Vertrauen und entstehende Demokratie - Lehren aus Polen


Skript, 2001

7 Seiten


Leseprobe


Vertrauen und entstehende Demokratie - Lehren aus Polen (von Piotr Sztompka)

(Übersetzte Zusammenfassung des Orginaltexts: Trust and Emerging Democracy - Lessons from Poland)

Text für die Vorlesung: ,,Social and Cultural Trauma - The experience of post-communist change" im Studiengang Europäische Studien (www.ces.uj.edu.pl) an der Jagiellonen Universität WS 2000 von P. Sztompka.

In diesem Text wird aufgezeigt wie wichtig Vertrauen für das entstehen einer Zivilgesellschaft und einer funktionierenden Demokratie ist. Im ersten Teil wird die Theorie des Vertrauens eingeführt und mit Beispiele aus Polen erklärt. Im zweiten Teil wird das Syndrom des Mißtrauens beschrieben, seine Ursachen erklärt und Wege aus dem Mißtrauen angegeben.

Soziales Werden und Vertrauen

Die Theorie des Vertrauens baut auf die ,,Theorie des sozialen Werdens" (auch von Piotr Sztompka) auf. In dieser Theorie wird eine Gesellschaft nicht als ein statisches Gebilde verstanden, sondern als ein kontinuierlicher Prozeß der Veränderung von innen heraus. Diese Veränderung wird durch die Aktivitäten von menschlichen Agenten (agent) durchgeführt. Diese Agenten verändern sowohl die Struktur in der sie sich befinden als auch ihre Begabungen zur Veränderung. Das Potential der Agenten zur Veränderung wird Agentur (agency) genannt.

Die Stärke der Agentur hängt von greifbaren, harten Faktoren wie (Kapital, Reichtum, Rohstoffe) als auch von nicht greifbaren, weichen Faktoren wie (Identität, gesellschaftlicher Konsens, Stärke der Zivilgesellschaft oder Vertrauen) ab.

_ Deswegen ist Vertrauen eine wichtige Ressource sich selbst zu verändern und sich Veränderungen anzupassen.

Vertrauen ist eine wichtige Ressource um mit der Zukunft umzugehen, denn Vertrauen gibt uns die Möglichkeit Dinge in der Zukunft als sicher und gegeben anzusehen. Wir sind abhängig von Entscheidungen anderen Menschen, je komplexer das Umfeld ist in dem wir uns bewegen um so mehr Abhängigkeiten mit von anderen Menschen ergeben sich.

Konzept des Vertrauens

,,Vertrauen als eine Wette in Aktivitäten Anderer von denen wir abhängig sind"

- Vertrauen bezieht sich auf menschliche Aktivitäten und nicht natürliche Ereignisse. (Ich habe Vertrauen das mein Freund mich nicht belügt, aber ich habe die Hoffnung daß es kein schweres Hochwasser gibt.)
- Vertauen bezieht sich auf ungewisse Ereignisse.
- Vertauen bezieht sich auf Aktivitäten von anderen Menschen von denen wir abhängig sind. · Vertrauen ist eine Wette: Ich unternehme eine Aktivität für eine andere Person und erhoffe mir einen Vorteil davon. (Ich vertraue Politiker S. weil er die Steuern senken wird) · Vertrauen beinhaltet Erwartungen in das Verhalten von Anderen und deren Fähigkeiten - diese müssen vertrauenswürdig sein.

Objekte des Vertrauens

1. allgemeines Vertrauen: Vertrauen daß sich das soziale und materielle Umfeld sich nicht verändert
2. institutionelles Vertrauen: Vertrauen in das politische oder Wirtschaftssystem
3. technologisches Vertrauen: Wir vertrauen technischen Systemen wie unserem Auto, Computer, dem Internet auch wenn wir es als Benutzer nicht vollkommen verstehen
4. Vertauen in Organisationen: Vertrauen in meinen Verein, meine Universität, in GRIN
5. wirtschaftliches Vertrauen: Vertrauen in Produkte und Marken
6. Vertrauen in Funktionen: Vertrauen in Funktionen oder Positionen wie Richter, Busfahrer
7. persönliches Vertrauen: Vertrauen in Individuen

Alle Objekte des Vertrauens hängen direkt oder indirekt von menschlichen Aktivitäten ab. Eine Gesellschaft die in einer Kultur des Vertrauens lebt, zwingt ihre Agenten vertrauenswürdig zu handeln und sanktioniert ,,mißtrauenswürdige" Aktivitäten. Das heißt daß das Vertrauen ist selbsttragend und selbstverstärkend. Hingegen eine Gesellschaft die in einer Kultur des Mißtrauens lebt bewegt sich in einem Teufelskreis des sich selbst verstärkenden Mißtrauens.

(Beispiel: Im Polen der späten 70er war ein starker moralischer Verfall in der Gesellschaft zu erkennen, die Lebensbedingungen wurden schlechter, die Politiker korrupter, Vandalismus nahm zu. Das Mißtrauen umfaßte alle sozialen Akteure, sogar der intellektuellen Opposition oder der Kirche wurde mißtraut. Deswegen war jeder auf sich alleine gestellt. Als hingegen in 1979 der Papst zu Besuch kam und sich bis zu 3 Millionen Menschen sich auf Messen einfanden, wurde Vertrauen zu den Mitmenschen wieder aufgebaut, die Menschen erkannten daß sie mit ihren Problemen, ihrem Glauben und ihrer Ablehnung der Regierung nicht alleine waren. Dies ist eine der Erklärungen wie sich in 1981 ca. 10 Millionen Menschen (von 36 Millionen Polen) der Solidarität angeschlossen haben und das System zum Wanken brachten.)

Gründe für Vertrauen

guter Ruf wenn Verläßlichkeit einer Person, Gruppe,... über längere Zeit erfahren wurde. Diese Vertrauen wird aber auch Menschen der gleichen Gruppe, Position, Nationalität entgegen gebracht.

Verantwortlichkeit wenn Vertrauenswürdigkeit in eine Person von einer Organisation oder Aufsichtsbehörde abgeleitet wird. (Ich vertraue einem Vertreter von Greenpeace auch wenn ich ihn nicht kenne)

Funktion von Vertrauen

Vertrauen in andere setzen, bedeutet daß man die Aktivitäten anderer nicht überwachen muß. Dies hat zur Folge, daß man zu einer höheren Dicht von sozialen Aktivitäten in der Lage ist. Auf sozialer Ebene bedeutet dies daß sich allgemein ein höheres Niveau von Aktivitäten, gesellschaftlicher Mobilisierung und individueller Freiheit ergibt.

Für die Person oder das Objekt in das Vertrauen gesetzt wurde bedeutet daß es mehr Freiheit in seinen Aktivitäten hat. (Eine sehr populäre Regierung, der vertraut wird, kann leichter unangenehme Reformen durchführen)

Jemanden das Vertrauen entziehen hat deswegen negative Folgen sowohl für den der Vertrauen gibt als auch für den in den Vertrauen gesetzt wird. Vertrauensbruch führt entweder zu Apathie (nicht wählen, keine politische Aktivität) oder gar Feindseligkeit (der Führer der Solidarität Lech Walesa wurde nach seiner Präsidentschaft zum drittunbeliebtesten Polen)

Funktioneller Ersatz für Vertrauen

Oben wurde beschrieben wie essentiell Vertrauen für die menschliche Gesellschaft ist. Wenn Mißtrauen herrscht suchen die Menschen nach Ersatz dafür.

Glaube anÜbersinnliches Man vertraut einer höheren Macht die alles richtet, z. B. religiösen Sekten, Glücksspiel, UFOs

Korruption wenn ich einer Institution nicht vertrauen kann, dann kaufe ich mir deren Zuverlässigkeit, Beziehungen werden zum wichtigsten Faktor

Eigeninitiative Dinge selbst in die Hand nehmen, wie Selbstjustiz oder Wachdienst anstatt Polizei

Ghettoisierung Einschränkung der sozialen Kontakte auf die Familie, die gleiche soziale oder ethnische Gruppe

Ruf nach starker Hand Ruf nach einem der aufräumt, nach einem Herrscher mit ,,eiserner Faust"

Externalisierung Idealisieren von ausländischen Institutionen oder Länder, z. B. in den USA ist es besser, die UN soll Probleme lösen

Das Syndrom des Mißtrauens in einer postkommunistischen Gesellschaft: Der Fall Polen

(Anm. des Übersetzers) viele dieser Faktoren sind meines Erachtens auch in den Neuen Bundesländern zu finden)

Polen leidet unter dem Syndrom des Mißtrauens (die statistischen Daten beziehen sich auf den Zeitraum von 1995-96, somit ist schon einiges davon veraltet)

Indirekte Indikatoren

- Der Wunsch auszuwandern wegen geringem internen Vertrauen und hohem Vertrauen in andere Länder (29% der Bürger erwägen auszuwandern)
- Innere Emigration: Menschen ziehen sich in ihr Privatleben zurück, Nichtwähler · Hohe Anzahl von öffentlichen Protesten: häufige Streiks, Straßenblockaden, Demonstrationen
- Kurzfristiges Denken: Mißtrauen in die Zukunft, geringe Sparrate, geringe Investitionen, Wunsch nach schnellem Geld (Pyramidenspiele)
- Glaube daß ausländische Produkte besser sind als polnische (in Spitzenlokalen gibt es kein einheimisches Bier)
- hohe Anzahl von Spielbuden, Verbreitung von Toto Lotek in Polen
- Private Einrichtungen sind besser als staatliche (,,Ausländische Sprachlehrer sind besser als Universitätskurse")
- Eigeninitiative: Hohe Anzahl von Wachdiensten, bewachte und abgeschlossene Wohnanlagen

Direkte Indikatoren von Umfragen:

- 59% erklären Unzufriedenheit mit den politischen und wirtschaftlichen Reformen
- 55% sind unzufrieden mit den Institutionen
- 93% haben Angst vor der ansteigenden Kriminalität · 87% spüren die soziale Ungleichheit
- 62% sagen daß sie im Vergleich zu früher weniger gegenseitige Sympathie verspüren und weniger Hilfsbereitschaft zwischen den Menschen wahrnehmen
- 50% der Bevölkerung denkt daß es im Sozialismus besser war
- 20% glauben daß es in der Zukunft besser wird, 32% daß es schlechter wird, 36% daß es unverändert bleibt

Warum so viel Mißtrauen?

Im Fall von Polen muß man geschichtlich drei Ebenen unterscheiden.

1. In der Zeit vor dem Kommunismus existierte Polen nur sehr kurz als Nationalstaat, das bedeutet das die Obrigkeit immer als Besatzer empfunden wurde, in der Zwischenkriegszeit konnte Polen keine stabile Demokratie aufbauen. Das heißt daß kaum ein gesellschaftliches Bewußtsein für reell funktionierende Demokratie existiert.
2. In der Zeit des Kommunismus wurden die Menschen entmündigt und alle Entscheidungen wurden vom System getroffen. Dieses System wurde von den Massen abgelehnt. Dazu kommt noch daß kein Vertrauen in das System oder die Zukunft aufgebaut werden konnte, da Polen immer wieder von tiefen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen gezeichnet wurde. (1956, 1968, 1970, 1976, 1980/81)
3. Der von allen erwünschte Wandel zur Demokratie, zur freien Marktwirtschaft und zu Menschenrechten war von vielen Schwierigkeiten begleitet, die die Gesellschaft erschütterten. Von 1976 bis 1995 war Polen von einem permanenten wirtschaftlichen Stagnation oder gar Niedergang gezeichnet.

Diese Faktoren zusammen erzeugen ein Risikoumfeld in dem die Menschen ein hohes Maß an Unsicherheit erleben:

- Arbeitslosigkeit und die Angst arbeitslos zu werden
- Inflation und finanzielle Instabilität (wechselnde Steuerpolitik _ Steuerhinterziehung, institutionelle Unsicherheit (Bankenkrise in 1992, Börsenkrise in 1993), Abwertung des Zloty
- Freier Wettbewerb (schlechte Qualität, ungerechtfertigte Preise für Wohnungen, ...)
- steigende Verbrechensrate, organisiertes Verbrechen, Korruption
- Desorganisation: rechtliche Unsicherheit (selbst Politiker mißachten den Rechtsstaat, wechselnde Rechtsprechung, schlecht funktionierendes Gerichtswesen)
- Politische Desorientierung, Fragmentierung der Parteienlandschaft, Fehden zwischen Politikern kennzeichnen den politischen Diskurs und nicht Realpolitik, Fraktionismus
- Ineffizienz: Polizei, Gerichte und Zöllner arbeiten ineffizient und sind korrupt (sie werden auch extrem schlecht bezahlt)
- Rolle der politischen Eliten: Fehden, sachliche Inkompetenz, sehr hohe Diäten im Vergleich zur Bevölkerung, unfähig mit den Medien zu arbeiten
- Hohe Erwartungen an den Transformationsprozeß: die Leute sind sehr stark von den Politikern mit Dissidentenhintergrund enttäuscht als von den gewandelten Kommunisten, da sie hohe moralische Erwartungen in die ersten hatten
- Verständnis der Rolle des Staates: paternalistisches Verständnis von der Rolle des Staates als Erbe des realexistierenden Sozialismus (Staat ist Verantwortlich für die Beschaffung von Arbeitsplätzen, für Wohnungen, Gesundheitsfürsorge, Bildung)

Was soll unternommen werden um Vertrauen wieder herzustellen

Wiederherstellung des strukturellen Umfeldes

Vertrauen mußvon oben her wieder aufgebaut werden und fällt somit in die Rolle des Staates

1. Berechenbarkeit erhöhen: klare politische Ziele, Pläne und Spielregeln müssen aufgebaut und eingehalten werde, damit die Zukunft berechenbarer wird. Also eine konsequente und kohärente Politik ist notwendig und politische oder wirtschaftliche Experimente beendet werden
2. Stärken der Verläßlichkeit: der Respekt vor dem Rechtsstaat muß gestärkt werden, das Rechtswesen und die Exekutive müssen effizienter werden
3. Stärkung und Garantie der persönlichen Rechte: Garantie des Privateigentum, Sicherheit der Ersparnisse, stabile Währungspolitik
4. Mehr Transparenz im Entscheidungsprozeß: Darstellung der politischen Prozesse in unabhängigen Medien, Durchführung von Umfragen
5. Fördern des Pluralismus: Dezentralisierung, Garantie der lokalen Selbstverwaltung, Stärkung des Vereinswesens und der Zivilgesellschaft
6. Integrität des staatlichen Personal fördern: Professionalität bei Vertretern des Staates erhöhen (Minister, Verwaltungsbeamte, auch der Polizei, ...))

Die Westintegration als Hilfe auf vielen Ebenen

Die Sicherheit erhöht sich bei der Zusammenarbeit und Mitgliedschaft bei westlichen Organisationen. Die notwendige Anpassung von technischen, rechtlichen und auch Menschenrechtsstandards erhöhen die Berechenbarkeit der Politik. Dies betrifft die angestrebte Mitgliedschaft in der EU, die Mitgliedschaft im Europarat aber auch der OECD

Kritik an diesem Papier

Diese Theorie macht einen recht ausgefeilten Eindruck und kann zur Beschreibung aber auch Erklärung von vielen Prozessen in den Transformationstaaten herangezogen werden. Auch für die westlichen Industriestaaten bietet die Theorie des Vertrauens einen guten Ansatzpunkt

Jedoch in den Beispielen und den Ansatzpunkten für die Wiederherstellung von Vertrauens ergeben sich einige Kritikpunkte:

- Glaube wird als Ersatzfunktion für Vertrauen gesehen, aber gerade in Polen ist der Glaube und die Kirche ein wichtiger Faktor für Schaffung von Vertrauen in der Gesellschaft und zu dem Mitmenschen. (Diese Funktion wird im Westen eher von der Zivilgesellschaft ausgefüllt) · Die Beispiele gehen von einem zu idealisierten und zu vereinfachten Bild vom Westen aus z.

B. sinkende Wahlbeteiligung in Polen ist Zeichen von Mißtrauen, aber in den USA von hohem Vertrauen in das System. Die Anzahl von Streiks in Polen ist genauso hoch wie in westlichen Ländern

- Indikatoren von steigendem Vertrauen seit Ende des Kommunismus werden nicht beachtet:

z. B. der Konsum an Alkohol ging im Vergleich zu kommunistischen Zeiten zurück, das ist ein Zeichen von geringerem Mißbrauch

Die Beschreibung der postkommunistischen Gesellschaft wird nur von Polen abgeleitet.

Andere Vergleichbare Staaten in Mitteleuropa zeigen völlig verschiedene Symptome. Ungarn hat sehr hohe Raten von Selbstmord, Tschechien und in der ehemaligen DDR gibt es eine hohe Anzahl von Übergriffen gegenüber Ausländern

Ende der Leseprobe aus 7 Seiten

Details

Titel
Vertrauen und entstehende Demokratie - Lehren aus Polen
Autor
Jahr
2001
Seiten
7
Katalognummer
V100330
ISBN (eBook)
9783638987585
Dateigröße
416 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vertrauen, Demokratie, Lehren, Polen
Arbeit zitieren
Robert, Pernetta (Autor:in), 2001, Vertrauen und entstehende Demokratie - Lehren aus Polen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100330

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