Die Identitätstheorie kann zutreffen


Seminararbeit, 1999

14 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Mentale Zustände oder Prozesse?

3. Was besagt die Identitätstheorie?

4. Typen- und Token-Identität

5. Ontologische und begriffliche „Sparsamkeit“

6. Multirealisierbarkeit mentaler Prozesse

7. Ein Wort zum Funktionalismus

8. Auslassungen und Schluß

9. Literaturliste

1. Einleitung

Als `Identitätstheorie´ bezeichnet man die Position zum Leib-Seele-Problem, nach der mentale Prozesse mit Gehirnprozessen identisch sind in dem Sinne wie H2O mit Wasser identisch ist. Das bedeutet, dass ein Prädikat, mit denen ein Gehirnprozess beschrieben wird, zwar den gleichen Bezug hat, wie ein Prädikat über einen mentalen Vorgang, aber einen anderen Sinn transportiert als jenes.

Die Identitätstheorie wird in der Regel abqualifiziert. Beckermann führt Ein- wände gegen die Identitätstheorie an, „die zu ernsthaften Zweifeln an dieser Theorie berechtigen“ (127). Eindeutiger formulierte es Kim, denn nach dessen Meinung brachte das Argument der Multirealisierbarkeit mentaler Zustände, auf das ich weiter unten eingehen werde, die Identitätstheorie „endgültig zum Rückzug, brachte alleine schon das Wort „Reduktionismus“ in Verruf und introniserte (!) die Ära des `nicht-reduktiven Physikalismus´“ (78). Der folgen- de Text ist eine Verteidigung der Identitätstheorie. Wie viele andere Positionen ist auch die Identitätstheorie eine durchaus mögliche Theorie zum Leib-Seele- Problem.

Andererseits impliziert das Vertreten einer bestimmten Position nicht notwendig Abschätzigkeit gegenüber konkurrierenden Positionen.

Eines von mehreren Vorzügen der Identitätstheorie ist ihre relative Sparsam- keit. Zahlreiche Einwände, die gegen die Identitätstheorie eingebracht werden, halte ich nicht für gelungen. Die Identitätstheorie kann gar nicht so schlecht sein, wenn selbst Saul A. Kripke, dessen Argumente oft zur Widerlegung der Identitätstheorie angeführt werden, eingestehen muß, dass er nicht für alle Argumente der Identitätstheoretiker eine Entgegnung parat hat:

Einige dieser Argumente scheinen mir schwach zu sein oder auf ideologi- schen Vorurteilen zu beruhen; andere der Argumente dagegen scheinen mir als höchst zwingende Argumente, auf die ich im Augenblick keine ü- berzeugende Entgegnung geben kann. (...) Ich betrachte das Leib-Seele- Problem als ein ganz offenes und äußerst verwirrendes Problem. (177)

2. Mentale Zustände oder Prozesse?

Vor einer genaueren Erläuterung der Identitätstheorie möchte ich erklären, warum ich im Folgenden von mentalen oder physiologischen Prozessen und nicht von mentalen oder physiologischen Zuständen schreibe.

Beckermann behauptet, dass die Identitätstheorie einen Kategorienfehler enthalte und führt dies folgendermaßen aus:

Empfindungen bzw. mentale Zustände [sollen] mit Gehirnprozessen iden- tisch sein; und dies ist sicher nicht möglich. Denn mentale Zustände gehö- ren ontologisch gesehen zur Kategorie der Eigenschaften, Gehirnprozesse dagegen zur Kategorie der Ereignisse. Der Versuch, Eigenschaften mit Er- eignissen zu identifizieren, muß jedoch in einem Kategorienfehler enden. (100)

Der alltägliche Sprachgebrauch zeigt, dass das Wort „Zustand“ etwas bezeich- net, was nur im Moment der Fall ist. Bei einer Zustandsbeschreibung ist es so, als würde man die Zeit anhalten und eine Bestandsaufnahme all dessen ma- chen, was gerade zu diesem Zeitpunkt der Fall ist. Bei der Erstellung eines Zustandsbericht wird die Dynamik der Prozesse ignoriert, weil man eine punk- tuelle Analyse vornimmt.

Ein Prozess hingegen ist ein Vorgang, der sich über einen bestimmten Zeitraum erstreckt und in dem er selbst einer Wandlung unterliegt und der sich auch oft in seiner Dynamik ändert.

Aus der Introspektion erscheint es so, als ob Gedanken und Gefühle nicht Zu- stände, sondern Prozesse sind. Ein Gedanke ist keine einmalige Gegebenheit, sondern entwickelt sich in der Zeit. Ein Gedanke beginnt mit einer Intuition und klärt sich dann durch Ausformulierung und Korrektur. Genauso, wie es sich um einen zeitlichen Vorgang handelt, einen Satz auszusprechen, so handelt es sich um einen Vorgang, einen Satz zu denken. Ebenso ist das Körperliche prozesshaft, weil es chemische und physikalische Kettenreaktionen sind. Daher identifiziere ich physikalische Prozesse mit mentalen Prozessen.

3. Was besagt die Identitätstheorie?

Ich möchte diesem Kapitel eine kurze philosophiegeschichtliche Anmerkung vorausschicken, um einen Irrtum zu korrigieren. Die Behauptung von Kim (79), die Autoren klassischer Quellen zur Identitätstheorie seien Smart und Feigl gewesen, ist historisch falsch, wenn man unter Autoren klassischer Quel- len diejenigen versteht, die diese Theorie erstmalig formuliert haben. Bereits in dem 1935 im Alfred Kröner Verlag in Leipzig erschienenen Philosophischen Wörterbuch von Heinrich Schmidt befindet sich das Stichwort „Identitätsphilo- sophie“, womit „diejenige Richtung der Philosophie“ gemeint sei, welche „Ma- terie und Geist, Körperliches und Seelisches (...) nicht als zwei verschiedene Dinge, sondern als identisch, als zwei verschiedene Erscheinungs- oder Auf- fassungsweisen einer einheitlichen Weltsubstanz betrachtet.“ Die Texte von Feigl1 und Smart2 über die Identitätstheorie sind erst 1958 und 1959 erschie- nen. Das bedeutet, dass diese beiden Autoren eine schon bestehende Theorie aufgegriffen, modifiziert, erweitert und verteidigt haben, ohne ihre geistigen Väter zu sein.

Was ist aber genau die Identitätstheorie? Nach Frege sind nur jene Identitäts- aussagen interessant, die zu einem Erkenntniszuwachs führen. Er unterscheidet zwischen Extension eines Ausdrucks, also seinem Bezug und Intension, also seinem Sinn. Zwei Ausdrücke sind dann identisch, wenn sie zwar den gleichen Bezug haben, aber einen unterschiedlichen Sinn transportieren. Die Ausdrücke „Blitz“ und „elektrische Entladung“ haben also einen unterschiedlichen Sinn, aber den gleichen Bezug. Nach diesem Verständnis sind mentale Prozesse mit Gehirnprozessen identisch. Das heißt, dass die Prädikate, mit denen Gehrirnpo- zesse beschrieben werden, nicht synonym mit Prädikaten sind, die mentale Ereignisse beschreiben.

Die Identität zwischen mentalen Prozessen und Gehirnprozessen wird a poste- riori festgestellt. Alltägliche Erfahrungen, aber vor allem empirische Studien führen zu der Erkenntnis der Korrelation von mentalen Ereignissen und Ge- hirnprozessen. Zum Beispiel haben Forscher herausgefunden, in welchen Re- gionen des Gehirns die visuelle Wahrnehmung verarbeitet wird und haben da- bei festgestellt, dass die visuellen Signale nach Form, Farbe und Dynamik auf- geschlüsselt und dann an diese Informationen verarbeitenden Gehirnregionen weitergeleitet werden.3

Die Verbindung zwischen Gehirnprozessen und mentalen Prozessen ist also kontingent und nicht notwendig. Das liegt daran, dass die Erkenntnis, dass ein bestimmter Gehirnprozess mit einem bestimmten mentalen Prozess verbunden ist, aus der Erfahrung stammt. Die Erfahrung bezieht sich aber nur auf einen Teil der Welt und es ist nicht auszuschließen, dass wir einmal in Zukunft eine gegenteilige Erfahrung machen werden.

Andererseits ist es aber nicht auszuschließen, dass irgendwann die Naturwis- senschaften einen strukturellen Zusammenhang zwischen neuronalen Prozes- sen und Gehirnprozessen entdecken können. Es wäre zum Beispiel denkbar, dass sich ein pochender Schmerz auch in dem damit verbundenen Gehirnpro- zess ausdrückt, in dem dort auch ein rhythmisches Pulsieren zu beobachten ist. Selbst wenn man feststellen würde, dass sich der mentale Prozess in einem codierten Zustand im Gehirnprozess befindet, so würde das meines Erachtens auch noch für die Identitätstheorie sprechen.

Die Identitätstheorie behauptet, dass es zwar für jeden mentalen Vorgang ein physiologisches Korrelat, aber nicht für jeden Gehirnvorgang ein mentales Korrelat gibt. Zu denken wäre dabei zum Beispiel an die Vorgänge des vegetativen Nervensystems (Steuerung der Verdauung z.B.), die unbewußt ablaufen.

Mentale Vorgänge können auch mit körperlichen Vorgängen jenseits des Ge- hirns korreliert sein können. Zwar werden alle körperlichen Empfindungen im Gehirn verarbeitet, aber es spürt sich dennoch so an, als ob das Körperempfin- den sich nicht im Gehirn befindet, sondern an der empfundenen Stelle. So hat man das Gefühl, dass die Knieschmerzen sich auch im Knie befinden und nicht im Kopf.

4. Typen- und Token-Identität

Man unterscheidet zwischen Typen- und Token-Identität. Nach der Typen- Identität ist eine Art von physikalischen Prozessen mit einer Art von mentalen Prozessen identisch. Nach der Token-Identitätstheorie sind nur einzelne Ge- hirnprozesse mit einzelnen mentalen Vorgängen identisch. Die mentalen Vor- gänge können mit unterschiedlichen physikalischen Prozessen verbunden sein. Das heißt, dass der Gehirnprozess G bei der Person X einmal mit dem mentalen Prozess M 1 und ein anderes mal mit dem mentalen Prozess M 2 identisch sein kann.

Viele Einwände, die sich gegen die Token-Identitäts-Theorie richten, wenden sich auch gegen die Typen-Identitätstheorie. In jedem Fall ist die Typen- Identitätstheorie die stärkere Behauptung, weil sie nicht nur von einer Korrela- tion von mentalen und physiologischen Ereignissen spricht, sondern sogar eine systematische Verknüpfung von mentalen und physiologischen Ereignissen annimmt.

Da aber davon auszugehen ist, dass nach unserer Erfahrung die Welt gleichförmig ist und wir daher dazu in der Lage sind, Naturgesetze zu formulieren, die meistens dann auch zutreffen, so ist es sehr wahrscheinlich, dass die Korrelation zwischen mentalen Prozessen und Gehirnprozessen beim Wegfallen störender Umstände systematisch ist.

5. Ontologische und begriffliche „Sparsamkeit“

Ein Vorzug der Identitätstheorie ist ihre Sparsamkeit. Die Anzahl der Entitäten wurde reduziert, weil man zwei vermeintlich verschiedene Entitäten als iden- tisch entlarvte. Es gibt also nach der Identitätstheorie nicht zusätzlich zum Körper noch eine zweite Substanz. Auch führt die Identitätstheorie zu einer begrifflichen Vereinfachung, da man abgesehen von der Alltagssprache alle Vorgänge im Menschen mit einer physikalistischen Sprache beschreiben kann. „Es gibt keine über die physikalistischen Fakten hinausgehenden Fakten, über die mittels einer mentalistischen Sprache zu berichten wäre“ (Kim, 60).

Doch wie sparsam ist die Identitätstheorie wirklich? Vom Alltagssprachgebrauch her ist Sparsamkeit die Entscheidung für die billigste Möglichkeit. Wenn aber man sich zum Beispiel beim Einkauf nur für die zweitbilligste Ware entscheidet, dann war man nicht wirklich sparsam; jedenfalls war Sparsamkeit nicht das einzige Kriterium für die Kaufentscheidung.

Hier ist die Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Sparsamkeit an- gebracht, weil die Identitätstheorie nicht die sparsamste aller möglichen Theo- rien zum Leib-Seele-Problem ist. Eine rein materialistische Theorie wäre noch sehr viel sparsamer, weil sie das Mentale völlig ausklammern und als Illusion hinstellen würde. Insofern wäre die Aussage „ich habe Schmerzen“ ein über- kultiviertes Zusammenzucken. Die Identitätstheorie muß immerhin zusätzlich erklären, wie eine mentalistische Beschreibung auf einen Prozess zutreffen kann, der physikalistisch hinreichend beschrieben wurde. Daher ist die Identi- tätstheorie nur relativ sparsam. Es muß also andere Argumente geben, die für die Identitätstheorie sprechen und die das Sparsamkeitskriterium relativieren.

Warum ist aber das Sparsamkeitskriterium alleine nicht ausreichend für eine gelungene Theorie und warum sollte es gegen andere Kriterien abgewägt wer- den? Bereits Albert Einstein hat erkannt: „Mache die Dinge so einfach wie möglich - aber nicht einfacher.“ Eine Theorie soll die Datenmenge erklären können. Sie kann dabei aber auch über die Datenmenge hinausgehen, denn die Theorie soll die Lücken schließen, welche das Beobachtbare zeigt. Das Beob- achtbare sind die physikalischen Vorgänge. Nicht objektiv beobachtbar sind hingegen die mentalen Vorgänge. Die Identitätstheorie schlägt die Brücke von der Ebene des Beobachtbaren hin zum Innenleben des Menschen. Sie erklärt, wie Menschen - gegeben eine materielle Erklärung dieser Welt - trotzdem mentale Prozesse haben können. Sie umfaßt mehr Phänomene dieser Welt, ohne etwas einfach als illusionär abzustempeln. Es ist kaum denkbar, dass auf eine Welt, die uns andeutungsweise als kompliziert erscheint, die einfachste aller Theorien zutreffen kann. Die Identitätstheorie erfüllt genau das Maß an Erklärungsbedarf, was wir aufgrund der empirischen Fakten und unserer Selbstwahrnehmung haben.

6. Multirealisierbarkeit mentaler Prozesse

Ein gewichtiges Argument gegen die Typen-Identitätstheorie scheint zu sein, dass empirisch nachgewiesen wurde, dass der Ausfall bestimmter Gehirnberei- che durch andere Bereiche im Gehirn kompensiert werden kann. So schreibt Beckermann:

Wir wissen weiter, daß sich sogar bei ein und derselben Person die Korre- lation zwischen mentalen und Gehirnzuständen im Laufe ihres Lebens dramatisch verändern kann. Nach Gehirnverletzungen z.B. können andere Teile des Gehirns die Funktionen des geschädigten Gewebes übernehmen. (137)

Diese Behauptung wird immer wieder in Vorlesungen, in Diskussionen und in philosophischen Texten aufgestellt, so dass man sich schon über die Bereitschaft der philosophischen Szene wundern muß, bestimmte Destillate naturwissenschaftlicher Forschung unhinterfragt einfach zu übernehmen, so dass dieses Argument schon zu einem Standardeinwand geworden ist.

Diese Kompensationen sind jedoch Ausnahmen. Wenn man nachweisen könn- te, dass ein mentaler Prozess mal mit diesem, mal mit jenem Gehirnprozess verbunden ist, dann würde die Zuordnung von Gehirnprozess und mentalem Prozess zufällig sein. In solchen Fällen der Kompensation gibt es eine Ursache dafür, dass der mentale Prozess mit einem anderen als dem üblich korrelierten

Gehirnprozess verknüpft ist, was gegen eine zufällige Zuordnung spricht. Bei einer zufälligen Zuordnung könnte man keine Ursache dafür nennen, warum im einen Fall der mentale Prozess mit Gehirnprozess G 1 und im anderen Fall mit Gehirnprozess G 2 verknüpft ist.

Mir erscheint es so, als ob dem Gedanken, dass der Gehirnprozess G 1 die „Aufgabe“ eines anderen Gehirnprozesses G 2 „übernimmt“, bereits impliziert, dass eigentlich G 2 mit dem mentalen Prozess M verbunden ist. Die Kompensa- tion gleicht eine Unregelmäßigkeit auf. Der Begriff der Kompensation impli- ziert, dass sie in einem regelmäßigen System auftritt, in dem es plötzlich zu einem Ausfall kommt. In einem chaotischen oder zufälligen System kann es per Definition keine Kompensationen geben, weil es keine regelmäßigen Ver- knüpfungen gibt.

Man müßte also die Typen-Identitätstheorie erweitern. In der Regel ist eine bestimmte Art von Gehirnprozessen mit einer bestimmten Art von mentalen Prozessen identisch. In manchen Ausnahmefällen, in denen diese Art von Ge- hirnprozessen aufgrund von Schädigungen in bestimmten Gehirnarealen nicht stattfinden kann, sind mentale Prozesse jedoch mit anderen Gehirnprozessen identisch. Die Identitätstheorie bezieht sich also auf Identitäten unter normalen Bedingungen.

Durch das Kompensationsargument wird eine Ausnahme übertrieben deutlich hervorgehoben. Es gibt aber nicht nur einige wenige Gehirnprozesse, welche die Aufgabe anderer Gehirnprozesse übernehmen können, sondern sehr viel häufiger treten Fälle von Gehirnschädigungen auf, die eben nicht kompensiert werden können und die zu geistigen Beeinträchtigungen führen. Man spricht hier von „neuropsychologischen Syndromen“. Dazu zählen solche Beeinträchtigungen wie Aphasien, also Sprachstörungen oder Apraxien, also Störungen in der Anordnung von Bewegungen zu Handlungsfolgen.

Daran ändert auch nichts, dass die Gehirnprozesse, die mit einem bestimmten mentalen Vorgang korreliert sind, sich nur ähneln und sich nicht gleichen, wie es Beckermann behauptet:

Wenn man verschiedenen Personen eine bestimmte Aufgabe vorlegt und zugleich z.B. mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie beobachtet, welche Bereiche der Gehirne dieser Personen bei der Lösung dieser Aufgabe besonders aktiv sind, dann ergeben sich in der Regel zwar sehr ähnliche, aber kaum je dieselben Muster. (137)

Wir sollten allerdings den Artbegriff nicht überstrapazieren. Die Ereignisse, die zu einer Art von Ereignissen gehören, brauchen nicht identisch zu sein. Zum Beispiel gehören zu der Art der Verkehrsunfälle nicht nur die Motorradunfälle, sondern auch die Autounfälle. Ein Artbegriff subsumiert eine Reihe von Din- gen, die zur gleichen ontologischen Kategorie gehören, die in vielen Eigen- schaften identisch sind, aber nicht in allen. Wenige dieser Eigenschaften sind notwendig. Daher ist ein Spielraum bei den Gehirnprozessen, die mit einem konkreten mentalen Prozess identisch sind, gegeben. Wahrscheinlich hat eine Variationsbreite bei den Gehirnprozessen, die zu einem Typ gehören, auch ihre Entsprechung bei dem damit identischen Typ von mentalen Prozessen. Aber das alles läßt der Art- oder Typbegriff durchaus zu.

Beckermann behauptet, dass sich bei der Untersuchung von Gehirnmustern „statistisch signifikante Unterschiede z.B. zwischen Männern und Frauen feststellen lassen“ (137).

Das Argument der Multirealisierbarkeit ist bloß eine Behauptung. Wer sagt denn, das nicht zwei vermeintlich identische mentale Vorgänge, die mit zwei unterschiedlichen Gehirnprozessen korreliert sind, in Wirklichkeit nicht doch unterschiedlich sind? Das ist zum Teil gar nicht mehr verhandelbar, weil jeder innere Prozess etwas an sich hat, was nicht objektivierbar ist, und das ist die qualia, also die Art und Weise, wie es sich anfühlt. Woher weiß ich, dass die beiden unterschiedlich realisierten mentalen Zustände, die als identisch einge- stuft werden, nicht doch auf der Gefühlsebene unterschiedlich sind?

Nehmen wir an, dass man einen Teil der introspektiven Daten vergleichen kann. Die amerikanische Neurologin Doreen Kimura berichtet in ihrem Auf- satz „Weibliches und männliches Gehirn“, dass Frauen in Tests bestimmte Probleme besser lösen, als die männlichen Testpersonen. Bei anderen Proble- men erzielten jedoch die Männer die besseren Ergebnisse. Manche Aufgaben wurden von Männern und Frauen auf unterschiedliche Weise gelöst. Zum Bei- spiel haben Männer und Frauen eine unterschiedliche Art, sich räumlich zu orientieren (78, 80). Frauen brauchen länger, um sich einen Weg einzuprägen und merken ihn sich anhand markanter Stellen. Männer hingegen „verlassen sich vermutlich bevorzugt auf räumliche Hinweisreize wie Entfernungen und Richtungen“, so Kimura (78).

Kimura führt den Unterschied der kognitiven Fähigkeiten bei Mann und Frau auf Unterschiede im Gehirn zurück. Bei Mann und Frau wirken sich die unter- schiedlichen Sexualhormone, die schon während der Embryonalentwicklung des Menschen aktiv sind, auch verschieden auf die Entwicklung des Gehirns aus.

Man kann also nicht sagen, dass bei Frauen der mentale Prozess M 1 mit Gehirnprozess G 1 identisch ist, beim Mann aber der gleiche mentale Prozess mit dem Gehirnprozess G 2, sondern dass die Unterschiedlichkeit der Gehirnprozesse auch ihre Entsprechung auf der mentalen Ebene hat.

7. Ein Wort zum Funktionalismus

Der Funktionalismus wird als Alternative zur Identitätstheorie aufgefaßt, weil „diese Position die Vorzüge des Semantischen Physikalismus und der Identi- tätstheorie bewahrt, ihre Nachteile jedoch vermeidet“ (Beckermann, 141). I- dentisch sei ein mentaler Prozess dann mit einem physiologischen Vorgang, wenn er dieselbe kausale Rolle wie jener einnehme. Ein Beispiel ist der Schmerz. Das psychologische Phänomen Schmerz S folgt auf einen externen Reiz, zum Beispiel einer Verletzung und läßt Schmerzverhalten, wie das Schneiden einer Grimasse oder Schreien folgen. Ebenso folgt auf denselben

Reiz ein neurophysiologischer Prozess N, der demselben Schmerzverhalten vorausgeht. Insofern sind S und N identisch. Damit entgegnet der Funktiona- lismus dem Einwand der Multirealisierbarkeit der mentalen Zustände, weil es nun möglich ist, dass eine Sorte von mentalen Vorgängen durch verschiedene Sorten von physiologischen Vorgängen realisiert werden kann. Als Beispiel wird genannt, dass z.B. ein Hammer durch seine Funktion definiert ist, nicht aber durch seine materielle Beschaffenheit. In dem Sinne ist ein Hammer im nicht-trivialen Sinne zum hämmern da und entsprechend nicht als ein Stück Holz, auf den ein Stück Metall gesteckt wurde, definiert. Das läge daran, dass man aus ganz unterschiedlichen Materialien Hammer herstellen könne. Es sind auch Varianten in der Form vorstellbar.

Die materielle Beschaffenheit eines Gegenstands ist aber nicht unerheblich für seine Funktionsbreite und Funktionstüchtigkeit, weil z.B. ein Hammer nicht aus Watte bestehen kann. Das Material, aus dem ein Hammer besteht, muß stabil sein. Ein anderes Beispiel sind Bohrer, die je nach dem Einsatzgebiet unterschiedlich gehärtet sind. So ist zum Beispiel ein Holzbohrer nicht so hart wie ein Steinbohrer.

Es ist nun die Frage, inwieweit die Beschaffenheit eines physiologischen Vor- gangs sich in dem damit korrelierten Gehirnprozess widerspiegelt. Diese Frage muß offenbleiben und müßte von der Forschung eingehender untersucht wer- den. Es scheint unvorstellbar zu sein, dass es beliebig ist, welcher Gehirnpro- zess der Träger eines mentalen Ereignisses ist. Es wird sich evolutionär als günstig erwiesen haben, dass ausgerechnet sich unser psychisches Innenleben in der grauen Gehirnmasse und nicht in einem Stück Holz abspielt. Daher ist der Funktionalismus keine gute Alternative zur Identitätstheorie.

8. Auslassungen und Schluß

Sicherlich gibt es noch weitere Einwände gegen die Identitätstheorie, zum Bei- spiel von Jerome Shaffer über mentale Eigenschaften, die sich seiner Meinung nach nicht auf Gehirnprozesse reduzieren lassen könnten. Ein weiterer Ein- wand stammt von Saul A. Kripke, der behauptet, dass Gehirnprozesse mit men- talen Prozessen nicht kontingent identisch sein können. Ich habe diese Einwände aus Platzgründen hier nicht weiter erörtert und mich daher auf die Widerlegung des Arguments der Multirealisierbarkeit mentaler Prozesse konzentriert. Dieser Einwand wird in der Fachliteratur als das entscheidende Argument gegen die Identitätstheorie eingeschätzt.

Abschließend soll die These aufgestellt werden, dass die Identitätstheorie insgeheim jene Position zum Leib-Seele-Problem ist, die von den meisten Naturwissenschaftlern vertreten wird, weil sie durch viele empirische Erkenntnisse, die einen direkten Zusammenhang zwischen mentalen Ereignissen und Gehirnprozessen aufzeigen, nahegelegt wird. Sie ist, wie Beckermann formuliert, „eine besonders elegante Lösung für das Problem der mentalen Verursachung “ (115, Hervorhebung durch Beckermann).

9. Literaturliste

Beckermann, Ansgar. Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. Berlin/New York: de Gruyter, 1999.

Borst, C. V., ed. The Mind-Brain-Identity Theory. London: Macmillan and Co. Ltd., 1970.

Kim, Jaegwon. Philosophie des Geistes. Wien/New York: Springer Verlag, 1998. S. 53-80.

Kimura, Doreen. „Weibliches und männliches Gehirn“. Gehirn und Bewußt sein. Heidelberg/Berlin/Oxford: Spektrum, Akademie Verlag, 1994.

Kripke, Saul A. Name und Notwendigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1993.

Tugendhat, Ernst und Ursula Wolf. Logisch-Semantische Propädeutik. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1986.

[...]


1 Feigl, Herbert. „The `Mental´ and the `Physical´“. Minnesota Studies in the Philosophy of Science. Band 2. Hg. Herbert Feigl, Michael Scriven und Grover Maxwell. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1958.

2 Smart, J. J. C. „Sensations and Brain Processes“. Philosophical Review, 68, 1959: 141-156.

3 Zeki, Semir. „Das geistige Abbild der Welt“. Gehirn und Bewußtsein. Heidelberg/Berlin/ Oxford: Spektrum, Akademie Verlag, 1994.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Die Identitätstheorie kann zutreffen
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Proseminar
Note
gut
Autor
Jahr
1999
Seiten
14
Katalognummer
V100591
ISBN (eBook)
9783638990165
Dateigröße
355 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Gut gelungene Arbeit zum Leib-Seele-Problem. Der Privatdozent hat einige Ungenauigkeiten beanstandet, meinte aber, daß die Arbeit sonst sehr gelungen sei.
Schlagworte
Identitätstheorie, Proseminar
Arbeit zitieren
Markus Hieber (Autor:in), 1999, Die Identitätstheorie kann zutreffen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100591

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