaziergänger, S.35.

59 Vgl.: Stefani, Spaziergänger, S.38. - In der Erzählung „Das Pfarrhaus“ gibt der Wanderer auf die Frage, wer er sei und was er tue die Antwort: „ Sie können mich als Studenten ansehen, der Studien halber in der Weltherumläuft.“ -Vgl.: Walser, Poetenleben, S.59-61.

60 Vgl.: Krebs, Die Natur, S.151ff.

61 Darüber hinaus trifft auch für den Walserschen Spaziergänger ein Nietzsche- Wort zu: „In mancher Naturgegend entdecken wir uns selbst wieder.“ -Vgl.: Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches.

62 In der Notwendigkeit des Alleinseins für das künstlerische Schaffen liegt nichts außergewöhnliches. So haben etwa Rilke und Thomas Mann -um nur einige Beispiele zu nennen- die Einsamkeit als unumgängliche Voraussetzung für das Dichtertum empfohlen. - Vgl.: Krebs, Die Natur, S.159.

63 Vgl.: Sauvat, Verwirrende Weiten, S.83.

64 Vgl. für die Beziehung Walser- Mermet: Sauvat, Verwirrende Weiten, S.113ff. - Die Korrespondenz zwischen beiden ist ziemlich ausgiebig: Walser schrieb ihr insgesamt 182 Briefe, von denen 37 ob ihres anstößigen Inhaltes nicht veröffentlicht wurden. Erst nach dem Tod Frieda Mermets wurden auch die restlichen Briefe unter der Herausgeberschaft von Jochen Greven und Jörg Schäfer der Öffentlichkeit zugänglich.

65 Vgl.: Walser, Poetenleben, S.57.

66 In der Forschung wurde die Ursache für das problematische Verhältnis Walsers zu den Frauen auf den frühen Tod seiner Mutter zurückgeführt. Außerdem sah man in den depressiven Verstimmungen und melancholischen Anwandlungen der Mutter, die das Kind Robert Walser stets zu spüren bekam, den Grund dafür, daß Walser

67 Sauvat, Verwirrende Weiten, S.83.

68 Vgl.: Stefani, Der Spaziergänger, S.82. - Auch von anderer Seite ist die enge Beziehung Walsers zur Natur erkannt worden. Hans Bänzinger erwähnt diese in seinem Aufsatz „Abseitige Idyllik“. -Vgl.: Bänziger, Hans, Abseitige Idyllik, 1956, in: Kerr, Über Robert Walser, S.162-167.

69 Vgl.: oben S.16.

70 Walser, Poetenleben, S. 57-59.

71 ebd. S.58.

72 Vgl.: Walser, Kleine Wanderung, S.19.

73 Nicht nur Künstler, sonder oft eine der Gesellschaft fernstehende Randfigur. Meist sind es Figuren, die sich „antibürgerlich“ verhalten. -Vgl. die Ausführungen über das Vagantentum bei Walser: s. oben: S. 8ff.

74 Vgl.: Walser, Der Spaziergang, S.61.

75 Vgl.: Krebs, Die Natur, S.28ff.

76 ebd.

77 Vgl.: Walser, Der Spaziergang, S.35f.

78 ebd. S.23.

79 Dies gilt nur für die Gespräche die der Spaziergänger mit Menschen führt, die ihm auf der Straße begegnen. Davon sind strikt ausgenommen diejenigen Begegnungen, die mit einer Auftragserledigung zusammenhängen. So etwa das Gespräch mit dem Schneidermeister Dünn, der Frau Aebi oder die Begegnung mit dem Taxator.

80 Anklagen oder Vorwürfe gegen sein angebliches „Nichtstun“ -im Sinne des Spazierengehen als „Müßiggang“ am hellichten Tage. -Vgl.: oben S.11.

81 Vgl.: Stefani, Der Spaziergänger, S.59f.

82 Exemplarisch ist hierfür etwa die ständige Vorankündigung des Mittagessens bei Frau Aebi zu nennen.

83 Vgl.: Albes, Der Spaziergang als Erzählmodell, S.226f. - Für Albes zeigt der Textverlauf durch die mehrfach wechselnden Gangarten des Erzählers (laufen, eilen, springen, marschieren etc.) die Ausformung des „spazierenden Erzählens“. Hierdurch werde die besondere Beweglichkeit eines Schreibens bezeugt, das in raschem Wechsel disparate Schauplätze, Tempora und Erzählsituationen auf den Plan ruft. Der Text demonstriere deutlich, wie das Erzählen eines Spaziergangs gleichsam automatisch das spaziergängerische Erzählen in Gang setzt. -Vgl.: ebenda, S.235. - Hinzu kommt, daß der Spaziergang nicht nur Umweg zu poetischen Stoffen ist, sondern auch selbst Gegenstand einer dichterischen Arbeit. Dazu bestimmt er die Form, in der diese beschrieben wird: Es kommt auf inhaltlicher und formaler Ebene zu einer Gleichung zwischen Gang und Erzählung. -Vgl. hierzu: Kurscheidt, Stillstehendes Galoppieren, S.136f.

84 Vgl.: für weitere Textstellen: Kurscheidt, Stillstehendes Galoppieren, S.133f.

85 So spielt die Erzählung an einem Tag. Beginnend mit dem Spaziergang am Vormittag endet dieser am späten Abend desselben Tages. Die hereinbrechende Nacht ist auch der Grund für die Beendigung des Ganges.

86 Vgl.: Walser, Der Spaziergang, S.35ff.

87 ebd., S.83.

88 Dieses Ereignis liegt zeitlich genau in der Mitte des Textes und bildet damit auch das zeitliche Zentrum des Tages. Der vom Erzähler selber erklärte Höhepunkt ist die Szene am Bahnübergang. Man kann dem Text kein eindeutiges Zentrum zuweisen. Dennoch ist offensichtlich, daß sich die Zentren an der temporalen Struktur orientieren. -Vgl.: Albes, Der Spaziergang als Erzählmodell, S.229.

89 Walser, Der Spaziergang, S.83.

90 ebd. S.75.

91 ebd. S.83.

92 Vgl.: oben S. 13.

93 Mit dem Hinweis auf die Auswahl der Primärliteratur soll der Gefahr einer Generalisierung der hier ausgearbeiteten Thesen entgegengewirkt werden.

94 Vgl.: Stefani, Der Spaziergänger. Untersuchungen zu Robert Walser, Zürich 1985.

95 Vielleicht kann man hierzu abschließend ein Wort Martin Walsers anfügen, der sich einmal über Robert Walsers Lebensweise wie folgt geäußert hat: „Was es mit sich brachte, so alleinstehend zu bleiben, hat ihn weniger geschert als die Furcht vor stabilen Verhältnissen“ - Vgl.: Martin Walser, Alleinstehende Dichter, S.18.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Der Spaziergang bei Robert Walser
Autor
Jahr
2001
Seiten
28
Katalognummer
V100783
ISBN (eBook)
9783638992060
Dateigröße
409 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Spaziergang, Robert, Walser
Arbeit zitieren
Andreas Martin Schneider (Autor:in), 2001, Der Spaziergang bei Robert Walser, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100783

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